FRüHLINGSANFANG

I.

Ihm stand ein Lächeln im Gesicht. Irgendetwas hatte sich heute Nacht verändert. Er sah sein Lächeln noch bevor er sich den Spiegel vors Gesicht zog. Es durchdrang ihn, das sichere Gefühl, das man jedes Jahr nur einmal hat: Es wird Frühling!

Die Luft wirkt klar. Man kann plötzlich atmen. An solchen seltenen Frühlingsbeginnen will er immer äußerst sauber sein. Er badete ausgiebig und ließ die aggressive Rasiercreme ein paar Minuten länger einwirken, bevor er sie abwäscht. Heute ist er sich zu fein für die lange Schlange an der Essensausgabe. Eine frühere Freundin hatte für den Ernährungskonzern gearbeitet. Sie war vor einigen Monaten einfach verschwunden. Seitdem hat er den gemeinsamen Stasisschrank nicht mehr angerührt.

Heute aber sei der richtige Tag etwas von der gestohlenen Nahrung aus dem Schrank zu holen -dachte er sich- und üffnete dessen Tür.

Er nahm sich 500ml Wasser und zwei Koffein-Nuggets, einen halben Roggenfladen und den großen Sirupspender. Es wurde ein wahrhaft großartiges Frühstück.

Er wies der Luftreinigung heute morgen übermäßig viel Energie zu, um das wunderbar reine Sonnenlicht, was durch sein Fenster brannte, besser genießen zu können.

Sorgfältig verschloß er die Tür. Seine Wahrnehmung war außergewöhnlich sensibel. Er hatte sogar das Bedürfnis tief Luft zu holen. Die Taschen seines grauen Sommermantels waren ziemlich vollgestopft. Er fror; aber obwohl seine Haut schon Weiß vor Kälte wurde, machte ihm das nichts aus. Das Ende des Winters war gewiß. Das sagten ihm alle seine Sinne. Er konnte sich die Spannung gut vorstellen, die die jungen, forschen Knospen unter der Haut der Bäume verursachten. Seine kalte Haut fühlte sich genauso gespannt an.

Der Weg zum TowerTM führte ihn -wie jeden morgen- zu der schlecht ausgeleuchteten TuBe-Station. Der derbe Geruch von Leichen, den das Shuttle vor sich hertrieb, schien er gar nicht wahrzunehmen. Erst als er schon am Fenster lehnte, schreckte er auf. Er fragte sich, wieso er den würgend süßen Geruch nicht bemerkt hatte, und was er bis dahin auf dem Weg zur Station getan hatte.

Das Shuttle bremste zügig ab. Er verließ die Station und stand vor dem Süd/Ost-Eingang des TowerTM. Zum erstenmal bemerkte er, wie groß und imposant dieses Gebäude war. Es war das drittgrößte in Europa. Die aufgehende Sonne schien ihn durch den fünf Kilometer Stahlriesen zuzublinzeln. Zwangsläufig mußte er auch blinzeln und es dauerte eine Weile bis er sich von diesem Anblick losreißen konnte.

Schließlich ließ er sich doch von den Türen des Süd/Ost-Eingangs verschlucken.

II.

Nervös nestelte er an seinem Transporterkey als er die Plattform betrat. Die Tür knallte zu und er war ausnahmsweise mal allein in der Kapsel. Einen Moment lang hatte er noch Zweifel wegen seines absurden Vorhabens. Er wollte wie gewohnt Zwanzig sagen.

Er schloß die Augen und sagte mit fester Stimme Zweihundertvierzig und legte den Key auf den Leser. Die Beschleunigung war stärker, als er gewohnt war, und die Belastung ließ seinen Körper erzittern. Er würde heute alles anders machen, soviel war klar.

Er starrte auf die unaufhörlich steigende Kilometeranzeige. Sie hatte 3/4 überschritten. Er verbrauchte soeben den Transporterkredit des gesamten laufenden Monats. Den Rest des Monats würde er die fünfzig Meter zu seinem Büro im zehnten Stock Treppen laufen müssen. Aber er wollte nicht mehr ins Büro. Die Kilometeranzeige hatte eins überschritten und seine Kapsel wurde abgebremst. Sein Key war leer. Als die Tür aufging strahlte ihm wieder die Sonne ins Gesicht.

Sie war grell und er mußte seine Augen mit der Hand schützen. Er merkte nur wenig von dem emsigen Treiben der vielen Menschen um sich. Er bahnte sich zielstrebig einen Weg durch die Masse und ging auf das große Fenster zu.

Er erschrak ein wenig vor der Höhe und zögerte, ehe er sich mit ausgebreiteten Armen gegen das leicht schräge Fenster lehnte. Die Sonne brannte und einige Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn. Sie verwischten sich mit dem Glas. Als er zurücktrat, um seinen langen Weg nach oben anzutreten, konnte er noch sehen, wie sein Gesichtsabdruck auf der Scheibe schillert.

Die Treppen mußten irgendwo im Nordflügel sein. Sie wurden niemals benutzt. Jeder hatte schließlich eine ausreichende Menge Transporterkredit, um jeden Tag zu seinem Büro und wieder zurück zu gelangen. Es waren nur spärlich beleuchtete Nottreppen. Als er die Tür zum Treppenhaus öffnete, erschauderte er vor den über dreieinhalb Kilometern, die ihn noch von seinem Ziel, dem Dach, trennten. Schon die ersten zwanzig Stockwerke, machten ihm derart zu schaffen, daß er nicht mehr an sein Ziel glauben mochte. Die Luft war sehr abgestanden, es gab keine Klimaanlage. Es war sehr dunkel, so daß er immer nur knapp zwei Stockwerke über sich ausmachen konnte.

Er begann etwas Sakrales zu summen und schien nach weiteren fünfzig Stockwerken einen gefährlichen Rhythmus gefunden zu haben. Jeder der Töne der langsamen Weise war eine Stufe und sein Kopf begann nur noch aus dieser Melodie zu bestehen. Er konnte nicht mehr aufhüren. Denn er war sich sicher, wenn er einmal seinen Rhythmus verlor, würde er ihn nie wieder aufnehmen können und sein Traum wäre wertlos geworden. So kämpfte er sich weiter durch die Dunkelheit, die sich allmählich auch um die Wirkliche Welt zu legen begann. Es wurde Abend.

III.

Er merkte, daß er aufwachte, und hatte das dumme Gefühl, daß im seine Phantasie einen Streich gespielt hatte. Er beschloß, die Augen vorerst noch geschlossen zu halten, um seine Gedanken zu ordnen.

Hätte er, alles nur geträumt, würde er nicht so hart liegen und es wäre auch nicht so erbärmlich kalt. Er mußte sich tatsächlich auf dem Dach des TowerTM angekommen sein. Oder zumindest mußte er in dem Treppenhaus zusammengebrochen sein. Aber es schien darauf hinzudeuten, daß er sein unheiliges Vorhaben tatsächlich zumindest begonnen hatte. Und als es schließlich tief Luft holte, hatte er auch die Gewißheit, es bis aufs Dach geschafft zu haben. Es war so klirrend klare Morgenluft, wie er sie schon lange nicht mehr geatmet hatte. Jetzt konnte er sich nicht mehr halten, und er schlug die Augen auf.

Das Dach war zwar kleiner, als er es sich vorgestellt hatte. Dennoch war es imposant anzusehen mit den umherschleichenden Nebelschwaden, die das Rot der aufgehenden Sonne aufzusaugen versuchten. Es war sehr kalt und er hatte nicht das geringste Bedürfnis sich zu bewegen, weil er fürchtete, daß das bißchen Restwärme, das ihn noch am Leben erhielt, entweichen würde. Er verharrte in seiner embryonalen Stellung und beobachtete wie sich die Farbe und ein wenig sogar die Größe der Sonne veränderte.

Sein Kopf war leer und das ärgerte ihn. Er wollte wieder an sein Vorhaben denken. Er zwang sich dazu aufzustehen. Seine verkürzten Sehnen quälten sich in ihre Positionen zurück. Seine Augen brannten. Der Ausblick war unwirklich schön. Die dampfende Stadt unter ihm der verschwommene Horizont vor ihm und der stahlblaue Himmel über ihm. Alles schien zu wirklich zu sein. Die Eindrücke hatten zu viel Kraft, so daß er seine unausgeruhten Augen bald abwenden mußte.

So blinzelnd geht er auf den Rand des Daches zu. Seine Erfurcht vor der gewaltigen Höhe des TowerTM veranlaßte ihn anzuhalten, bevor den Rand gänzlich erreicht hatte. Er legte sich auf den Bauch und zog sich mit den Händen voran, bis er in die Tiefe blicken konnte. Trotz seines Wissen um die Gewichtsverteilung des menschlichen Körpers, fragte er sich, ob sein Kopf nicht vielleicht den Rest mit in die Tiefe zu stürzen vermochte. Der Gedanke bereitete ihm Unbehagen, es wäre schrecklich so nah der Mauer zu fallen. Eine Windböe, und...! Er versuchte das ungute Gefühl einen Körper zu haben zu vertreiben. Er dehnte seine Muskeln und kam sich lächerlich dabei vor. Seine Katze hatte sich morgens genauso gewunden. In seiner Tasche hatte er noch ein tolles Kaugummi mit Champagnergeschmack. Er kam sich ziemlich jugendlich vor, wie er da so im Schneidersitz und Kaugummi kauend auf dem TowerTM saß.

IV.

Er wollte zur Ruhe kommen. Meditieren oder so etwas. Schließlich konnte man so ein Vorhaben nicht ohne vernünftige, geistige Vorbereitung durchziehen. Aber seine Hände zitterten und mit jeder Minute schien er nervöser zu werden. Sein Herz flimmerte wie nach zu viel Koffein. Es mußte jetzt passieren. Er spürte, daß er im Grunde nicht so weit war. Aber die Gelassenheit, die er brauchte, schien ihm immer mehr zu entgleiten. Jeder Moment, den er verstreichen ließ, entfernte ihn von der Durchführung.

Er sprang auf und rannte los. Seine aufgewärmten Muskeln pulsierten unter der Haut. Es war verwunderlich, daß sein magerer Körper zu so eleganten Bewegungen fähig war. Er dachte darüber nach, wie merkwürdig es sei, daß ihm erst jetzt einfiel: Es gefällt mir meine Muskels arbeiten zu spüren. Wie merkwürdig nett die Luft ihn umschmiegte. Er hatte sich gestern nicht getäuscht. Es wird Frühling.

Dann riß es ihn in die Tiefe. Und für einen kurzen Moment wurde ihm schlecht. Er sah nach oben und suchte nach dem Punkt, an dem er abgesprungen war. Sein Kleidung schien zu zerreißen. Sein Kopf schien gelähmt im Geschwindigkeitsrausch. Er mußte doch was denken! Dann ein panischer Gedankenblitz. Ich werde stinken! Ich werde nach Tod riechen, wie die all die anderen Leichen im TuBe-Tunnelsystem. Oder mir platzt der Darm. Mich werden Leute berühren, die ich nicht mag. Wieso denke ich jetzt nicht an mein Leben? Wo sind die tausend Bilder, die an mir jetzt vorbeirauschen sollten? Meine Augen brennen ganz fürchterlich!

Die Gedanken machten ihn traurig. Es sollte der tollste Moment seines Lebens werden. Konnte es sein, daß sogar Sterben in der Phantasie bunter ist?!! Wo waren bloß die vielen Sinneseindrücke? Weshalb fühlte sich sein Körper in diesem Moment so schal an? Wie kann es sein, daß seine Gedanken so unangemessen belanglos waren. Wieviel Zeit noch? Ich hatte mir doch ausgerechnet, wie lange es dauern würde. 5000 Meter Fallen. Es ist fad. Gibt es denn gar nichts Schönes? Ich bekomme nicht mal mehr den einfachsten Gedanken auf die Reihe. Ich möchte an mein Frühstück denken, Unmöglich . Wie geht Essen?

Plötzlich wurde es kälter. Das gegenüberliegende Gebäude begann schon seinen Schatten zu werfen. Er wußte, daß nun über die Hälfte seines großen Moments verstrichen war. Sicher würde er bald an sein Büro sehen. Er überlegte so konzentriert, wie es ihm die extreme Geschwindigkeit erlaubte, ob sein Büro an der Ostseite lag? Er fühlte sich einsam. Er schrie, damit ihn wenigstens seine Kollegen bemerkten, daß er ihr Fenster passierte.

Sie hatten ihn gesehen. Er schämte sich und fühlte sich unendlich elendig. Er schloß die Augen.


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