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04.04.2001
Schüsse an der Grenze
Das Urteil von Strasbourg und einige Erinnerungen. Von Klaus Huhn

Nach dem Spruch des europäischen Gerichtshofes in Strasbourg sind die DDR-Politiker Egon Krenz, Heinz Keßler und Fritz Streletz sowie der frühere Grenzsoldat Heinz W. zu Recht von bundesdeutschen Gerichten zu hohen Haftstrafen verurteilt worden. Die Große Kammer für Menschenrechte (EGMR) sah das Rückwirkungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMK) nicht verletzt und stellte sogar fest, »daß die Verurteilung der Beschwerdeführer ihre gesetzliche Grundlage in dem zur Tatzeit anwendbaren Strafrecht der DDR hatte, und daß die Strafen im Prinzip denen entsprachen, die in den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen der DDR vorgesehen waren.« So kommt zur Strafe noch der Hohn.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Verletzte und Tote an der Grenze können von niemandem akzeptiert oder gebilligt werden. Schüsse, die derlei Folgen hatten, sind zu bedauern. Diese Feststellung gilt allerdings für alle Grenzen der Welt! Hätte man die Berücksichtigung gerade dieses Fakts vom Europäischen Gerichtshof erwarten können?

Dort hatte man sich die Wahrheitssuche einfacher gemacht, als von Juristen erwartet worden war. Man kopierte schlicht die ideologische Sicht der westdeutschen Kollegen. Bis hin zu der These, daß die Praxis der DDR bezüglich ihres Grenzregimes nicht als »Recht« im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention angesehen werden könne. Keßler, Krenz und Streletz sei der Widerspruch zur Gesetzgebung »weitgehend selbst zuzuschreiben«, sie seien für die Zustände an der Grenze vom Anfang der 60er Jahre bis zum Mauerfall »unmittelbar verantwortlich«.

Daß das nicht zutrifft, dürfte den Richtern bekannt gewesen sein. Es ist kein Mangel an Unterlagen, die belegen, wer letztlich für das Grenzregime an der Mauer verantwortlich war. Daß diese Generale sowjetische Uniformen trugen und demzufolge deutscher Gerichtsbarkeit nie unterstanden, ist auch bekannt. Und so wird auch an diesem Punkt deutlich, daß die Robenträger in Strasbourg ein ähnlich politisches Urteil fällten, wie es zuvor bundesdeutsche Richter serienweise getan hatten. Man müht sich um gute Beziehungen zu Rußland, und nichts wäre in dieser Situation unpassender als eine Verwicklung der Befehlsgeber in die politische Landschaft der Gegenwart.

Die Urteile gegen die vor der europäischen Kammer Beschwerde Führenden waren nachweisbar von Richtern gefällt worden, die aus der BRD in jenen Teil Deutschlands geschickt wurden, der der BRD beigetreten war. Diese Feststellung ist vonnöten, weil auch zu prüfen ist, wie denn das Grenzregime in dem Land gehandhabt wurde, dem die DDR beitrat.

Junger Schmuggler tödlich verletzt

Um daran zu erinnern, bedarf es keiner großen historischen Forschung, dafür genügt ein Blick in den 52er Jahrgang der Aachener Volkszeitung. Einige Beispiele:

10. Juli 1952: »Am Mittwochnachmittag wurde in der Raerener Straße in Aachen-Sief ein junger Schmuggler durch einen Pistolenschuß eines Zollbeamten tödlich verletzt... Er hatte sechs Pfund Kaffee untergepackt. Die Polizei bittet die Bevölkerung um Auskunft über den unbekannten Toten.«

14. Juli 1952: »Durch den Fund von fünf Patronenhülsen auf den Wiesen der Landwirte Kerres und Pitz, wo der 18 Jahre alte Schmuggler Hans Schiffers aus Eschweiler von dem Zollassistenten Moitzheim erschossen wurde, sind die Angaben der Zollbeamten über den Hergang der Tragödie so stark in Zweifel gezogen worden, daß die Polizei ihren bereits herausgegebenen abschließenden Bericht zurückgezogen hat. Es besteht der Verdacht, daß Moitzheim den tödlichen Schuß nicht, wie er angegeben hat, aus 50 bis 60 Meter, sondern aus etwa 12 Meter Entfernung abgefeuert hat. Die Kernfrage ist: Kann Moitzheim rechtfertigen, unter den am Mittwoch gegebenen Umständen einen gezielten Schuß abgegeben zu haben? Oberrat Busch sprach von einem >ausgesprochenen Genickschuß<.«

2. August 1952: »Der Vorsteher des Hauptzollamtes Aachen-Kronprinzenstraße erklärt, daß keine schriftliche Anordnung oder mündliche Weisung ergangen ist, daß die Zollbeamten ein bestimmtes Soll an Aufgriffen oder Anzeigen nachzuweisen hatten.«

5. September 1952: »Ein Schmuggler, der am Donnerstagnachmittag auf der Strecke Richterich- Westbahnhof von Zollbeamten gestellt worden war, versetzte einem der Beamten einen Kinnhaken, riß sich los und versuchte zu entkommen. Der Beamte versuchte ihn durch Schüsse zum Stehen zu bringen und traf ihn dabei schwer in den Unterleib.«

Mit der ganzen Härte des Gesetzes

Zitat aus der Rede des Bundestagsabgeordneten Günther (CDU) im Verlauf der 231. Sitzung des Bundestages am 1. Oktober 1952 in Bonn: »Gestatten Sie mir, daß ich als Abgeordneter eines Grenzkreises... im Bezirk Aachen hinzusetze, ... jeden Tag werden irgendwelche Zeitungsnotizen mit dicken Überschriften von der Bevölkerung gelesen: >17jähriger Schmuggler angeschossen<, >An der Grenze herrscht wirklicher Krieg>Schüsse ohne Rücksicht auf Passanten>Schmuggel forderte ein Menschenleben - 21jähriger Arbeitsloser!>Schmuggler brach zehn Meter vor der Grenze zusammen< ... Wir haben in Deutschland bekanntlich die Todesstrafe abgeschafft; es geht im Augenblick darum, ob die Todesstrafe wieder eingeführt werden soll ... In diesem Fall hier sind unter den Opfern, die an der Grenze bei der Verfolgung des Schmuggels usw. entstehen, Jugendliche, Kinder, Erwachsene, ... die dort als Grenzgänger irgendwie auf ein >Halt< nicht stehengeblieben sind, dann angeschossen wurden und unglücklich getroffen wurden.« Der Abgeordnete Ewers von der DP war anderer Ansicht: »Es wird gesagt, die Grenzmoral würde leiden, ... die Bundesregierung hat die verdammte Pflicht und Schuldigkeit unseren Staat in einen Rechtsstaat zu verwandeln ... Wer die Gesetze nicht befolgt, sollte mit der ganzen Strenge angefaßt werden können.«

Am 7. Oktober 1952 schrieb die Aachener Volkszeitung: »Im Simmerather Krankenhaus starb am Sonntagmorgen ein Schmuggler aus Schmidthof an den Folgen eines schweren Bauchschusses, den er am vergangenen Sonntag in der Nähe von Wahlerscheid bei der Flucht vor ihn verfolgenden Zollbeamten abbekommen hatte.«

11. Oktober 1952: »Zu einer aufsehenerregenden Schmugglerjagd kam es am Donnerstagnachmittag mitten in der verkehrsreichen Hauptstraße am Seitenweg zum Lühberg. Den Unwillen der Blankenheimer Bevölkerung löste allerdings die Tatsache aus, daß die Zollbeamten mitten im verkehrsreichen Ortszentrum von der Schußwaffe Gebrauch machten. Straßenpassanten konnten sich nur mit Mühe und Not in Sicherheit bringen.«

In einem Prozeß gegen einen Kraftfahrer, der im Juli 1951 von einem Zollbeamten in die Brust geschossen worden war, erklärte der Vertreter des Hauptzollamtes: »Der Beamte hat nur seine Pflicht getan, indem er sich genau an die Dienstvorschriften hielt.«

In den Finanzpolitischen Mitteilungen des Bundesministeriums für Finanzen vom 25. November 1952 erschien ein Artikel mit der Überschrift »Der Waffengebrauch im Zollgrenzdienst«. Aus dem Text: »Der Bundesminister der Finanzen hat kürzlich die eindrucksvolle Zahl von über 700 Millionen DM an Steuerausfall durch den Schmuggel bekanntgegeben ... Wenn dieser hohe Einnahmeausfall schon Anlaß genug sein sollte, daß die Öffentlichkeit sich geschlossen gegen das Schmuggelunwesen stellt, dann müßte sie auch darin übereinstimmen, den Beamten des Zollgrenzdienstes den Kampf gegen das organisierte Schmugglertum zu erleichtern. Dazu gehört auch das Recht des Waffengebrauchs für dringende Fälle. Der Zollbeamte an der Grenze dient unter Einsatz von Leib und Leben dem Schutz des Steuerzahlers, der durch den Steuerausfall geschädigt wird, wie auch dem Schutz der deutschen Wirtschaft, der deutschen Währung und der Staatssicherheit.«

Auszug aus dem »Gesetz über den Waffengebrauch des Grenzaufsichtspersonals« vom 2. Juli 1921, das in der Bundesrepublik bis Anfang der 60er Jahre in Kraft war. Die Haupttatbestände für die Befugnis zum Waffengebrauch sind in Paragraph 1 formuliert:

»1. zur Abwehr eines Angriffs oder einer Bedrohung in gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben. An der Notwendigkeit eines Waffengebrauchs in diesen Fällen zweifelt niemand.

2. zur Überwindung vorsätzlichen gewaltsamen Widerstandes gegen die in rechtmäßiger Dienstausübung getroffenen Maßnahmen.

3. zur Anhaltung von Personen, welche sich der Befolgung der in rechtmäßiger Dienstausübung getroffenen Anordnungen durch die Flucht zu entziehen versuchen.«

Eine von Journalisten im Raum Aachen erstellte Bilanz für 1952:

20.1. Am Preußenweg fliehender Schmuggler durch Nackenschuß verletzt.

27.1. In Lammersdorf fliehender Grenzgänger durch Schuß ins Gesäß verletzt.

1.4. Am Augustinerweg 17 Jahre alter flüchtender Schmuggler durch Wadenschuß verletzt.

25.4. In Hahn fliehender Schmuggler durch Oberschenkelschuß verletzt.

17.5. Auf der Ellerstraße flüchtender Schmuggler durch Armschuß verletzt.

24.5. In Schmidthof 21 Jahre alter Schmuggler auf der Flucht durch Bauchschuß getötet.

9.7. 18 Jahre alter Schmuggler auf der Flucht in Sief getötet.

28.7. In Kalterherberg flüchtender Schmuggler durch Unterschenkelschuß verletzt.

4.9. Bei Richterich Schmuggler bei Widerstandsleistung durch Schuß in den Unterleib schwer verletzt.

28.9. Bei Wahlerscheid flüchtender Schmuggler durch Bauchschuß tödlich verletzt.

Das tragische Fazit: 31 tote Schmuggler, sieben Zollbeamte von Schmugglern getötet.

Mendes Verweis auf Schießbefehl

Im Protokoll der 246. Sitzung des Deutschen Bundestages wurde auch der Abgeordnete Erich Mende zitiert, der sich zu einem Vorfall äußerte, in dessen Verlauf ein nicht im Dienst befindlicher Zollbeamter mit seinem Karabiner einen des Schmuggels Verdächtigen erschossen hatte. Mende: »Ich meine, wenn man sich der Gefahr entziehen will, dann soll man nicht schmuggeln. Auch vor der Bundestagswahl lehne ich es ab, selbst wenn dabei manche Schmugglerstimme im Aachener Raum verlorengeht, etwa hier so zu tun, als ob der Schmuggler der Märtyrer und der Zollgrenzbeamte der Verbrecher wäre. Ich wiederhole, wer Zwischenfällen entgehen will, soll den Schmuggel gefälligst meiden.« Dann kam Mende zum politischen Aspekt der Schüsse: »Wir wissen, daß die Agenten und Infiltranten nicht so dumm sind, ausgerechnet über die Zonengrenze zu uns zu kommen. Sie wählen den viel bequemeren Weg über Frankreich, über Holland oder über Belgien und gehen hier durch die offene Tür im Aachener Raum. Wir sollten auch darauf und nicht nur auf den Kaffee unser Augenmerk richten.«

Damit war das Thema zum ersten Mal vom zu bekämpfenden Schmuggel zum Kalten Krieg gelangt und da zu den angeblich von der DDR eingeschmuggelten Agenten. Mende hatte damit also gefordert, auch gegen »Agenten und Infiltranten« den Schießbefehl anzuwenden. Niemand widersprach im Hohen Haus.

Am 24. Februar 1964 meldete die Aachener Volkszeitung: »Tödlich getroffen durch einen Schuß aus der Dienstwaffe eines Zollbeamten wurde am Samstagabend in Aachen- Lichtenbusch der 36jährige Friedrich Hasselfeld aus Nütheim, der im belgischen Teil von Lichtenbusch eingekauft hatte und mit seinem Moped nicht beim Zollamt vorgefahren war, um die Waren zu verzollen. Hasselfeld wurde von einem Zollbeamten zum Halten aufgefordert. Wie verlautet, verständigte dieser Beamte einen anderen, der Hasselfeld erneut aufforderte, von seinem Moped abzusteigen. Der Mopedfahrer verlangsamte zwar seine Fahrt, fuhr aber in gebückter Haltung an dem Beamten vorbei. Daraufhin gab der Zollbeamte einen Warnschuß ab und aus rund 20 Meter Entfernung einen gezielten Schuß, der Hasselfeld unterhalb des linken Schulterblattes traf. Der Erschossene, der am 27. August 1937 in Schwerin geboren wurde, war vor einigen Jahren in die Bundesrepublik geflüchtet. Er war Vater von zwei Kindern. Eine Untersuchung der Kleidung und einer Tasche ergab, daß er eineinhalb Pfund Kaffee, 100 Gramm Tee und 20 Eier eingekauft hatte.«

»Das Risiko für Leib und Leben ist vertretbar«

Am 5. März 1964 kam der Mord im Bundestag zur Sprache. Der damalige Bundesfinanzminister Dahlgrün erklärte: »Rechtsgrundlage für den Waffengebrauch durch Zollbeamte ist das bereits erwähnte Gesetz vom Jahre 1961, also ein verhältnismäßig junges Gesetz über den unmittelbaren Zwang. Nach Paragraph 9 Nr. 2 gehören Zollgrenzdienstbeamte zu den zum Gebrauch von Schußwaffen Berechtigten, wobei der Schußwaffengebrauch nach diesem Gesetz das äußerste Zwangsmittel bei Ausübung des unmittelbaren Zwanges ist. Im Grenzdienst können, wie Paragraph 11 des Gesetzes bestimmt, Schußwaffen gegen Personen gebraucht werden, die sich der wiederholten Weisung, zu halten oder die Überprüfung ihrer Person oder der etwa mitgeführten Beförderungsmittel und Gegenstände zu dulden, durch die Flucht zu entziehen versuchen. Das Anhalterecht ergibt sich aus Paragraph 71 des Zollgesetzes. Die Weisung anzuhalten, wird im allgemeinen mündlich gegeben. Sie kann nach Paragraph 11 Absatz 1 des Gesetzes über den unmittelbaren Zwang durch einen Warnschuß ersetzt werden, wenn anzunehmen ist, daß sie nicht verstanden wird. Das mit dem Schußwaffengebrauch verbundene Risiko für Leib und Leben ist gegenüber dem erzielten Erfolg vertretbar.«

Der schon früher erwähnte Abgeordnete Günther (CDU): »Sowohl auf deutscher wie auf belgischer Seite wurden in der Presse Äußerungen belgischer Zollbeamter wiedergegeben, die gesagt haben sollen: >Bei uns passiert so was nicht, daß auf Menschen geschossen wird.< Meine Frage: Ist unser Gesetz bzw. unsere Anordnung strenger als die belgische? Kann nicht angestrebt werden, daß unsere Anordnungen den belgischen und holländischen Anordnungen angeglichen werden, damit wir wenigstens an der Grenze einheitliche Regelungen haben?«

Darauf der Minister: »Das ist eine sehr schwer zu beantwortende Frage. Die Grenzen Deutschlands sehen anders aus als die Grenzen Belgiens. Wir haben sehr schwierige Grenzen! Denken Sie einmal an die Alpen, an den Bayerischen Wald, denken Sie an die Zonengrenze! ... Inwieweit kann ich die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit beim Einsatz der Schußwaffe einem Beamten in einer Situation aufbürden, wo es schnell geht, wo er in einer gewissen Erregung ist? Geht das Gesetz oder gehen die Verwaltungsvorschriften da nicht über das Beurteilungsvermögen des Beamten hinaus?«

Zitat aus Der Deutsche Zollbeamte - Organ des Bundes der deutschen Zollbeamten e.V.: »Ein Schmuggler ist in Aachen erschossen worden. Wir bedauern den Tod eines Mitmenschen und die leidvollen Folgen für seine Familie ... Was aber soll das große Geschrei ... Was soll das Lamentieren um die Unverletzlichkeit der Person? Wer hat eigentlich die gesetzlichen Bestimmungen gemacht? Vielleicht der Beamte? ... Der Zollbeamte ist doch kein Hellseher. Vielmehr mußte er annehmen, daß ein Mann, der durch Zuruf und Warnschuß zum Halten aufgefordert worden ist und trotzdem weiterfährt, sich einer besonders schweren Gesetzesverletzung schuldig gemacht hatte ... Warum ist dieser Schmuggler nicht stehengeblieben? Konnte dieser Mann nicht vielmehr staatsgefährdendes Material bei sich führen, Rauschgifte, konnte er nicht ein langgesuchter Verbrecher sein? Er war ein Kleinschmuggler, aber wußte man das vorher? Wir glauben nicht, daß sich ein Richter findet, der diesen Beamten verurteilt.«

Der Autor behielt Recht. Der Bundesvorstand der Zollbeamten hatte dem Schützen Rechtsschutz zuerkannt. Er brauchte jedoch diesen Rechtsschutz nicht in Anspruch zu nehmen, weil das Bundesfinanzministerium einen erfahrenen Rechtsanwalt mit der Verteidigung beauftragt hatte. Er wurde vom Schwurgericht auf Kosten der Staatskasse freigesprochen.

Die Staatsanwälte und Richter, die die Prozesse gegen die Beschwerdeführer in Strasbourg und viele andere Offiziere, Unteroffiziere, Soldaten und Funktionäre der DDR geführt hatten, taten immer so, als wäre an den bundesdeutschen Grenzen nie jemand auch nur verletzt worden. Und sie stützten sich auf Gesetze, die schon in den fünfziger und sechziger Jahren zum Beispiel rund um Aachen viele Todesopfer toleriert hatten. Und zwar nicht an einer Grenze zweier Systeme, der Grenze zwischen den beiden mächtigsten Militärbündnissen der Geschichte, sondern an einer Grenze, an der auf Menschen geschossen wurde, die in Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Frankreich oder der Schweiz Kaffee, Tee oder andere Lebensmittel gekauft hatten und ohne den gesetzlichen Einfuhrzoll zu entrichten, in die Bundesrepublik Deutschland einzuführen versuchten.

Versuche, die Zahl der bei solchen Zwischenfällen in der Bundesrepublik Erschossenen festzustellen, scheiterten, weil die zuständigen Instanzen ab Ende der sechziger Jahre keine Auskünfte mehr erteilten. Hinzu kam, daß die Zollvergehen angesichts sich annähernder Preise zurückgingen.

Dessen ungeachtet bleibt die Frage, mit welcher moralischen und juristischen Berechtigung BRD-Richter ihre Urteile fällten. Sie richteten sich gegen Offiziere und Soldaten, die Befehle ausführten. Sie warfen keine Bomben auf ungeschützte Städte, zerstörten keine Brücken, ermordeten durch ihre Bomben nicht auf der Straße spielende Kinder, sondern hatten Order, eine Grenze zu sichern. Daß das nicht irgendeine Grenze war, hatte der Abgeordnete Erich Mende, Ritterkreuzträger der faschistischen Armee und später Vizekanzler der BRD, im Bundestag erklärt.

*** Literatur: Graff: Schüsse an einer anderen deutschen Grenze. Spotless-Verlag, Berlin 1995

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