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Datum:   28.04.2000
Ressort:   Feuilleton
Autor:   Volker Müller

Das willkommene Heldenlied

Er schrieb das Buch "Nackt unter Wölfen". Heute vor 100 Jahren wurde Bruno Apitz geboren

Kropinski hob das schreiende Bündel über sich, damit es nicht erdrückt werde von der brodelnden Flut. Einer Nussschale gleich schaukelte das Kind über den wogenden Köpfen. Im Gestau quirlte es durch die Enge des Tores, und dann riss es der Strom auf seinen befreiten Wellen mit sich dahin, der nicht mehr zu halten war." Mit dieser Szene lässt der Schriftsteller Bruno Apitz seinen Roman "Nackt unter Wölfen" enden - die weltberühmt gewordene Geschichte von dem kleinen jüdisch-polnischen Jungen Stefan, den Häftlinge des KZ Buchenwald im Frühjahr 1945 vor der SS verbergen bis zu eben jenem Tag der Befreiung im April 1945.

Zehn Jahre nach seinem eigenen Martyrium in Buchenwald hatte der Kommunist Apitz damit begonnen, sich das Trauma seiner acht Häftlingsjahre von der Seele zu schreiben. Freunde berichteten, dass ihm das Werk nur schwer von der Hand ging, und er umso mehr von Selbstzweifeln geplagt war, als sich kaum ein Verlag für den ersten Entwurf interessieren wollte. Bis eines Tages Heinz Sachs, der entwicklungsfreudige Chef des Mitteldeutschen Verlags, seinem Lektor Martin Gregor-Dellin "das Geschreibsel" auf den Tisch packte, er möge doch einmal prüfen, ob es überhaupt etwas tauge. "So unbeholfen das Ganze abgefasst war, so schwerfällig auch die Ausdrucksweise, so ungelenk der Stil", erinnerte sich Gregor-Dellin später. "Aber man hörte einen Menschen sprechen, der sich das Äußerste abrang, und was er erzählte, war es auch wert."

Aus der "gar nicht schwierigen" Zusammenarbeit mit dem damals 56-jährigen, kaum bekannten Arbeiterschriftsteller Bruno Apitz blieben seinem wesentlich jüngeren bürgerlichen Lektor drei charakteristische Momente im Gedächtnis: Auf Kritiken eingehend, habe Apitz seinen Text verteidigt, indem er ihn wortreich noch einmal erzählte. "Passte man genau auf, so ergab sich daraus eine Verbesserung." Doch sei er mit seiner "Neigung zum Melodramatischen" vor allem in den Massenszenen "von hochtönenden Worten" schwer abzubringen gewesen. Wenn er schließlich seine Helden in ihrem Konflikt zwischen der Ratio des illegalen Widerstandes und dem Mitleid mit dem kleinen Menschlein beschrieb, habe er sich immer wieder quälend gefragt: "Darf ich das?"

Dieses unbewusst antistalinistische Moment dürfte es wohl gewesen sein, was Walter Ulbricht im Winter 1957/58 sieben Fahnenabzüge zur Prüfung im engsten Politbürokreis anfordern und die vom Kulturministerium schon zugesagte Druckgenehmigung noch einmal aussetzen ließ. Die Genossen ließen es schließlich mit ein paar Randbemerkungen bewenden. "Nackt unter Wölfen" passte gut ins Jahr 1958, als sich die DDR mit der Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald eine heroisierende Weihestätte für ihren antifaschistischen Gründungsmythos schuf.

Der Erfolg dieses Buches war einmalig für den Literaturbetrieb der DDR. In 25 Sprachen und in 28 Ländern erlebte es Millionen-Auflagen. Auch als Hörspiel, Fernsehdrama und in Frank Beyers eindrucksvoller Verfilmung ging die wundersame Rettungsgeschichte durch das Land und um die Welt. Ihr Autor erfuhr in der DDR höchste Ehrungen.

Noch ist die Rezeptions-Geschichte des Romans, speziell auch für die DDR, im Detail nicht erforscht. Das Geheimnis seiner Wirkung ist nicht allein mit der menschlich bewegenden und spannenden Fabel erklärt, die Apitz fand, um - individuell völlig legitim - seine Erlebnisse fiktiv zu gestalten. Das glaubwürdige "authentische" Moment der Erzählung und ihre "melodramatische", gleichsam märchenhafte Botschaft vom Sieg des Guten über das Böse bot eine erlösende Sicht auf die Schrecken der KZ-Lager an. Vom Autor nicht betrieben, aber auch nicht widersprochen, wurde "Nackt unter Wölfen", offiziell gefördert, zur Folie für die reale Geschichte: So soll, so muss es gewesen sein.

Bis Anfang der 60er-Jahre hatten sich Bruno Apitz und andere namhafte Mithäftlinge wie etwa Walter Bartel noch gegen ein solches faktizistisches Verständnis des Kunstwerks gewehrt. Aber im Frühjahr 1964 sorgte ein Ereignis dafür, dass Dichtung und Wahrheit manipulativ zusammenschlugen: Das "Buchenwald-Kind" war gefunden worden. Es hieß Stefan Jerzy Zweig und studierte in Lyon. Nach Hinweisen von Bürgern der Sowjetunion und im Auftrag der "BZ am Abend" hatte die KZ-Überlebende Charlotte Holzer in Tel Aviv seinen Vater Dr. Zacharias Zweig ausfindig gemacht, der im Sommer 1944 mit einem "offiziellen Transport" mit dem Kind in Buchenwald eingetroffen war. Stefan Jerzy Zweig hatte dort, beschützt von kommunistischen Widerstandskämpfern, aber auch geduldet von einigen SS-Leuten, wie sein Vater überleben können. Die Sensation wurde in der DDR mit riesigem Propagandaaufwand gefeiert. Stefan Jerzy Zweig besuchte Berlin und Weimar und wurde später in Babelsberg zum Kameramann ausgebildet. Sein Vater, erstmals mit Bruno Apitz Roman konfrontiert, soll mit einem "Ja, so war es!" dem Glauben an dessen Tatsachentreue Nahrung gegeben haben.

Dabei war, wie der Wissenschaftler Harry Stein von der Gedenkstätten-Stiftung Buchenwald recherchiert hat, die Apitz sche Erzählung weit von der eigentlichen Lagerrealität entfernt. Und der Rechtsanwalt Zacharias Zweig wusste es: Er hatte im Januar 1961 vor dem Dokumenten-Zentrum des Staates Israel in einem 90-seitigen Bericht seine Buchenwald-Erlebnisse zu Protokoll gegeben. Dieser Report, von Charlotte Holzmann in einer Kopie mitgebracht, war im Februar 1964 das Kernstück einer großen Artikelserie über "Juschu" Zweig in der "BZ am Abend" - allerdings so verkürzt und verfälscht, dass er in die Fabel von "Nackt unter Wölfen" passte: Außer den in der Tat mutigen kommunistischen Beschützern kam kein anderes rettendes Moment mehr vor; herausredigiert war auch Zweigs Mitteilung, dass der befreiende Strom der Häftlinge aufs Lagertor einsetzte, als die SS-Leute schon flohen. Vater Zweig hat wohl aus Dankbarkeit für seine und seines Sohnes Rettung damals zu allem geschwiegen und bat den Sohn, seinen Bericht in der Originalgestalt erst eine Generation später zu veröffentlichen. Fast unbemerkt ist das vor drei Jahren in dem kleinen Frankfurter Dipa-Verlag geschehen. Der Vergleich, den Harry Stein jetzt anstellte, spricht Bände.

Fiktion ist des Dichters Recht. Bruno Apitz, der Arbeiterjunge aus Leipzig, der nicht nur kalendarisch "mit dem Jahrhundert gehen" wollte, gelernter Stempelschneider, erst sozialdemokratischer, dann kommunistischer Parteigänger, für seine Überzeugungen immer wieder inhaftiert, zuletzt in Buchenwald, hatte für sich eine tröstliche Vision: "Was an Menschen den Stacheldraht der Konzentrationslager lebend hinter sich lässt, das wird der Vortrupp einer gerechteren Welt sein!" Schon die tragische Heldin seiner KZ-Erzählung "Esther" hatte dafür gestanden, dem Sinnlosen einen Sinn zu geben: "Und der Tod, so wie wir ihn zu sterben haben, er muss sein. Ich ahne ein Großes ."

Es steht nicht im Roman, dass für Stefan, der im letzten Moment von der Todestransportliste genommen wurde, der Sinto-Junge Willy Blum ins Gas musste. Das zu sagen ist des Historikers Pflicht. Auch wenn es eine willkommene Legende stört.

Es steht nicht im Roman, dass für den im letzten Moment geretteten Judenjungen Stefan ein Sinto-Junge ins Gas musste. Es zu sagen ist des Historikers Pflicht.

KLAUS MANZEK Bruno Apitz (28. 4. 1900 - 7. 4. 1979) kurz vor seinem Tode bei einer Buchenwald-Gedenkfeier

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