Werner Habermehl, geb. 1949, Studium der Philosophie und Soziologie in Hamburg (bei Klaus Oehler und Karl-Dieter Opp), Lehre an diversen Universitäten (Hamburg, Bielefeld, RWTH Aachen, Sorbonne, Emile Durkheim Institute for Advanced Study), Forschung mit Schwerpunkt Methoden und Ethik, letzte größere Veröffentlichung: Überarbeitung der Übersetzung von „Atlas Shrugged“ (1997).

Kann die Theorie der Freiheit vom christlichen Glauben lernen?

Eine Anmerkung zu Roland Baaders Beitrag “Christlicher Glaube und Liberalismus: unvereinbar?” in eigentümlich frei 1/98

Die Theorie der Freiheit läßt zahlreiche Interpretationen zu. Wir kennen eine liberale, eine libertäre, eine objektivistische, eine anarchistische und noch eine ganze Reihe anderer. Teilweise unterscheiden sich diese Interpretationen hauptsächlich in ihren Folgerungen, teilweise allerdings auch hinsichtlich ihres Ausgangspunktes. Eines allerdings scheint allen Interpretationen gemeinsam zu sein: der Primat der Vernunft.

Freiheit soll den Menschen den ungehinderten Gebrauch ihres höchsten Gutes, der Vernunft, ermöglichen. Wenn dieses Recht nicht nur einzelnen zugebilligt sein soll, sondern allen, ergibt sich in der Praxis eine wichtige Beschränkung des Vernunftgebrauchs. Die Gedanken bleiben zwar frei, aber wir sind gehalten, bei deren Umsetzung zu beachten, daß wir andere nicht in der Entfaltung ihrer Gedanken behindern.

Ich kenne nur eine Lösung dieses Problems: den wechselseitigen Gewaltverzicht. Wenn und solange jeder das Recht hat, in Ruhe gelassen zu werden, solange er nicht seinerseits zu Gewaltmitteln greift, ist und bleibt die Menschheit insgesamt vernünftig.

Das Grundmodell dieser Lösung ist der philosophische Dialog. Man könnte auch sagen: die rationale Auseinandersetzung. Niemand  der bei Sinnen ist  würde sich freiwillig an einer Diskussion beteiligen, wenn er weiß, das deren Ergebnis ihn zum Beispiel durch einen Mehrheitsbeschluß zu binden vermag, während er im Falle einer Nichtbeteiligung frei und unabhängig bliebe.

Eine rationale Auseinandersetzung ist also genau die, wo jeder Teilnehmer sich darauf verlassen kann, daß er für den wahrscheinlichen Fall nicht erzielter Einigkeit unbehelligt seiner Wege gehen kann. Nicht als rational wird man insbesondere solche Auseinander-setzungen auffassen, wo Zwang und Gewalt nicht erst als Ergebnis der Auseinandersetzung drohen, sondern zu deren Bedingungen gehören wie wenn bereits die Teilnahme eine durch Sanktionen abgesicherte Verpflichtung darstellt.

Anders ausgedrückt: Menschen können nur rational handeln, wenn sie unter Wahrung der Freiwilligkeit aller anderen freiwillig handeln. Dieses Prinzip der Freiwilligkeit ist auch als Friedenspflicht bezeichnet worden: Jeder kann tun und lassen, was er will, solange er nicht andere eben dadurch an der Ausübung des gleichen Rechts hindert.

Ich möchte zunächst einfach (kontrafaktisch) unterstellen, daß man sich auf diesen Punkt einigen kann und daß der Teufel eigentlich nur im Detail steckt (Berechtigung eines Minimalstaates, Berechtigung eines Richterstandes und einer Schar von Bütteln, Berechtigung einer gesetzgebenden Versammlung und so weiter).

Dem steht nun das Christentum mit durchaus anderen Grundüberzeugungen entgegen. An erster Stelle zu nennen wäre der Dekalog. Die Zehn Gebote mögen einige durchaus beherzigenswerte Maximen enthalten, zum Beispiel, daß wir nicht morden, stehlen oder verleumden sollen. Wer würde dagegen seine Stimme erheben wollen. Aber warum sollen wir den christlichen Gott als Herrn anerkennen und keine anderen Götter haben? Warum sollen wir an Feiertagen in die Kirche gehen? Warum sollen wir unsere Eltern achten? Warum sollen wir den Lockungen der attraktiven Frau unseres Nachbarn widerstehen? Warum sollen wir nicht gelegentlich auch mal deftig fluchen?   

Das Prinzip des Gewaltverzichts erlaubt es jedem, sich die entsprechenden Normen zu eigen zu machen. Aber was können wir aus diesen Normen lernen? Oder wenn wie Baader meint die “Herrschaft” des christlichen Gottes eine “Herrschaft der Liebe” ist, dann kann das sicher niemand stören - nur: Was gewinnen wir dadurch?

Baader selbst kritisiert die “halbsozialistischen Wohlfahrtsstaaten Europas”, die ihre Klientel vor jeder Wahl mit den Ankündigungen immer neuer Plünderungszüge anfüttern, um sie dann um so unbarmherziger an den Haken zu nehmen. Er muß sich insofern die Frage gefallen lassen, ob nicht der christliche Glaube wesentlich mit an der Entstehung jener von Nietzsche so bezeichneten Sklavenmoral beteiligt war, durch die Werte wie Selbständigkeit, Unabhängigkeit, Freiheit, Stolz und so weiter zerstört wurden, um Platz zu machen für eine stets den anderen zugeschriebene, durchgängig verherrlichte Verpflichtung zu Hilfeleistung, Unterstützung, Anteilnahme, Nachsicht, Mitleid und Demut.

Die homerischen Griechen, an die Nietzsche dachte, wenn er zur Kontrastierung gegenüber der Sklavenmoral von einer Herrenmoral sprach, riefen ihre Götter nicht an, um Erlösung zu erbitten. Sie wollten nicht (vom Leben) erlöst werden. Sie wollten nur in Ruhe gelassen werden. Sie baten: Verschont uns.

Nietzsches Kritik an der Sklavenmoral wäre witzlos, wenn diejenigen, an die sie sich wendet, tatsächlich Sklaven wären. Aber genau dies ist nicht der Fall. Nietzsches Kritik wendet sich an freie Menschen, denen ihr Schicksal in eigene Hände gelegt ist und deren christliche Moral sie zum Opfer jener Ausbeutung macht, der sie durch den Glauben an ihre Gottesgeschöpflichkeit zu entrinnen suchen.

Man mag zu Nietzsche stehen, wie man will, aber er hat da einen wichtigen Punkt, dessen nähere Betrachtung sich lohnt. Was nämlich, könnte einer fragen, ist eigentlich (Nächsten)Liebe? Ist es nicht eigentlich nur Verliebtheit in unsere eigenen Gefühle, auf die wir uns dann überdies noch etwas zugute tun wollen? Wer vom Schicksal eines hungernden Kindes zu Tränen gerührt zum Scheckheft greift, was motiviert ihn? Ist es nicht die dadurch erfahrene Steigerung des Genusses an seiner Anteilnahme? Ist es nicht das Bedürfnis nach einem Beweis vor sich selbst, daß seine Gefühle echt und deshalb um so schöner sind? Ist es nicht von der Intention her im Grunde genommen dasselbe, wie wenn ein zu Tode Betrübter, statt sich die Traurigkeit mit den heiteren Songs der Beach Boys zu vertreiben, lieber xmal die finstersten Lieder von Jim Morrison dudelt?

Natürlich ist es jedermann unbenommen, seine Gefühle zu hegen und zu pflegen. Aber Gefühle werden nicht dadurch geadelt, daß sie mit der Not anderer verknüpft sind. Der Lebemann etwa, der sein Vermögen mit Huren, beim Spiel und in Luxusrestaurants durchbringt, erscheint vielleicht in der Sicht seiner Familie als Verschwender. Aber jede Mark, die er ausgibt, fließt weiter. Er gibt, und er gibt reichlich. Natürlich gibt er um seines Genusses willen. Doch alles kommt irgendwo an. Keine Mark geht verloren. Und die Frage, wer letzendlich profitiert, macht gar keinen Sinn. Denn: Sein Geld bleibt im Umlauf. Natürlich gibt es immer welche, die an diesem Umlauf nicht teilhaben. Nur das alles ändert nichts daran, daß sein “verschwenderischer” Lebensstil unter Umständen Hunderten, wenn nicht Tausenden ein Auskommen ermöglicht.

Jesus Christus soll einmal, als er gefragt wurde, warum er sich mit kostspieligen Kosmetika für eine Party herrichten ließ, wo es doch so viele Arme gab, die das dafür aufgewendete Geld dringend gebrauchen konnten, sinngemäß geantwortet haben (Mark. 14, 37): Mich habt ihr nur einmal, die Armen habt ihr immer. Diese persönliche Sicht des Sohnes des christlichen Gottes läßt die vorgenannten Überlegungen außer Acht. Und sie klingt hart. Aber um so mehr muß man sich fragen, was die Theorie der Freiheit vom christlichen Glauben zu lernen hätte.

Der christliche Glaube verspricht uns (wie andere Religionen auch) für unsere Seelen die Ewigkeit. Wem daran gelegen ist, der wird sich vielleicht für den christlichen Glauben entscheiden. Dagegen ist weiter nichts einzuwenden. Er verliert auf Erden nichts und gewinnt wenn sein Glaube ihn nicht trügt das Himmelreich. Aber was spricht ansonsten für die Annahme des christlichen Glaubens? Und speziell: Was lehrt uns dieser Glaube, was wir nicht ohnehin schon wüßten?

Man muß nicht blasphemisch werden und etwa die Schöpfungsgeschichte anzweifeln oder gar die jungfräuliche Geburt Jesu Christi. Wer das tut macht sich lächerlich. Diese sicher für viele mit dem Schatten der Skepsis behafteten Lehren der Kirche sind jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang  völlig unbeachtlich. Baader will ja darauf hinaus, daß eine moralische Verankerung jenes Verhaltens, das eine freie Gesellschaft braucht, nur durch die (christliche) Religion erfolgen kann. Und da liegt der Hase im Pfeffer. Woher weiß er das?

Baader stellt einen Vergleich zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika an. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die seiner Meinung nach freieren Vereinigten Staaten, diese größere Freiheit der unstrittig stärkeren religiösen Bindung der Menschen in diesem Land verdanken. Aber wenn wir einmal unterstellen, daß die Vereinigten Staaten tatsächlich mehr Freiheiten gewähren als zum Beispiel die Bundesrepublik Deutschland: Ist das der Religiosität zu verdanken etwa im Sinne der von Max Weber angenommenen Wahlverwandschaft zwischen protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus (auf die Baader sich ja nun im übrigen gerade nicht berufen kann, weil er ohnehin eher die katholische Variante des christlichen Glaubens im Blickfeld hat)?

Empirische Belege, die seine These unterstützen könnten, legt Baader nicht vor. Bekannt ist indessen, daß es eine ganze Reihe christlicher Länder mit ausgeprägter Religiosität gibt, die sich durch alles mögliche auszeichnen, nur eben nicht durch eine besonders tiefe Verankerung freiheitlicher Werte. Griechenland etwa gehört zweifellos zu den Ländern mit einer bemerkenswert lebendigen Religiosität. Aber daß dieses Land sich nun durch eine der Freiheit verpflichtete Politik auszeichnet, wird kaum jemand behaupten wollen, der auch nur einmal versucht hat, hier wirtschaftlich tätig zu werden oder auch nur unbehelligt in Griechenland zu leben.

Oder Italien, speziell Süditalien: Leben und arbeiten dort die Menschen freier als in London, Paris, Amsterdam oder Berlin? Ich kann das nicht sehen. Es kann jedem im Grunde egal sein, wer Schutzgeld von ihm erpreßt. Ob nun der Staat oder die Mafia, was macht das schon für einen Unterschied? Die entscheidende Frage ist zunächst: Wie hoch ist das Schutzgeld? Und dann: Muß ich unter Umständen an zwei Schutzgeldorganisationen zahlen?

Zufällig bin ich selbst Christ. Aber ich vermag nicht zu erkennen, was ich aus meinem Glauben für meine Lebensführung im Hinblick auf die Achtung der Freiheitsrechte meiner Mitmenschen lernen kann. Ich bin neugierig auf den Himmel. In die Hölle kann man immer noch. Aber was hat das damit zu tun, welche Regeln ich für mein Handeln akzeptiere oder nicht? Diese Regeln sind mir durch das Ziel einer rationalen Gestaltung meines Lebens vorgegeben. Und im Zweifelsfall geht die Ratio immer vor. So verlockend kann die Verheißung ewigen Lebens nicht sein, daß ich dafür die Gesetze der Vernunft breche.

Ich darf abschließend und zur Erläuterung an einen Eid erinnern, den Tagny Taggart sprechen mußte, um in Galt’s Gulch aufgenommen zu werden: “Ich schwöre bei meinem Leben und bei meiner Liebe zum Leben: Ich werde nie für andere leben, und ich werde nie von anderen verlangen, daß sie für mich leben.”

 

 

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