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Michael Parmentier: Strukturanalyse und individuelles Sinnverstehen. Hermeneutische Ansätze für die Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der SCHLElERMACHERschen Position

(Erschienen in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, H.2/89, S.179-204)

Inhalt

  • Einleitung
  • Der linguistic turn
  • Der Bruch im Symbolsystem
  • Das Subjekt der Rede oder: wer spricht?
  • Zerlegung und Arrangement
  • Die Sinnstruktur – der Zusammenhang der Momente
  • Das "individuelle Allgemeine"
  • Grammatische und psychologische Auslegung
  • Die Rhetorik des Unbewußten
  • Die Kunst des Verstehens
  • Gütekriterien
  • Das unaufhörliche Gleiten des Sinns
  • Literatur
Einleitung
Hermeneutik ist, nach der berühmten Formulierung SCHLElERMACHERs, "die Kunst, die Rede eines anderen richtig zu verstehen" (SCHLEIERMACHER 1977, S. 75). Diese Formel ist genauso griffig wie erschöpfend. Mit ihr ist alles gesagt. Sie enthält in nuce die vollständige Auskunft über das, was hier behandelt werden soll. Im Grunde braucht man "nur" diesen Satz zu explizieren, um zu einer pädagogischen Theorie der Hermeneutik zu gelangen.

Im Alltag sind wir an einer solchen Theorie der Hermeneutik, ihrem ausgeführten Begriff, nicht sonderlich interessiert. Wofür auch? Wir beherrschen ja offensichtlich – im Normalfall wenigstens – die Kunst, die Rede eines anderen richtig zu verstehen, auch ohne zu wissen, wie es geht. Der Junge versteht den Plan des Freundes, die Mutter versteht die Vorwürfe der Tochter, die Demonstranten verstehen die Aufforderung der Polizei. Selbst wenn das Verständnis der Rede des anderen durch Unvollständigkeit, durch Stottern, durch eine Dialektfärbung oder durch eine Fremdsprache erschwert wird, ist dies in der Regel kein Grund zur methodischen Reflexion. Meist reicht zur Wiederherstellung eines ungebrochenen und fraglos hingenommenen Kommunikationsflusses ein genaueres Hinhören, eine schlichte Nachfrage oder auch ein Blick ins Fremdwörterlexikon.

Diese Selbstverständlichkeit des alltäglichen Verstehens stößt jedoch schnell auf ihre Grenzen. Sobald statt der mündlichen Rede in der sogenannten face-to-face-Situation, unter Freunden, in der Familie, in der Öffentlichkeit, die Schrift eines längst gestorbenen Autors, etwa das schulpolitische Manuskript HUMBOLDTs aus dem Jahre 1809 (vgl. KLAFKI 1971) zum Gegenstand des Verstehens gemacht wird, entstehen schon methodische Probleme. Sie verschärfen sich, wenn über die schriftlichen Dokumente der Vergangenheit hinaus auch noch die averbalen Zeichensysteme, die Sprache des Raumes, der Bilder, der Handlungen und Gesten verstanden werden sollen. Dann zerbricht die Selbstverständlichkeit des alltäglichen Verstehens, und wir sehen uns genötigt, über die Methode des richtigen Verstehens nachzudenken. In diesem Augenblick treten wir ein in den methodologischen Diskurs. Er soll reflexiv Klarheit verschaffen über das, was immer schon passiert, wenn wir die Rede eines anderen richtig verstehen, und er soll die Gütekriterien bestimmen helfen, welche erfüllt sein müssen, wenn wir auf eine wissenschaftlich zuverlässige, d. h. intersubjektiv überprüfbare Weise "sinnhaltige Dokumente" (KLAFKI 1971, S. 128) verstehen wollen.

Die folgenden Ausführungen sind ein Beitrag zu diesem methodologischen Diskurs. Sie weisen Lücken und Sprünge auf, und an manchen Stellen haben sie nur den Charakter einer Stichwortsammlung. Andere Stellen sind umgekehrt vielleicht etwas zu breit getreten. Der Untertitel erinnert von ferne an einen Aufsatz von KLAFKI (1971), der vor 18 Jahren als Bestandteil des Funkkollegs Erziehungswissenschaft erschienen ist und wegen seiner Anschaulichkeit noch heute eine glänzende Einführung darstellt. Doch KLAFKI bewegt sich vor allem auf dem klassischen Feld der Hermeneutik, der um eine ideologiekritische Komponente erweiterten historischen Quelleninterpretation. Trotz des weiten Begriffs von Hermeneutik, dem sich KLAFKI verpflichtet fühlt, bleibt die gesamte neuere Diskussion im Bereich des sogenannten "interpretativen Paradigmas", die Ansätze der linguistischen Texttheorie, der objektiven Hermeneutik, der strukturalen Analyse, der psychoanalytischen Deutungslehre und das Detektivmodell der Spurensicherung ausgespart. Ihre Berücksichtigung hätte – soweit sie aus wissenschaftshistorischen Gründen überhaupt möglich gewesen wäre – sicher nicht nur den an Ort und Stelle gesetzten Rahmen gesprengt, sie hätte auch zur Konzeption einer anderen, einer semiologisch orientierten Erziehungswissenschaft geführt. Das sollen die folgenden Ausführungen belegen. Sie versuchen die Voraussetzungen und die Umrisse einer solchen Konzeption zu skizzieren, indem sie diverse hermeneutische Ansätze der Gegenwart mit Hilfe der frühen Theorieentwürfe SCHLEIERMACHERs aufeinander beziehen und ihre erziehungswissenschaftliche Bedeutsamkeit sichtbar werden lassen.


Der linguistic turn
SCHLElERMACHERs Definition steckt voller Feinheiten und Überraschungen. Man muß sie genau lesen. Hermeneutik ist die Kunst, nicht einen anderen, sondern "die Rede" eines anderen richtig zu verstehen. Das klingt zwar zunächst ziemlich trivial, aber es ist sehr modern gedacht und hat Konsequenzen. Wer verstehen will, muß sich nach dieser Definition in die materielle Komplexion einer Rede versenken. Nur hier kann er den Sinn finden, den er sucht. Sinn und Bedeutung liegen nicht jenseits der Rede, sondern in ihr. Das gilt auch für die Gedanken, die einer hat. Sie müssen in ein materielles Substrat, ein Laut- oder Schriftsystem, eingeschrieben sein, sonst existieren sie nicht. SCHLEIERMACHER hat dies unmißverständlich ausgeführt: "Die Sprache ist die Art und Weise des Gedankens, wirklich zu sein. Denn es gibt keine Gedanken ohne Rede. Das Aussprechen der Worte bezieht sich bloß auf die Gegenwart eines anderen und ist insofern zufällig. Aber niemand kann denken ohne Worte. Ohne Worte ist der Gedanke noch nicht fertig und klar." (SCHLEIERMACHER 1977, S. 77) Alles Gedachte ist als distinktive Größe auf das differentielle Gewebe eines sprachlichen Ausdrucksmediums angewiesen. Außerhalb eines solchen Mediums bleibt das Denken ganz unbestimmt und leer, amorphe Nebelmasse.

Mit dieser unscheinbaren Einsicht und den methodischen Folgerungen, die er daraus zog, wurde SCHLEIERMACHER zum Vorläufer und Wegbereiter eines epochalen Paradigmenwechsels, der im Laufe dieses Jahrhunderts über viele Stationen und Varianten die klassische Bewußtseinsphilosophie durch das moderne Konzept einer strukturalen Semiologie ersetzte. In manchen Kontexten wird dieser Paradigmenwechsel auch als "linguistic turn" bezeichnet. Als einer seiner Urheber gilt SAUSSURE. In dem berühmten IV. Kapitel seines "Cours de linguistique generale" (dt. 1967) hat er gezeigt, daß es ein präexpressives, ein reines, vom Gewicht seiner Ausdrucksmaterie befreites Denken nicht geben könne, weil es keinerlei Bestimmtheit besäße. Ein Gedanke muß sich, um überhaupt Gedanke zu werden, medial artikulieren. Anders gibt es ihn nicht. Deshalb verstehen wir einen Gedanken nie bevor, sondern immer erst nachdem wir den entsprechenden sprachlichen Ausdruck kennen. Der sprachliche Ausdruck – oder "die Rede" – hat den Primat vor dem Denken. Wir sagen nicht, was wir denken, sondern wir denken, was wir sagen, selbst dann, wenn wir mit zwei Zungen reden, einer lauten und einer leisen. Diese Auffassung über das Verhältnis von Sprechen und Denken ist heute kaum mehr umstritten. Ihr stimmen auf ihre Weise die Vertreter der sprachanalytischen Philosophie ebenso zu wie die Vertreter der Kritischen Theorie und des französischen Neostrukturalismus. Die Annahme von "vor-ausdrücklichen Intentionen", also vorsprachlichen Bewußtseinsakten, wie sie HUSSERL noch einmal gemacht hat (HUSSERL 1950, S. 303—313), ist nach der Kritik ADORNOs (1972), TUGENDHATs (1970) und DERRlDAs (1979) daran endgültig nicht mehr haltbar. Sie hat sich als schlichte Abstraktion erwiesen. Ein Gedanke "kommt" nicht von irgendwo außerhalb "zur Sprache", sondern bewegt sich von Anbeginn in ihr. Er muß, seiner Bestimmtheit wegen, immer schon durch den, wie LACAN sagt, "defile du signifiant" hindurch. Deshalb gilt die Anstrengung des Verstehens genau genommen nicht dem anderen, nicht seinen Gedanken und Vorstellungen, auch nicht seinem Bewußtsein und schon gar nicht seinen Bedürfnissen, sondern seiner "Rede", der verbalen wie der nicht-verbalen. Das scheint mir die Prämisse einer semiologischen Erziehungswissenschaft.


Der Bruch im Symbolsystem
Um nicht nur die Rede, sondern die Rede "eines anderen" richtig zu verstehen, müssen sich alle Beteiligten, Sprecher wie Hörer, Redner wie Interpret, über die Verwendungsweise der materiellen Ausdrucksträger, der Symbole und Zeichen, der vokalen und nicht vokalen Gesten einig sein. Verstehen ist nur möglich, wenn die Gesprächspartner vorweg über ein gemeinsames Sprachspiel verfügen. Erst aufgrund eines gemeinsamen Sprachspiels ist es für den Hörer oder Leser möglich, die Rede des anderen und die darin enthaltenen Situationsdeutungen und Erwartungen, ihren "Sinn" zu verstehen. Selbst jene berühmten Akademiker der Insel Balwiberi, von denen Gulliver berichtet, konnten für ihre Gespräche auf ein gemeinsames Sprachspiel nicht verzichten. Sie verwendeten nur, um sich die Anstrengung des Sprechens zu ersparen, die Gegenstände selbst, nicht deren symbolische Repräsentation als Medium ihrer Verständigung. Sie trugen im wahrsten Sinne des Wortes das gemeinsame Sprachspiel im Rucksack mit sich herum.

Doch das gemeinsam geteilte Sprachspiel ist nur eine notwendige, aber noch nicht eine hinreichende Bedingung für den Akt des Verstehens. Auf der Basis eines allen Beteiligten, Rednern und Hörern, gemeinsamen Symbolsystems allein könnte Verständigung nicht stattfinden. So konstituiert sich bestenfalls eine pathologische Form der Kommunikation, bei der jeder sich darauf beschränkt, dem jeweils anderen immer wieder das zu sagen, was dieser längst schon weiß. Ein ungebrochenes Symbolsystem zieht den Abstand zwischen Hörer und Sprecher ein. Am Ende können über ein ganz und gar gemeinsam geteiltes Symbolsystem nur solche Gesprächspartner verfügen, die sich restlos kennen. Sie müßten über die gleiche Zeitspanne hinweg, in der gleichen Reihenfolge und in der gleichen Intensität die gleichen Erfahrungen gemacht haben. Ein solches Theorem impliziert, daß beide Partner identisch, also Klone sind .

Noch ist es nicht soweit. Die Subjekte, die sich verständigen, die reden und Reden verstehen, Sprecher und Hörer sind unverwechselbare Individuen, einzigartig und unwiederholbar. Deshalb können ihre Symbolsysteme und die darin eingelassenen Weltdeutungen und Situationsdefinitionen auch nicht übereinstimmen. Sprecher und Hörer sehen die Welt jeweils anders, sie vertreten unterschiedliche Ansichten und bringen sie auf verschiedene, ihnen jeweils eigentümliche Weise zum Ausdruck. Deshalb sind sie aber nicht schon völlig unabhängig voneinander, selbständige, nur auf sich bezogene Monaden. Wären Sprecher und Hörer sich einander derart fremd, dann könnte eine Verständigung zwischen ihnen erst gar nicht beginnen. Gefangen in voneinander abgeschlossenen, inkommensurablen Symbolsystemen würden sich die einander völlig Fremden wohl nicht einmal wechselseitig wahrnehmen.

Ein privates, nur von einem allein handhabbares, ganz auf seine Individualität zugeschnittenes Symbolsystem ist für das Verstehen sowenig brauchbar wie ein intersubjektiv restlos geteiltes. In beiden Fällen kommt kein Verständigungsprozeß zustande. Er zerfällt in eine beliebige Abfolge von ungehörten, monologischen Statements oder erstarrt, was etwa aufs gleiche hinausläuft, im Zwang des Rituals. Zum Verstehen der Rede eines anderen kommt es erst dann, wenn das verwendete System von Symbolen und Zeichen zugleich gemeinsam geteilt und nicht geteilt wird. Gemeinsamkeit und Verschiedenheit sind beide in gleicher Weise Bedingung der Möglichkeit des Verstehens. Keines der Momente darf zum alleinigen Apriori gemacht werden. Ohne Gemeinsamkeit im Symbolsystem ist Verständigung nicht möglich, ohne Verschiedenheit nicht nötig. Deshalb ist "alles Verstehen", wie HUMBOLDT sagt, "immer zugleich ein Nichtverstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandertreten" (Gesammelte Schriften IV, S. 64 f.).


Das Subjekt der Rede oder: wer spricht?
Der aus allgemeinen und individuellen, gemeinsam geteilten und privaten Bedeutungen bestehende Sprachspiel ist Voraussetzung für jeden Verstehensvorgang. Aber es ist auch sein Resultat. Das System der Zeichen und Symbole, auf das wir bei jedem Verständigungsvorgang zurückgreifen müssen, geht aus dieser Verständigung auch erst hervor. "Die Sprache wird", wie SCHLEIERMACHER notierte, erst "durch das Reden" (SCHLEIERMACHER 1977, S. 78). Sie ist das Produkt der Äußerungen, die sie ermöglicht. Am einfachsten läßt sich das demonstrieren am Beispiel der Poesie. Die sprachschöpferische Kraft einer poetischen Äußerung zeigt sich in der Neutralisierung der tradierten Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks und seiner Wiederverwendung auf ganz neue und ungewohnte Art. Dadurch bereichert und erweitert die poetische Rede das vorhandene Sprachrepertoire, den "Sprachschatz" (SCHLEIERMACHER 1977, S. 95). Es gibt dann "auch im Ganzen [...] in der Sprache Veränderungen des Gebrauchs derselben" (SCHLEIERMACHER zit. nach M. FRANK 1977, S. 188).

Das Subjekt dieser Veränderungen in der Sprache, also das, was spricht, ist neuerdings Gegenstand verwirrender Debatten geworden. Für die Initiatoren dieser Debatten aus dem Umkreis der französischen Neustrukturalisten ist, wie für HEIDEGGER, auf den sie sich gern berufen, die Sprache selbst der tätige Grund der produktiven Rede. Sie erheben, ohne daß sie es allerdings eingestehen, die Sprache zum eigentlichen Subjekt und schaffen sich dadurch die Möglichkeit, im gleichen Atemzuge das alte reflexive Ich, das DESCARTESsche Cogito, zu einem, wie LACAN es getan hat, "nachträglichen Effekt der Signifikantenkette" zu erklären. Doch die vollständige Substitution des Subjekts durch die Sprache verdankt sich einer kategorialen Verwechslung. Denn das, was die Ordnung der Rede stiftet, die tätige Instanz, die dafür sorgt, daß die Zeichen der Sprache in eine sinnvolle Reihe gestellt werden, kann nicht ein Element dieser Reihe oder gar die Reihe selbst sein. Das sinnstiftende Prinzip muß sich gegenüber dem sprachlichen Prinzipiatum in einer "exzentrischen Position" (vgl. PLESSNER 1928) befinden. Es kann, als Bedingung der Möglichkeit der Rede, dieser nicht zugehören. Oder einfach gesagt: die Sprache kann sich nicht selber sprechen. Was spricht, ist ein wie auch immer geartetes individuelles Subjekt. Aber dieses Subjekt ist nicht absolut. Seine sprachlichen Äußerungen sind keine creatio ex nihilo. Es kann nur reden im Rahmen der Möglichkeiten, die ihm die Sprache eröffnet. Das ist das Maß an Wahrheit an der neostrukturalistischen Entmachtung des Subjekts. Der Subjekt ist abhängig von der Sprache, die es spricht. Seine Gedanken und Vorstellungen, seine gesamte "Weltsicht" und damit auch es selbst sind sprachlich vorstrukturiert und keine autonomen Setzungen. Das ist trivial, aber folgenreich. Wenn das Subjekt derart vorstrukturiert ist von der Sprache, die es spricht, dann kann es als tätiges Prinzip nicht viel sein, "kaum mehr als ein Grenzwert, ein Minimales" (ADORNO 1973, S. 250), die "Falte", an der sich die Sprache gegen sich selber kehrt. Vielleicht ist dies gemeint, wenn SCHLEIERMACHER sagt, daß jeder einzelne "in (!) der Sprache mitarbeitet" (SCHLEIERMACHER 1977, S.167).


Zerlegung und Arrangement
Wenn der Sprecher in der Sprache, die er vorfindet, nur "mitarbeitet", dann kann, worauf wiederum SCHLEIERMACHER hinweist, "keine neuerfundene Form absolut neu" sein (SCHLEIERMACHER 1977, S.184). Auch der im Wortsinne poetisch Handelnde schafft keine völlig neuen Wörter, aber er zwingt den vorhandenen neue Bedeutungen ab, und zwar "durch die Art wie er diese ineinander flicht" (SCHLEIERMACHER 1977, S. 401), durch die "eigentümliche Combinationsweise" (SCHLEIERMACHER 1977, S. 48), denen er sie unterwirft.

Diesen Einblick SCHLElERMACHERs in das Geheimnis der bedeutungsstiftenden Tätigkeit der poetischen Rede hat unter den französischen Strukturalisten der Gegenwart vor allem ROLAND BARTHES nachvollzogen und vergrößert. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer "strukturalistischen Tätigkeit". Sie ist durchaus vergleichbar mit der eines Bastlers. Wie dieser, so nimmt auch der Sprecher "das Gegebene, zerlegt es, setzt es wieder zusammen; das ist scheinbar wenig [...]. Und doch ist dieses Wenige, von einem anderen Standpunkt aus gesehen, entscheidend" (BARTHES 1966, S.191). Durch Zerlegung und Arrangement werden die sprachlichen Zeichen aus ihrem bisherigen Kontext herausgenommen und in neue Kontexte verpflanzt. Bei dieser Transplantation verändert sich mit der Stellung der Zeichen zueinander auch ihre jeweilige Bedeutung: Die alte Bedeutung macht der neuen Platz. Der Bedeutungswechsel ist möglich, weil die sprachlichen Zeichen von Hause aus eine besondere Eigenschaft besitzen. Die meisten von ihnen sind nämlich für sich genommen als Teile des Lexikons semantisch unscharf (Polysemie). Sie können vieles bedeuten.

Beispiel: "Gang" - der Weg zum Bäcker
- der Korridor der Wohnung
- ein wichtiges Teil am Auto
- der Verlauf eines Geschehens
- die Phase eines Menüs
- eine Weise der Bewegung

Man wird Mühe haben, bei der Suche in einem Wörterbuch Worte ausfindig zu machen, die ausschließlich ein einziges Objekt oder einen einzigen Sachverhalt denotieren. Die überwiegende Anzahl der Lexeme hat keine bestimmte Bedeutung, sondern enthält lediglich bestimmte Bedeutungspotentiale. Durch die Herauslösung aus ihrem jeweiligen Kontext werden nun diese Bedeutungspotentiale der Wörter freigesetzt und neue Verwendungszusammenhänge sichtbar gemacht. Jetzt, im Augenblick des Übergangs von einem Kontext zum nächsten, an der ortlosen Grenze zwischen Zerlegung und Arrangement, kann der Bedeutungswechsel durchgeführt werden. Danach ist es wieder zu spät. Durch die Einfügung in einen neuen Kontext wird die ursprüngliche lexikalische Vieldeutigkeit wieder reduziert. Der Kontext übernimmt die Funktion eines semantischen Sperrgitters oder Filters, in dem er diejenigen Bedeutungsaspekte des Lexems absorbiert, die durch ihre gleichzeitige Aktualisierung an der betreffenden Stelle Anlaß zu Mißverständnissen geben könnten. Der Kontext hat derart eine vereindeutigende Wirkung (Monosemierung) auf das Lexem. Sobald das Lexem vertextet ist, bekommt es in bezug auf seinen neuen Textnachbarn selbst einen Kontextstatus. Von ihm geht nun seinerseits eine vereindeutigende, sinnstiftende Wirkung aus. In der Regel sind nämlich diese Nachbarn – betrachtet man sie jeweils für sich – ebenso polysemische Einheiten, die erst im Kontext mit anderen ihre spezifische Bedeutung erlangen. Man kann sagen, die Konstituenten eines Textes unterliegen semantisch einer wechselseitigen Determination. Sie bilden den Kontext füreinander.

Die Reorganisation von Kontexten, die Transformation von Sinn oder, was dasselbe ist, die "strukturalistische Tätigkeit", ist ein prinzipiell unendlicher Vorgang. Keine Kombinationsmöglichkeit ist von vornherein ausgeschlossen, und doch ist der Vorgang hier und jetzt nicht beliebig manipulierbar. Durch die Umsetzung in einen neuen Kontext wird nämlich die vorherige Bedeutung eines Zeichens nicht völlig ausgelöscht. Die Zerlegung seines Herkunftskontextes führt nicht zu seiner völligen Neutralisierung. So, wie die Materialien, die Abfälle und Bruchstücke, die der Bastler verwendet, immer an ihren letzten Verwendungszusammenhang erinnern, so auch die sprachlichen Zeichen und Zeichenkomplexe. Die Bedeutung, die sie in ihrem letzten Herkunftskontext und auch in allen früheren innehatten, ihr gesamtes Bedeutungspotential wird in den neuen Kontext mitgebracht und determiniert die Rolle, die sie dort spielen können. Die Kombinationsmöglichkeiten bleiben durch die besondere Geschichte der jeweiligen Zeichen, durch ihren bisherigen Gebrauch, durch all die Verknüpfungen und Anpassungen, die sie durchgemacht haben, begrenzt. Das läßt sich ganz gut am Beispiel der sogenannten "lexikalischen Solidarität" verdeutlichen. Mit diesem Begriff bezeichnet COSERIU (1967) die traditionell eingespielten und festgefahrenen Beziehungen zwischen zwei Bedeutungselementen, etwa zwischen "bellen" und "Hund", "wiehern" und "Pferd", "blühen" und "Blume" oder "fällen" und "Baum". Auf solche "lexikalische Solidaritäten" hat schon Walter PORZIG aufmerksam gemacht (PORZIG 1934). In der zweiten Auflage seines Buches "Das Wunder der Sprache" schreibt er: "Womit beißt man? Natürlich mit den Zähnen. Womit leckt man? Selbstverständlich mit der Zunge. Wer bellt? Der Hund. Was fällt man? Bäume. Was ist blond? Menschliches Haar." (PORZIG 1967, S. 120) PORZIG hat schon sehr genau gesehen, daß hier jeweils zwei lexikalische Einheiten eine relativ, von Fall zu Fall freilich unterschiedliche, feste Verbindung eingegangen sind und sich wechselseitig hervorrufen. Die Wahrscheinlichkeit ihres gemeinsamen Auftretens ist sehr hoch. Durch ihre "Solidarität" zueinander ist ihre Manövrierfähigkeit eingeschränkt. Das gilt selbstverständlich für alle sprachlichen Konventionen, ob sie nun aus zwei oder mehr Elementen zusammengesetzt sind. Auch rhetorische Figuren, Floskeln, Motivkomplexe, "semantische Plausibilität" (LINZ 1978, S. 6), literarische Topoi, grammatische Konstruktionsgewohnheiten, kurz: Stilmerkmale jeder Art determinieren, ohne daß sie deshalb schon den Status einer grammatischen Regel und Verpflichtung einnähmen, die Verwendung einzelner sprachlicher Elemente. Das Ausmaß, in dem solche sprachliche Konventionen infolge eines neuen Ausdrucksverlangens durchbrochen und die entstandenen Teile anders, aber sinnvoll wieder durch Hinzufügen, Auslassen, Umstellen, Ersetzen oder Wiederholen zusammengefügt werden, wird gewöhnlich als ein Kriterium für die Originalität einer "Rede" betrachtet.

Die Herkunft der sprachlichen Zeichen, ihre bisherige Verwendungsweise also, legt den Rahmen fest, innerhalb dessen sie nur zu neuen bedeutungsvollen Zusammenhängen verknüpft werden können. Jedes sprachliche Zeichen gehört, so gesehen, wie JAKOBSON im Anschluß an SAUSSURE ausgeführt hat, zugleich "zwei verschiedenen Systemanordnungen" an: der alten, aus der es stammt, und der neuen, in die es gestellt wird (JAKOBSON 1979, S. 121). Und das trifft nicht nur für die einzelnen Zeichen, die im Wörterbuch aufgelistet sind, zu, das trifft genauso auch für die größeren Zeichenkomplexe im Sprachrepertoire zu – für Redefiguren, Motive, Themenkreise, Metaphern. Sie lassen sich alle wie die Materialien des Bastlers nach zwei Seiten betrachten: Sie haben funktioniert in ihren alten Zusammenhängen und sie funktionieren wieder in ihren neuen. In Anlehnung an den linguistischen Sprachgebrauch möchte ich die erste Systemanordnung, den Herkunftsort eines Zeichens also, als den "paradigmatischen Kontext" und die zweite Systemanordnung, den Ort des aktuellen Auftritts als den "syntagmatischen Kontext" bezeichnen. Der "paradigmatische Kontext" enthält die Summe aller Kombinationen, die ein Zeichen im Verlaufe seiner Bedeutungsgeschichte je eingegangen ist. Es verleiht dem Zeichen seine herkömmliche und anerkannte Bedeutung und sichert ihm derart seinen Platz im kulturellen Inventar. Der "syntagmatische Kontext" dagegen besteht aus den aktuellen Beziehungen, die ein Zeichen eingeht, wenn es hier und jetzt mit einem oder mehreren anderen Zeichen in einer Reihe gemeinsam auftritt. Der "syntagmatische Kontext" verleiht dem Zeichen eine mehr oder weniger neue, bisher unbekannte Bedeutung oder Bedeutungsnuance und sichert ihm derart seine Rolle als Moment der Innovation.

Die Unterscheidung zwischen dem paradigmatischen und dem syntagmatischen Kontext eines Zeichens ist bei SCHLEIERMACHER schon vorgebildet. In "Hermeneutik und Kritik" (SCHLEIERMACHER 1977) ist diese Unterscheidung, wie Manfred FRANK bemerkt hat (FRANK 1980, S. 26), längst vor SAUSSURE und den strukturalistischen Nachfolgern vorhanden und mit großem Scharfsinn durchgeführt. So wie der paradigmatische Kontext, das "allgemeine Sprachgebiet" (SCHLEIERMACHER 1977, S. 137), den "Sprachwert" (S. 135) eines Wortes festlegt, so bestimmt der syntagmatische Kontext, die unmittelbare"Umgebung" (S. 134), seinen "Lokalwert" (S. 135). Beide "Werte" und Kontexte bedingen einander. Der neue, der syntagmatische Kontext geht aus dem alten, dem paradigmatischen Kontext hervor. Die "strukturalistische Tätigkeit" oder, was dasselbe ist, die produktive Tätigkeit des Sprechers, transformiert durch Zerlegung und Arrangement den einen in den anderen.


Die Sinnstruktur – der Zusammenhang der Momente
Was derart durch Zerlegung und Arrangement von Wörtern und Wortverbindungen in jeder "poetischen" Rede entsteht, ist ein neuer Text, ein neues "sinnhaltiges Dokument", in dem jedes Moment seine Bedeutung gewinnt durch den Zusammenhang, in dem es steht. Wie dieser Zusammenhang des Verschiedenen als ein notwendig innerer und nicht nur zufällig äußerer Zusammenhang gedacht werden kann, weiß ich auch nicht genau. Die Frage führt in begrifflich sehr unwegsames Gelände. Am wenigsten überzeugt mich eine Auffassung, die ich als Strukturrealismus bezeichnen möchte. Nach dieser Auffassung kann der Zusammenhang, die Struktur, gesondert von ihren Elementen betrachtet werden.

"Wenn wir von der Struktur eines Systems sprechen, sehen wir davon ab, aus welchen Elementen das System besteht, und fassen nur die Gesamtheit der zwischen ihnen bestehenden Relationen ins Auge." (KRÖBER 1962, S. 207)

Beides, die Elemente und die Struktur, gelten im Strukturrealismus als nur mechanisch aufeinander bezogen. Im Grunde ist für den Strukturrealismus die Struktur, auch wenn er es nicht eingesteht, nur ein weiteres Element, das zu den vorhandenen noch additiv hinzutritt. Die Struktur wird betrachtet als eine Art "Gitter", das nachträglich den Elementen auferlegt wird. Eine derart als "Gitter" selber zum Element verdinglichte Struktur aber kann den Zusammenhang der einzelnen Elemente nicht stiften. Der Zusammenhang kann nicht von außen herangetragen werden, er muß sich konstituieren durch die Elemente hindurch. Die Elemente sind dann allerdings keine Elemente mehr, sondern Momente, die ihre Existenz gewinnen erst durch die Relationen, die sie untereinander eingehen. Aber auch diese Relationen existieren nicht mehr "an sich", als eigene "Gesamtheit", sondern nur noch durch die unterschiedenen Momente, die sie aufeinander beziehen. Die einzelnen Momente und ihre Beziehungen konstituieren sich wechselseitig und bilden so ein System "notwendiger Beziehungen" (OPPITZ 1975), eine Sinnstruktur.

Diesen Begriff der Sinnstruktur hat, auch wenn er den Terminus selbst nicht gebraucht, SAUSSURE in dem berühmten Kapitel IV des zweiten Teils seines Hauptwerkes, des "Cours de linguistique generale", in dem – nach einem Urteil HJELMSLEVS – "wie im Brennpunkt einer Linse die Grundgedanken der analytischen Linguistik zusammengefaßt sind" (HJELMSLEV 1973, S. 258), entfaltet. SAUSSURE unterscheidet an jedem Wort zwischen der "Bedeutung", die sich aus der Beziehung des repräsentierenden Zeichens zu dem von ihm repräsentierten Gegenstand ergibt, und dem "Wert", der sich ergibt aus der Stellung des betreffenden Wortes im jeweiligen System der Zeichen.

"Einige Beispiele mögen zeigen, daß es so ist: das französische ,mouton' kann dieselbe Bedeutung haben wie das englische ,sheep', aber nicht denselben Wert, und das aus mancherlei Gründen, besonders deshalb, weil, wenn von einem Stück Fleisch die Rede ist, das zubereitet auf den Tisch gebracht wird, das englische ,mutton' und nicht ,sheep' sagt. Der Unterschied des Wertes zwischen ,sheep' und ,mouton' kommt daher, weil das erstere neben sich ein zweites Glied hat, was beim französischen Wort nicht der Fall ist." (SAUSSURE 1967, S. 138)

Wie der ,Wert' der Worte ,sheep' und ,mouton', so ist der ,Wert' jedes sprachlichen Elementes nach SAUSSURE bestimmt "durch das, was es umgibt" (SAUSSURE 1967, S. 138). Der Kontext erst verleiht den einzelnen Zeichen ihren – wie man statt ,Wert' auch sagen könnte – Sinn. SAUSSURE erkennt, daß diese sinnstiftende Rolle des Kontextes nur dadurch zustande kommt, daß die einzelnen Zeichen "nicht positiv durch ihren Inhalt, sondern negativ durch ihre Beziehung zu den anderen Gliedern des Systems bestimmt sind. Ihr bestimmtes Kennzeichen ist, daß sie etwas sind, was die anderen nicht sind" (SAUSSURE 1967, S. 139f.). Die Zeichen sind sinnvoll also nicht durch sich selbst, sondern durch ihre gegenseitige Ausschlußstellung, ihr "Nichtzusammenfallen" (SAUSSURE 1967, S. 141) mit den jeweils anderen.

"Bei den sprachlichen Zeichen, die aus Bezeichnetem und Bezeichnung bestehen, kommt es auf ihre gegenseitige Sonderung und Abgrenzung an. Nicht daß eines anders ist als das andere, ist wesentlich, sondern daß es neben allen anderen und ihnen gegenübersteht." (SAUSSURE 1967, S. 145)

Die These von der sinnstiftenden Funktion der differentiellen Beziehung zwischen den Zeichen hat lange vor SAUSSURE auch schon SCHLEIERMACHER vorgetragen. Möglicherweise hat SAUSSURE sie sogar mittelbar von SCHLEIERMACHER bezogen. Es ist "sehr wahrscheinlich", wie Manfred FRANK betont, daß er in Berlin bei dem SCHLElERMACHER-Schüler STEINTHAL Vorlesungen gehört hat (FRANK 1984, S. 14). SCHLEIERMACHER betrachtet jede "Rede", jedes sprachliche Sinngebilde als ein differentielles System, in dem jedes einzelne Zeichen seinen spezifischen Sinn, seinen "Lokalwert", erwirbt durch die Abgrenzung von allen anderen, auf die es in der Negation notwendig verweist. "Nur aus der Totalität aller Ausschließungen entsteht die Bestimmung" (SCHLEIERMACHER 1977, S. 116). Dadurch, daß jedes Zeichen nur in der Abgrenzung von allen anderen Zeichen Sinn gewinnt, ist es mit diesen untrennbar verbunden. Es bildet mit ihnen ein System. Die wechselseitige Gegenüberstellung der Zeichen ,erzeugt' ihren jeweiligen Sinn sowohl wie ihren Zusammenhang.

SCHLElERMACHERs Gedanken haben, vermittelt über SAUSSURE, weitreichende Folgen gehabt. Auf sie beziehen sich heute, ohne daß sie den wirklichen Urheber kennen, viele (nicht alle) der Autoren, die dem "Französischen Strukturalismus" zugerechnet werden. Wenn sie von Struktur sprechen, dann meinen sie einen Sinnzusammenhang, ein "Gefüge aus sich gegenseitig bedingenden Elementen, wobei jedes Element von den übrigen abhängt und durch seine Beziehung zu ihnen sein kann, was es ist" (FAGES 1974, S. 134). So behauptet GREIMAS ganz im Geiste, wenn auch nicht mit den Worten von SCHLEIERMACHER, "daß die Struktur der Existenzmodus der Bedeutung ist" (GREIMAS 1971, S. 22). Die "Struktur hat", wie LEVI-STRAUSS an einer Stelle pointiert sagt, "keinen von ihr unterschiedenen Inhalt: sie ist der Inhalt selbst" (LEVI-STRAUSS 1975, S. 135). In dieser Formulierung wird der Unterschied zum Strukturrealismus sehr deutlich. Struktur ist fur LEVI-STRAUSS kein "Gitter", sondern ein Sinnzusammenhang. Sie ist nicht in der Tiefe eines semiologischen Systems versteckt und liegt auch nicht an seiner Oberfläche. Die metaphorische Redeweise von der Tiefen- und Oberflächenstruktur, für die in der neueren Diskussion CHOMSKY verantwortlich gemacht werden muß und die auch LEVI-STRAUSS bisweilen gedankenlos übernimmt, scheint mir dem gemeinten Sachverhalt unangemessen. Die Struktur eines semiologischen Systems im allgemeinen und eines Textes im besonderen läßt sich weder "hinter" den Erscheinungen noch sonstwie mit räumlichen Metaphern im Innern, in der Tiefe oder an der Oberfläche lokalisieren. Sie existiert nicht getrennt von ihren verschiedenen Elementen oder gar selbständig ihnen gegenüber. Sie ist nichts weiter als der Zusammenhang dieser verschiedenen Elemente kraft ihrer Verschiedenheit.

"Eine Kombination von Elementen exponiert ihre Struktur, aber ohne, daß diese Struktur ein Hinten oder Innen hätte, ohne daß diese Struktur irgendwo anders zu suchen wäre als in der Totalität der Elemente, die sie kombiniert." (WAHL 1973, S. 404).

Die kleinste "Totalität" aus kombinierten Elementen, den einfachsten Fall einer "notwendigen Beziehung", eines "Sinnzusammenhanges" bildet die Opposition. Sie ist eine binäre Beziehung, bei der jedes Moment der Beziehung das andere, von dem es sich unterscheidet, als sein Gegenteil eindeutig und notwendig evoziert. LEVI-STRAUSS nennt dann auch die Opposition das "einfachste Beispiel eines Systems" (LEVI-STRAUSS 1973, S.188). Ihre beiden Momente werden als sinnvolle "erzeugt" durch ihren wechselseitigen Ausschluß und kraft dieses Ausschlusses auch miteinander verknüpft. Ohne ihren Gegensatz können die Momente sowenig existieren wie der Gegensatz ohne sie.

Wenn der Gegensatz wirklich das einfachste Beispiel ist einer bedeutungsvollen Struktur, eines Sinnzusammenhangs, dann müßte er sich nicht nur in den mündlichen und schriftlichen "Reden", den sprachlichen Texten und Äußerungen, sondern auch in anderen Sinngebilden, in nichtsprachlichen Dokumenten und kulturellen Erzeugnissen, in der Einrichtung eines pädagogischen Feldes, in der Zusammenstellung eines Baukastens, im Curriculum eines Aufbaukurses, in Kinderzeichnungen und Spielhandlungen als kleinster "Sinnkern", als "Elementarstrukturder Bedeutung" (GREIMAS 1972, S. 47ff.) nachweisen lassen. Am Ende würde die gesamte bedeutungsvolle Wirklichkeit als ein System solcher Gegensätze, als eine Einheit gegeneinander und auseinander tendierender Momente erscheinen. Jedes "Ding" darin wäre ein Zeichen. Es hätte seine Bedeutung nicht aus sich selbst, sondern erst durch das andere, auf das es verweist, indem es sich davon abgrenzt, durch seine "Differenzqualität" (WEINRICH 1976, S. 68). Es trüge, wie DERRIDA es formuliert, in sich die "Spur" aller anderen Dinge. "Jedes Element", schreibt er, "konstituiert sich ausgehend von der Spur der anderen Elemente der Kette oder des Systems in ihm." (Zit. nach WAHL 1973, S. 440) Durch diese Art der Verknüpfung erhielte die gesellschaftliche Wirklichkeit dann auch erst ihre konkrete Gestalt. Für sich genommen, isoliert von und reduziert aufeinander, blieben die Bestandteile der Realität ganz abstrakt und sinnlos. Konkret und "sinnhaltig" werden sie erst durch den differentiellen Kontext, in dem sie stehen. "Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also die Einheit des Mannigfaltigen." (Karl MARX, Grundrisse, S. 21)

Die Vertreter der strukturellen Analyse haben die gesellschaftliche oder kulturelle Wirklichkeit genauso, als ein dichtes Netz von "oppositionellen Einheiten", als ein System "differentieller Elemente" konzipiert und daraus auch reale forschungspraktische Konsequenzen gezogen. Noch die trivialsten Begebenheiten und Sachverhalte des Alltags haben sie, insbesondere die Ethnologen unter ihnen, nach dem Vorbild der Sprachwissenschaften versucht, als ein System von Gegensätzen, von "binären Oppositionen" darzustellen. Nicht ohne Erfolg, wie die Arbeiten von LEVI-STRAUSS (1967, 1973, 1976), BOURDIEU (1976), LEACH (1976), SAHLIN (1981) zeigen.


Das "individuelle Allgemeine"
Jedes einzelne Sinngebilde, jedes "sinnhaltige Dokument" der kulturellen Wirklichkeit, ob sprachlicher Text oder dinglicher Gegenstand, läßt sich, wenn es nur durch den produktiven Akt von Zerlegung und Arrangement zustande gekommen ist und nicht bloß eine Wiederholung oder Verdoppelung (Kopie) darstellt, als ein, wie SARTRE sagt, "universel singulier", als "individuelles Allgemeines" bezeichnen. Was dies heißt, hat SCHLEIERMACHER schon, wie Manfred FRANK nachweisen konnte (FRANK 1977), am Beispiel der Rede verdeutlicht. "Allgemein" ist jede Rede, insofern sie durch die bekannten Wörter und konventionellen Verknüpfungsformen, auf die sie notwendigerweise zurückgreifen muß, dem allgemeinen Diskurs einer bestimmten Epoche, einer bestimmten sozialen Klasse, einer bestimmten Institution oder, wie SCHLEIERMACHER sagen würde, einem bestimmten "Sprachkreis" zugehört (SCHLEIERMACHER 1942, S.13 ff.). Alles, woraus eine Rede besteht, die Zeichen und Regeln, die Motive und Themen, war schon vorher da, ist Bestandteil der jeweiligen "Tradition", "kulturelles Erbe", und kann auch von anderen benutzt werden. Durch die Gesamtheit ihrer Elemente ist jede Rede in eine "allgemeine" symbolische Ordnung integriert. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Diese "allgemeine" symbolische Ordnung wird von jeder Rede, der poetischen zumal, zugleich auch, und sei es noch so geringfügig, überschritten. Durch ihre "eigentümliche Kombinationsweise" weicht sie ab von der vorgefundenen und bekannten Ordnung und gewinnt so ihren unverwechselbaren "individuellen" Zug, ihren "individuellen Beisatz" (BOECKH 1966, S.83).

Diese Bestimmung der "Rede" und darüber hinaus auch jedes nichtsprachliche Sinngebildes als "individuelles Allgemeines" hat Konsequenzen für den "Akt des Verstehens". Für SCHLEIERMACHER ist er nur "die Umkehrung eines Aktes des Redens" (SCHLEIERMACHER 1977, S. 76) und muß deshalb wie dieser "kunstmäßig" (S. 75) betrieben werden. Nur "wo das Reden ohne Kunst ist, bedarf es zum Verstehen auch keiner" (S. 76). Wir sind damit wieder an den Anfang zurückgekehrt. Hermeneutik ist "die Kunst, die Rede eines anderen richtig zu verstehen" (S. 75). Worin nach allem bisher Gesagten diese Kunst bestehen muß, das soll im folgenden erläutert werden.


Grammatische und psychologische Auslegung
SCHLEIERMACHER unterscheidet nach der Art ihres Erkenntnisgegenstandes zwei Formen der Auslegung: die grammatische und die psychologische. Die grammatische Auslegung zielt auf den objektiven Gehalt der Rede. Sie versucht die Rede "besser zu verstehen als ihr Urheber" (SCHLEIERMACHER 1977, S. 94). Sie ist nicht interessiert an den Absichten und an dem Selbstverständnis des Autors. Was für die grammatische Auslegung zählt, ist der Sinn, der in einer Rede enthalten ist unabhängig davon, ob er und inwieweit er von dem sprechenden Subjekt selbst realisiert wird. Diese Form der Auslegung will nicht beim Zufälligen der bloßen Meinung, der individuellen Sicht eines Sprechers stehenbleiben und versucht deshalb seine "Rede zu verstehen als herausgenommen aus der Sprache" (S. 77). Sie verlangt vom Interpreten, daß er die Rede mit dem historisch bestimmten "Sprachgebiet", aus dem sie stammt, konfrontiert und in der Gegenüberstellung das Allgemeine und Individuelle an ihr erkennt. Der Interpret soll durch eine doppelte Vergleichsoperation herausfinden, welche Bedeutungen und Bedeutungskomplexe der vorgetragenen Rede in den Herkunftskontext, den "Sprachschatz" ihrer Epoche und Region gehören und welche ihn überschreiten. Im ersten Fall spricht SCHLEIERMACHER von der "objektiv geschichtlichen", im zweiten von der "objektiv divinatorischen" Rekonstruktion der Rede (S. 94). Für den mit der aktuellen hermeneutischen Diskussion vertrauten Betrachter erscheint in der Rückschau die "objektiv geschichtliche" Rekonstruktion wie ein Vorläufer der strukturalen Analyse. Wie diese, so soll auch jene in der individuellen Gestalt die objektive, d. h. intersubjektiv geteilte Struktur aufdecken, der die Rede und "das in ihr enthaltene Wissen" (S. 94) unterworfen ist. Das Verfahren der "objektiv geschichtlichen" Rekonstruktion sucht nach den epochalen oder lebensweltspezifischen Deutungsmustern, denen die Rede des anderen folgt. Es behandelt jedes einzelne sprachliche Sinngebilde als Ausdruck seiner historischen und gesellschaftlichen Situation. Die strukturanalytischen Verfahren der Gegenwart tun nichts anderes. Nur die Reichweite ist größer. Sie suchen den objektiven" Gehalt nicht mehr allein in der Rede eines anderen, sondern in allen Erzeugnissen der Kultur: im Grundriß eines algerischen Hauses (BOURDIEU 1976), in der Einrichtung eines Kindergartens (PARMENTIER 1979), in Kleidungsstücken (BARTHES 1985), in einer Speisekarte (LEVI-STRAUSS 1969) oder in einem Flipperautomaten (OPPITZ 1974). OEVERMANN (1976, 1986) bemüht sich sogar unter Berufung auf die "Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit", die "objektive Sinnstruktur" in der "sozialisatorischen Interaktion" der zeitgenössischen Kleinfamilie aufzudecken.

Doch alle diese neueren Verfahren vernachlässigen in Theorie und Praxis das, was SCHLEIERMACHER im Unterschied zum "objektiv geschichtlichen" das "objektiv divinatorische" "Nachkonstruieren der gegebenen Rede" (SCHLEIERMACHER 1977, S. 93) nennt. Dieser Aspekt der "grammatischen Auslegung" hat es zu tun mit der "eigentümlichen Kombinationsweise", durch die "die Rede selbst ein Entwicklungspunkt für die Sprache werden wird" (S. 94). Das "objektiv divinatorische" Nachkonstruieren soll den Interpreten die sprachschöpferische Neuerung der Rede "ahnden" (S. 94) lassen. Voraussetzung dafür ist wieder der Vergleich zwischen der gegebenen Rede und dem gesamten "Sprachkreis", dem sie zugehört. Doch dieser Vergleich, der das Neue am Bekannten mißt, reicht jetzt allein nicht mehr aus. Das Produkt eines "schöpferischen Aktes" (S. 325) kann nicht mit den Mitteln des Repertoires verstanden werden, dessen Bannkreis es gerade, und sei es noch so minimal, überschritten hat. SCHLEIERMACHER spricht dann auch von der "Unübertragbarkeit" (S. 361) der sprachlichen Innovation im Augenblick ihres Auftritts. Das Individuelle, das schlechthin Unvergleichliche und Unwiederholbare an einer Rede muß solange unverständlich bleiben, wie es keinem anderen gelingt, den "schöpferischen Akt", dem die Rede sich verdankt, selbsttätig nachzuvollziehen. Für dieses Nachvollziehen lassen sich aber keine methodischen Regeln, keine "discovery procedures" angeben. Von der alten zu der neuen Konstellation führt kein Kontinuum. Der Interpret muß trotz der Anstrengung, die ihm die "Methode der Komparation" abverlangt, am Ende Glück haben. Das nannte SCHLEIERMACHER Divination. Sie ist kein Sonderfall der Auslegung, sondern ihr unverzichtbarer Teil. Jedes individuelle Sinnverstehen verlangt Divination. Wie alltäglich dieser Vorgang ist, zeigt sich, "wenn Kinder anfangen, Gesprochenes zu verstehen" (S. 326). Sie müssen im Wortsinne "ursprünglich" verstehen, denn "sie haben die Sprache noch nicht, sondern suchen sie erst" (S. 326). Die entscheidende Frage ist deshalb, "wie fixieren sie das erste?" (S. 326). D. h. wie vollziehen sie den Sprung aus dem reinen Sprechvermögen zum verständnisvollen Sprachgebrauch? Die Frage wird sich schwerlich anders beantworten lassen als durch Anerkennung "derselben divinatorischen Kühnheit" (S. 327), die auch unser Sinnverstehen jenseits der Schwelle der Kindheit ermöglicht.

Das "objektiv divinatorische" und das "objektiv geschichtliche" Nachkonstruieren einer gegebenen Rede gehören zusammen. Beide bilden die "grammatische Auslegung". Davon unterscheidet SCHLEIERMACHER die "psychologische Auslegung". Sie soll helfen, die Rede des anderen nicht "besser", sondern "ebensogut" (S. 94) zu verstehen wie dieser selbst. Bei der "grammatischen Auslegung" betrachtet der Interpret "den einzelnen Menschen nur als Ort für die Sprache und seine Rede nur als das, worin sich diese offenbart" (S. 79). An dem, was der Redner subjektiv meint, seinen Gedanken, ist der Interpret dagegen überhaupt nicht interessiert. Bei der "psychologischen Auslegung" ist es genau umgekehrt. Hier kommt für den Interpreten alles darauf an, gerade "die Gedanken des anderen vollkommen zu verstehen" (S. 213). Die Sprache erscheint hier nur als ein "Mittel, wodurch der einzelne Mensch seine Gedanken mitteilt" (S. 79). Der Gegenstand der "psychologischen Auslegung" ist nicht der objektive Sinngehalt der Rede, sondern "das, wovon der Verfasser zur Mitteilung in Bewegung gesetzt wird" (S. 167), seine Gedanken, seine Absichten und Motive.

Die einfachste Methode, um herauszufinden, was ein anderer ,subjektiv meint', ist die Befragung. Sie kann sowohl als Untersuchungsmethode wie auch als Überprüfungsverfahren, als Frage und als Nachfrage verwendet werden. Doch was derart durch Befragung ermittelt werden kann, reicht meist nicht weit. In der Regel erschöpfen sich die Absichten und Motive der Sprecher nicht in dem, was sie davon wissen und entweder selbständig oder auf Befragung einfach anzugeben in der Lage sind. Das, was den Sprecher subjektiv wirklich treibt und bewegt, wird von ihm im Normalfall keineswegs realisiert. Seine Absichten sind immer zum großen Teil auch unbewußt. Was der Interpret verstehen muß, ist also nicht nur die realisierte, die "erklärte" oder die verschwiegene Absicht, sondern auch die nicht realisierte, die aus dem Bewußtsein verbannte oder noch nicht in es eingetretene. Dieser Aufgabe widmet sich seit ihren Anfängen die Psychoanalyse.


Die Rhetorik des Unbewußten
Die Psychoanalyse stellt wohl das wichtigste Instrument dar, um in den Bereich der unbewußten Absichten eines Redners vorzudringen. Insbesondere in der semiologischen Version, die LACAN vorgetragen hat, erscheint die Psychoanalyse als ein geeignetes hermeneutisches Verfahren, die "Rhetorik des Unbewußten" zu entziffern (zum folgenden vgl. LANG 1986). Fur LACAN ist das Unbewußte kein Reservoir von wilden, archaischen und irrationalen Triebenergien, die, wie das vulgarisierte Hydraulik-Modell der FREUDschen Lehre wahrhaben will, auf "Abfuhr" drängen, sondern "gleich einer Sprache gebaut". Die unbewußten Absichten, die im psychoanalytischen Gespräch zur Sprache kommen, sollen selbst die Form einer Sprache haben. Und das ist auch einleuchtend. Nur wenn das Unbewußte seinerseits sprachlich strukturiert ist, kann es im Gespräch erreicht werden. Und die Psychoanalyse ist nichts anderes als ein Gespräch. FREUD hat allem objektivistischen Szientismus zum Trotz zeitlebens an dieser Definition festgehalten. "Der Analytiker verwendet weder Instrumente, nicht einmal zur Untersuchung, noch verschreibt er Medikamente . . . Der Analytiker bestellt den Patienten zu einer bestimmten Stunde des Tages, läßt ihn reden, hört ihn an, spricht dann zu ihm und läßt ihn zuhören." (FREUD, GW XIV, S. 213f.) Wenn auf diese Weise, durch "bloße Worte" also, krankhafte Störungen des Leibes und der Seele beseitigt werden sollen, dann müssen diese Störungen, wie LORENZER es in seiner bedeutenden metatheoretischen Arbeit nennt, "Sprachstörungen" sein (LORENZER 1970). Doch während LORENZER diese "Sprachstörungen" zurückführt auf die "Desymbolisierung" von Bedeutungsgehalten, ihre Verbannung aus der symbolischen Kommunikation in das "sprachliche Jenseits" (LORENZER 1970, S. 70) des Unbewußten, begreift LACAN diese Störungen als Störungen innerhalb der symbolischen Ordnung selbst. Das Unbewußte steht für LACAN, der sein Konzept als eine "Rückkehr zu FREUD" versteht, nicht "außerhalb der symbolischen Kommunikation" (LORENZER 1970, S. 70), es "spricht", nur spricht es entstellt: in den Bilderrätseln des Traumes, den neurotischen Symptomen und auch in den Fehlleistungen des Alltags.

Schon wenn einer, ohne es zu wollen, "aufstoßen" statt "anstoßen" sagt, oder "da sind Dinge zum Vorschwein gekommen", dann ist das kein Zufall, sondern die Rede des Unbewußten. Es scheint, daß "es seelische Dinge im Menschen gibt, die er weiß, ohne zu wissen, daß er sie weiß" (FREUD, GW Xl, S. 99). Sie melden sich zu Wort in Form von Versprechern, von Druckfehlern, "black outs" und durchbrechen so, wie Botschaften aus einer anderen Welt, den vernunftkontrollierten Diskurs des Alltags. Besonders vergnügliche Beispiele für die Störungen, mit denen sich die Rede des Unbewußten im alltäglichen Gespräch bemerkbar macht, hat FREUD in seiner Studie "Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten" gesammelt (GW Vl). Da ist etwa die Gestalt des Lotteriekollekteurs Hirsch-Hyazinth, den HEINE in seinen Reisebildern vorstellt, jener Hühneraugenoperateur also, der sich dem Dichter gegenüber seiner guten Beziehungen zum reichen Baron Rothschild rühmt und sich schließlich zu diesen Worten versteigt: "Und so wahr mir Gott alles Gute geben soll, Herr Doktor, ich saß neben Salomon Rothschild und er behandelte mich ganz wie seinesgleichen, ganz famillionär." (GW Vl, S. 14) Die ganze Ordnung einer Rede, die allein die "familiären" Beziehungen zu Rothschild hervorheben wollte, wird augenblicklich zunichte. Der schöne Schein zerbricht an einem witzigen Versprecher, der die "wahre", d. h. unbewußte Absicht der Rede offenbart. Eine verborgene "chaine signifiante" (Signifikantenkette), die von etwas anderem als dem offiziell Thematisierten spricht, dringt in den "discours intentionnel" (bewußte Rede) ein und erzeugt durch die geglückte Verknüpfung von "familiär" und "Millionär" eine Metapher, die den zunächst gemeinten Bedeutungsgehalt des Satzes radikal verändert. Die Intentionen des Bewußtseins werden durch die "Rhetorik des Unbewußten" bloßgestellt. Die Rede sagt mehr, als sie sagen sollte. Das Unbewußte spricht gerade da, wo man es am wenigsten erwartet. Das sind dann die "besten Stellen". Wenn es gelingt, sie zu verstehen, wird auf einmal, wie LACAN sagt, "klar, daß jede Fehlleistung eine gelungene, ja sogar hübsch formulierte Rede darstellt" (LACAN, zit. nach LANG 1986, S. 125).

Wie es möglich ist, über vereinzelte, mehr oder weniger witzige Fehlleistungen hinaus die Rede des Unbewußten zuverlässig zu verstehen, hat Sigmund FREUD am ausführlichsten in seiner "Traumdeutung", der "via regis zur Kenntnis des Unbewußten im Seelenleben" (GW ll/lll, S. 613) erläutert. Im Zentrum seiner Überlegungen steht dort die Unterscheidung zwischen manifestem Trauminhalt und latentem Traumgedanken. Mit dem Trauminhalt ist die Traumerzählung gemeint, die der Patient vorträgt. Die Traumgedanken dagegen sind das in der Traumerzählung Verborgene, die durch Zensur entstellten unbewußten Absichten oder Wünsche des Träumers. Beide, Trauminhalt und Traumgedanken, sind sprachlich strukturiert und enthalten dasselbe. "Traumgedanken und Trauminhalt liegen vor uns wie zwei Darstellungen desselben Inhalts in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint nur als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise." (GW ll/lll, S. 613) FREUD hat diese Übertragung – manchmal spricht er auch von "Übersetzung" – "Traumarbeit" genannt. Sie transformiert durch die Technik der "Verschiebung" und "Verdichtung" und unter der "Rücksicht auf Darstellbarkeit" den latenten Traumgedanken in den manifesten Trauminhalt. Das Ergebnis ist ein "Bilderrätsel", ein Rebus. FREUD warnt ausdrücklich davor, die Bildzeichen des Traumes nach ihrem Bildwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen zu wollen. Das richtige Verständnis des Bilderrätsels, das der Traum ist, ergibt sich erst dann, wenn man sich bemüht, "jedes Bild durch eine Silbe oder ein Wort zu ersetzen, das nach irgendwelcher Beziehung durch das Bild darstellbar ist. Die Worte, die sich so zusammenfinden, sind nicht mehr sinnlos, sondern können den schönsten und sinnreichsten Dichterspruch ergeben." (GW ll/lll, S. 283) Um diesen sinnreichen Spruch, den "latenten Traumgedanken" zu finden, braucht man nur seine Transformation in den manifesten Trauminhalt, die Einwirkung der Zensur, wieder rückgängig zu machen. Wie bei SCHLEIERMACHER der "Akt des Verstehens die Umkehr eines Aktes des Redens ist" (SCHLEIERMACHER 1977, S. 76), so ist bei FREUD die "Traumdeutung" die Umkehrung der "Traumarbeit".


Die Kunst des Verstehens
Das Verständnis eines Sinngebildes wird dem Interpreten nicht geschenkt. Gleichgültig ob er den "objektiven Gehalt", das "lndividuelle-Allgemeine" einer Rede (grammatische Auslegung) oder die bewußten und unbewußten Absichten des Autors (psychologische Auslegung) verstehen will, er kann sich bei dieser Operation, wenn sie Erfolg haben soll, weder auf die Eingebung des Heiligen Geistes noch auf sein vermeintlich untrügliches Einfühlungsvermögen, seine Intuition verlassen. Gerade dem Mythos des "intuitiven Verstehens", das insbesondere den Unschuldigen und Einfältigen zuteil werden soll und gern mit der Metapher vom "Hineinversetzen in den anderen" umschrieben wird, kann gar nicht nachdrücklich genug widersprochen werden. Es gibt kein unmittelbares Verstehen. Noch der unscheinbarste "verstehende Blick" ist symbolisch vermittelt und verlangt die Arbeit der Interpretation. Wie diese Arbeit voranschreitet, läßt sich vorweg nicht sagen. Ihr stehen weder fertige Instrumente noch sichere Techniken zur Verfügung. Die Operation des Verstehens hat mit den subsumtionslogischen Prozeduren der empirischen Sozialforschung, die glaubt, eine gehaltvolle Bestimmung ihres Gegenstandes dadurch erreichen zu können, daß sie ihn einem von außen herangetragenen Klassifikations- und Variablensystem unterwirft, nichts zu tun. Die Operation des Verstehens läßt sich nicht als eine fertige und äußerliche Methode von der Sache trennen. Sie kann nicht mechanisiert werden. Sie ist, wie SCHLEIERMACHER sagt, eine "Kunst".

"Das volle Geschäft der Hermeneutik ist als Kunstwerk zu betrachten, aber nicht, als ob die Ausführung in einem Kunstwerk endigte, sondern so, daß die Tätigkeit nur den Charakter der Kunst an sich trägt, weil mit den Regeln nicht auch die Anwendung gegeben ist, d. i. nicht mechanisiert werden kann." (SCHLEIERMACHER 1977, s. 81)

Der Interpret kann auf keine methodischen Patentrezepte zurückgreifen. Er muß verfahren wie ein Künstler, nämlich experimentell. Im Experiment werden die vorgefundenen Elemente, geleitet von der phantasievollen Produktion immer neuer alternativer Ordnungsvorschläge (Hypothesen), solange hin und her gruppiert, bis ihre verborgene Konfiguration zutage tritt und jedes Element seine Beliebigkeit verliert durch den Stellenwert, den es im Gefüge erhält. Der gesuchte Sinnzusammenhang erschließt sich nach und nach. Zu Beginn kann das Material noch vieles bedeuten, gegen Ende vieles nicht mehr. Womit die Interpretation beginnt, ist eigentlich gleichgültig. Der empirische Ausgangspunkt der Sinnanalyse bleibt unvermeidlich dem Zufall überlassen, denn der Zusammenhang, der eine systematische Begründung für die Wahl des ersten Schrittes liefern könnte, ist ja gerade noch unbekannt. Die Interpretation setzt ein mit einem Verdacht. Sie kann nicht einmal sicher sein, ob es den Zusammenhang, den sie sucht, überhaupt gibt. Sie beginnt einfach irgendwo, meist beim nächstbesten, und tastet sich dann nach dem Prinzip "trial and error" langsam vorwärts oder auch rückwärts. Die Suchbewegungen sind am Anfang noch blind. Sie gehen gewissermaßen ins Blaue. Sie probieren Beziehungen aus und verwerfen sie wieder, sie stellen Verbindungen her und lösen sie wieder auf. Das geht so lange, bis endlich ein Halt gefunden ist. Von da an verschwindet, wenn alles gut geht, allmählich die Ungewißheit. Jede gefundene Verbindung wird zur Basislinie für neue Vorstöße in alle Richtungen. Mit der Vergrößerung des Feldes, das die Analyse ergreift, gewinnt der Ausgangspunkt an Stabilität. "In dem Maße also, wie der Nebel sich ausdehnt, verdichtet und organisiert sich der Kern." (LEVI-STRAUSS 1976, S. 13) Der gesuchte Zusammenhang wird immer deutlicher und prägnanter. Lose Fäden werden geknüpft, Lücken geschlossen, etwas wie eine Ordnung scheint hinter dem Chaos auf. Es zeigt sich ein Netz von vielfältigen Beziehungen, das sich dauernd festigt, erweitert und modifiziert. Je weiter die Interpretationsarbeit fortschreitet, desto deutlicher wird der Sinn jedes einzelnen Zeichenelementes. Es bekommt einen "Stellenwert" im differentiellen Zusammenhang der "Gegensätze und Wechselbeziehungen, der Ausschließungen und Einschließungen, der Vereinbarkeiten und Unvereinbarkeiten" (LEVI-STRAUSS 1968, S. 117/18).


Gütekriterien
Der gefundene Zusammenhang und die definierte Position der Elemente darin ist immer nur vorläufig. Für die Interpretationsarbeit, die Tätigkeit des Verstehens gibt es keinen wirklichen Abschluß, kein systematisch herbeigeführtes Ende. Mit jedem neu entdeckten Detail kann die ganze bisherige Konstruktion, das schöne Ergebnis mühseliger Vergleiche, wieder einstürzen. Die Interpretation ist deshalb prinzipiell nie abgeschlossen. Sie kann nur pragmatisch abgebrochen werden. Ein solcher Abbruch liegt nahe, wenn der Stand des Unternehmens erkennen läßt, daß keine weiteren Entdeckungen und Korrekturen zu erwarten sind und der gesuchte Zusammenhang eine Konsistenz gewonnen hat, die ausreicht, seine Existenz als Gegenstand außer Zweifel zu setzen und das Allgemeine und Individuelle an ihm überzeugend darzustellen.

Das "Kunstmäßige" an der Interpretation, ihr methodisch nicht vorgeschriebener Verlauf mindert nicht den wissenschaftlichen Wert des Verfahrens. KLAFKl unterschätzt die mögliche Objektivität der hermeneutischen Operation, wenn er glaubt, daß die von ihr "ermittelten Aussagen über Realität erst durch empirische Verfahren überprüft werden müssen, bevor sie als wissenschaftlich abgesichert, genauer: als vorläufig abgesichert gelten können" (KLAFKI 1971, S. 134). Mit dieser Auffassung ist er gar nicht mehr so weit entfernt von der der logischen Positivisten Otto NEURATH oder Rudolf CARNAP, die das Verstehen in den Vorhof der Wissenschaft verbannt haben und ihm nur eine heuristische Funktion zubilligen wollten. Für diese Wissenschaftstheoretiker gehören die hermeneutischen Operationen "Einfühlen, Verstehen und ähnliches" (NEURATH 1931, S. 56) in den Entdeckungs-, nicht aber in den Begründungszusammenhang der Forschung. Das läßt sich heute sicher nicht mehr halten. Das Verstehen ist nicht nur, pointiert gesagt, eine Art Spürhund für die Hypothesenbildung und auch nicht nur der Rettungsanker bei der Interpretation von empirischen Forschungsergebnissen. Es geht den empirischen Untersuchungen weder voraus noch folgt es ihnen nach. Das hermeneutische Verfahren, vor allem in Gestalt einer semiologischen Analyse, ist überhaupt keine "notwendige Ergänzung" (KLAFKI 1971, S. 126) empirischer Methoden, sondern wie die bisherigen Ausführungen vielleicht zeigen konnten, eine empirische Methode eigenen Rechts, vollständig und zuverlässig. OEVERMANN sieht in ihm mit guten Gründen sogar die Grundoperation wissenschaftlichen Vorgehens überhaupt, der gegenüber alle empirisch-analytischen Verfahren nur forschungspragmatische Abkürzungen darstellen, die für ihre quantitative Präzision den Preis der Dekontextuierung zahlen.

Die Güte der hermeneutischen Verfahrensweise hängt ab von dem Reichtum an Beziehungen, den sie zur Entfaltung bringt. Je größer die Anzahl der verschiedenen Momente und je stimmiger ihr Zusammenhang, desto gültiger das Ergebnis. Die Vielfalt des verarbeiteten Materials ist ein Kriterium für die Repräsentativität, die Stimmigkeit des Zusammenhangs, für die Validität der fertigen Interpretation. Die Entscheidung darüber freilich, was als repräsentativ und valide, was als "reichhaltig" und "stimmig" gelten soll, kann nur das Ergebnis sein einer diskursiven Verständigung. Je mehr Subjekte gleichberechtigt an dieser Verständigung beteiligt sind, desto langwieriger wird zwar der Entscheidungsprozeß, aber zugleich wächst dadurch auch die Objektivität des interpretativen Verfahrens. "Daher ist", wie OEVERMANN betont, "für die Objektivität des Verfahrens die Bearbeitung durch mehrere Interpreten ein wichtiger und methodischer Grundsatz" (OEVERMANN 1976, S. 391).


Das unaufhörliche Gleiten des Sinns
LORENZER (1970, S.128) hat im Anschluß an DEVEREUX die Arbeit des Interpreten verglichen mit der Tätigkeit des Puzzlespielers, der Schritt für Schritt eine sinnvolle Gestalt erzeugt, deren Teile in ihrer Leistung für das Ganze erst am Ende gewürdigt werden können, dann, wenn alle Bildfragmente zugleich erscheinen und vergleichbar sind. Andere glaubten in der interpretierenden Tätigkeit eine Variante kriminalistischer Spurensicherung wiedererkennen zu können und haben deshalb den Interpreten für einen verkappten Detektiv gehalten. Das ist nicht einmal ganz abwegig. Wie der Interpret mit seinem Text, so beschäftigt sich der Detektiv mit seinem "Fall". Er befragt ihn so lange, bis das Zusammenspiel der Indizien hervortritt und jede Äußerung, jedes Motiv, jedes Requisit und jede Handlung darin seinen Platz erhalten hat. Einen Anknüpfungspunkt findet der Detektiv wie der Interpret meist in einem auffälligen Detail, einer irgendwie gearteten Unregelmäßigkeit, die sich dem gradlinigen Verständnis in den Weg stellt und nach Aufklärung verlangt. Fast immer führt das auf die richtige Spur. Gerade die Umstände, die den Fall zu komplizieren drohen, die Widersprüche und Ungereimtheiten, erweisen sich am Ende für seine Auflösung als besonders förderlich. Der Detektiv muß, wie der Interpret, bereit sein, Umwege zu gehen.

"Sehr oft gibt es scheinbar bedeutungslose Nuancen, Wiederholungen, scheinbar weniger Wichtiges, weniger Interessantes und plötzlich, durch eine Inversion, wie bei einer optischen lllusion, enthüllt sich das scheinbar Zufällige als Element der Form und Schlüssel zur Bedeutung." (LEVI-STRAUSS 1980, S. 171)

Das hat schon Sherlock HOLMES gewußt. Er sammelte und sicherte mit einem untrüglichen Gespür auch noch die unscheinbarsten und abgelegensten Spuren und verknüpfte sie dann durch geduldigen Vergleich, durch messerscharfe Schlußfolgerungen und überraschende Einfälle zu dem gesuchten Zusammenhang des jeweiligen Falles. Seine Methode beruhte, wie er es einmal seinem Partner WATSON gegenüber ausdrückte, "auf der Berücksichtigung von Kleinigkeiten" (SEBEOK/UMIKER-SEBEOK 1982, S. 52). Aber die Metapher vom Puzzlespiel und auch das Bild vom spurensichernden Detektiv sind zur Veranschaulichung der Verstehensoperation nicht besonders geeignet, vor allem dann nicht, wenn man es genau nimmt. Sie legen das Mißverständnis nahe, daß es bei der Interpretation immer nur eine und deshalb auch endgültige Lösung gibt.

Im Prozeß der Interpretation wird Sinn aber nicht nur ermittelt, oder, wie RlCOEUR sagt, "wieder eingesammelt" (RICOEUR 1973, S. 81), sondern auch produziert. Das Entziffern von Sinnobjektivationen ist selbst nur als Sinnobjektivation denkbar. LEVI-STRAUSS hat deshalb die interpretierende Tätigkeit beschrieben als eine "intellektuelle Form der Bastelei" (LEVI-STRAUSS 1973, S. 29). Wie der Bastler, schafft auch der Interpret aus dem, was er vorfindet, aus gebrauchtem und schon einmal bearbeitetem – also sinnhaltigem – Material einen neuen Zusammenhang. Seine Tätigkeit ist nicht nur sinnverstehend, sondern auch sinnstiftend. Das gilt ebenso für das, was FOUCAULT "Archäologie" oder "archäologische Analyse" nennt. Bei ihm klingt das so:

"Sie (die archäologische Analyse) versucht nicht das zu wiederholen, was gesagt worden ist, indem sie es in seiner Identität erreicht. Sie behauptet nicht, sich selbst in der uneindeutigen Bescheidenheit einer Lektüre auszulöschen, die das ferne, prekäre, fast erloschene Licht des Ursprungs in seiner Reinheit wiedererkennen ließe. Sie ist nicht mehr und nicht weniger als eine erneute Schreibung: das heißt in der aufrecht erhaltenen Form der Äußerlichkeit eine regulierte Transformation dessen, was bereits geschrieben worden ist." (FOUCAULT 1973, S. 199/200)

Das Verstehen von Sinn ist immer auch Transformation von Sinn, "une operation de transcodage", wie es GREIMAS ausgedrückt hat (zit. nach GÜLICH/RAIBLE 1977, S. 163). Sie bewegt sich "von einem Sinn zu einem anderen Sinn" (RICOEUR 1974, S.18), von einem Gegensatz zum nächsten. Indem sie die alten Gegensätze aufdeckt, verbirgt sie die neuen, denen sie gehorcht. Im Grunde setzt die Interpretation eines Textes nur fort, was der Autor dieses Textes schon begonnen hat. Auch der Text, dem die Interpretation gilt, ist schon das Ergebnis einer Transformation. Sie weist zurück auf einen anderen, früheren Text, auf einen vertrauten oder fremden, dessen Eigenart verlorenging, als er in eine neue, der gegenwärtigen Situation angemessene "Lesart" übersetzt wurde, sei es, um ihn zu vergessen, sei es, um ihn sich anzueignen, stets jedoch, um ihn gewollt oder nicht gewollt zu verändern. Der transformatorische Charakter des Sinnverstehens hat LEVI-STRAUSS sogar dazu veranlaßt, seine wissenschaftliche Untersuchung indianischer Mythen selbst als einen Mythos zu bezeichnen, als eine Variante davon in einer Kette ohne Ende (LEVI-STRAUSS 1976, S.17). Für LEVI-STRAUSS gibt es keinen ersten Text, keine Urfassung, im Verständnis zu der alle anderen Kopien oder deformierte Echos wären. Alle Fassungen gehören zum Mythos (LEVI-STRAUSS 1969, S. 241). Genausowenig gibt es einen letzten Text, eine abschließende Version, eine endgültige Fassung, "da es sich um eine Realität in Bewegung handelt, eine Realität, die ständig den Angriffen einer sie zerrüttenden Vergangenheit und einer sie verändernden Zukunft ausgesetzt ist" (LEVI-STRAUSS 1976, S. 14). Jeder Text existiert nur als Moment im Prozeß seiner Transformationen. Bedeutungen stehen nicht still. Jede neue Textversion verändert den Bedeutungsgehalt ihrer Vorläufer und bestimmt damit indirekt auch wieder ihren eigenen und den ihrer möglichen Nachfolger. Und das gilt nicht nur für den einzelnen Redetext, sondern auch für den "texte generale", den allgemeinen Diskurs. Mit jeder sprachlichen Neuerung verschiebt sich das gesamte Repertoire des bis dahin Sag- und Deutbaren. So wie umgekehrt jede Veränderung im Gesamtrepertoire der Sprache den partikularen Sinn auch noch der unscheinbarsten vergangenen oder zukünftigen Äußerung tangiert. Deshalb ist der einzelne auch niemals vollständig Herr über das, was er sagt. Der Sinn seiner Äußerungen verändert sich – minimal wenigstens –, noch während er spricht. "Jeder Tag und jeder Sprecher verändert für alle die Bedeutungen, ja die anderen drehen sie mir im Munde um." (SARTRE 1967, S. 103) Die Bedeutungen entziehen sich einer genauen Festlegung. Sie entgleiten dem Sprecher fortwährend, weil sie nicht allein durch seine eigene Rede, sondern vielmehr noch durch den Diskurs der anderen bestimmt werden. "Auch in der Schrift" haben die Bedeutungen, wie schon HUMBOLDT wußte, "keine bleibende Stätte" (HUMBOLDT, Gesammelte Schriften V, S. 388). Sie lagern nicht irgendwo verborgen unter der textuellen Oberfläche und warten auch nicht darauf, durch eine zirkuläre oder spiralförmige Bewegung ans Tageslicht befördert zu werden. Die Rekonstruktion des sogenannten "ursprünglichen Wortsinns" ist streng genommen vergebliche Liebesmüh. Der "ursprüngliche Wortsinn" ist nicht mehr zugänglich. Denn man kann nicht "dasselbe noch einmal produciren" (BOECKH 1966, S.126). Die Bedeutungen befinden sich unter den Signifikanten, nach der Formel von LACAN, in einem "unaufhörlichen Gleiten" (LACAN 1975, S. 27). Dieses "Gleiten", die dauernden Verschiebungen und Transformationen in der symbolischen Ordnung, die Geschichtlichkeit der sprachlichen Bedeutungen, nicht erst die prinzipielle Unzulänglichkeit des interpretierenden Subjekts, sind dann auch der Grund dafür, daß das Nichtverstehen, wie SCHLEIERMACHER sagt, "sich niemals gänzlich auflösen will" (SCHLEIERMACHER 1977, S. 328) und das Verstehen, im Unterschied zum Puzzle und Kriminalfall, "eine unendliche Aufgabe" (zit. nach FRANK 1977, S. 154) wird.

Diese romantische Einsicht SCHLElERMACHERs haben der späte LEVI-STRAUSS und die Neostrukturalisten mit ihrem Verzicht auf die Abgeschlossenheit (clôture) der Bedeutungssysteme wieder erreicht. Die Folgen sind einigermaßen schwerwiegend. Unter der Bedingung beweglicher, unablässig gleitender und flottierender Bedeutungen ist jeder Konsens, auch wenn er nur von zwei Beteiligten getragen wird, nicht nur vorläufig, sondern auch illusionär. LACAN kennzeichnet ihn als einen "narcissme a deux" (zit. nach FRANK 1984, S.111). Vielleicht liegt hier ein Grund für die wuchernde Skepsis gegenüber einer Wissenschaft, die glaubt, auf dem Wege der Konsensbildung der "Wahrheit" oder den Sinnzusammenhängen, die sie sucht, "approximativ" teilhaftig werden zu können. Eine semiologische Erziehungswissenschaft hätte dieser Skepsis Rechnung zu tragen, nicht indem sie sich von der Rationalität verabschiedet, sondern indem sie sich über ihre eigenen Grenzen, die Grenzen der wissenschaftlichen Aufklärung, aufklärt.

Literatur
ADORNO, Th. W.: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Frankfurt 1972.

ADORNO, Th. W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt 1973.

BARTHES, R.: Die strukturalistische Tätigkeit, in: Kursbuch 5, Mai 1966, S. 190ff.

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