Dr. Werner Bormann: Funktion und Kultur des Esperanto
Herausgegeben vom Deutschen Esperanto-Institut
Fremdsprachen muß man können, wenn man mit Menschen aus anderen Völkern reden will. Nun bereitet es aber eine ungeheure Mühe, die Sprache auch nur eines einzigen Volkes zu erlernen. Deshalb ist nur recht wenigen Menschen das unmittelbare Gespräch mit Ausländern möglich. Weithin müssen Dolmetscher zwischengeschaltet werden. Viel besser wäre aber eine direkte sprachliche Verständigung. Es müßte die Möglichkeit erschlossen werden, sich einer leichten Fremdsprache zu bedienen, und mit ihr müßte man auch nicht nur an ein einzelnes Volk herankommen. Diese Aufgabe kann nicht von einer Nationalsprache bewältigt werden; sie zu lösen obliegt einer Internationalen Sprache. Die notwendigen Eigenschaften einer solchen Sprache lassen sich in fünf Anforderungen zusammenfassen.
- Der Aufwand an Zeit und Mühe für das Erlernen einer internationalen Verständigungssprache muß für sehr viele Menschen annehmbar sein. Eine hauptsächliche Schulfremdsprache können Abiturienten recht gut nutzen. Sie haben dafür allerdings auch in neun Jahren knapp 2000 Schulstunden Arbeit aufgewandt. Dazu waren jedoch nur etwas weniger als 20% der Schulabgänger bereit - die anderen haben schneller Berufe angestrebt und nicht so viel theoretisches Wissen ansammeln wollen. Ein nur sechs Jahre dauernder Fremdsprachenunterricht in der Realschule wie auch für die zweite Gymnasialfremdsprache zeigt recht mäßige Ergebnisse. Eine Fremdsprache für alle Bevölkerungskreise muß also leichter sein als das bisherige Angebot. Für eine internationale Sprache ist Leichtigkeit ein unverzichtbares Erfordernis.
- Eine allgemein angewandte Fremdsprache darf kein Behelf sein, mit dem man so eben einfache Informationen weiterreichen kann. Die breite Palette der menschlichen Äußerungen muß in allen Abstufungen verfügbar sein. Die internationale Verständigungssprache hat alle Ausdrücke für die Welt der Gefühle und für Fachgespräche vorzuhalten - über die Mondlandung oder ein gutes Essen; selbst Kinder auf dem Buddelplatz müssen ihren kleinen Streit über die Förmchen in ihr ausfechten können. Die internationale Sprache muß also Ausdrucksreichtum aufweisen.
- Zwischen den Erfordernissen leicht und reich besteht bei den an unseren Schulen gelehrten Fremdsprachen ein Zusammenhang; sie sind umgekehrt proportional. Wenn man eine Sprache nicht eingehend gelernt oder vom Gelernten schon eine Menge vergessen und diesen Verlust nicht wieder aufgefrischt hat, dann hat man es sich leicht gemacht. Was man dann an Fremdsprachenwissen besitzt, ist nicht die reiche Fülle an Ausdrücken, die es in der Wirklichkeit dieser Sprache gibt. Die meistgelernte Fremdsprache, Englisch, bietet schnell die Möglichkeit zu einfachen Gesprächen: "Please tell me the way to the station." Im Französischen oder Russischen muß man für "tell" die Konjugation und für "the way" (Akkusativobjekt) und "to the station" das grammatische Geschlecht und die Deklination kennen. Englisch ist also in einem Anfängerstadium verhältnismäßig leicht. Dieser einfache Sprachschatz darf ehrlicherweise nicht zu einer Sprachbeherrschung aufgewertet werden. So sprechen die meisten Deutschen, die angeben, Englisch zu können, eine holzschnittartig grobe Sprache: sie benutzen ein ausdrucksarmes Mittel, mit dem sie ungefähre Angaben weiterreichen. Eine internationale Sprache darf nicht Leicht aber arm und auch nicht Reich aber schwer sein. Sie muß vielmehr Leicht und reich sein.
- Die Last des Sprachenlernens muß weltweit gerecht verteilt werden. Ungerechte Lösungen sind nie dauerhaft. Die weltweite Verwendung einer Nationalsprache bedeutet für die Völker, deren Muttersprache sie ist, daß
- sie selbst keine Fremdsprache zu lernen brauchen,
- ihre eigenen, in ihrer Sprache steckenden Wertvorstellungen zu weltweiter Verbindlichkeit drängen würden,
- ihre Kulturgüter ohne Übersetzungsschranke exportierbar wären.
Dementsprechend ergibt sich daraus für alle anderen Völker eine Hintanstellung ihrer Kulturwerte. Eine solche ungleichmäßige Verteilung in den Beiträgen aller Völker zum Kulturreichtum der Welt führt bei den Benachteiligten zu geringeren Anstrengungen, ihre eigenen kulturellen Ausdrucksformen zu pflegen und vorzubringen. Das aber ist der Weg von einer Pluralität der Kulturen hin zu kultureller Eingleisigkeit. Die dominante Kultur setzt sich in der Abfolge der Kultur produzierenden und konsumierenden Generationen gegen die rezessiven Kulturen immer mehr durch. Unter einem starken Druck einer übermäßig geförderten Einzelkultur durch die breit gefächerte Verwendung ihrer Sprache sind die Entwicklungen schwächerer (deswegen aber nicht schlechterer!) Kulturen beschnitten. Eine internationale Sprache bietet den Kulturen aller Völker der Welt die gleiche - niedrige - Hürde zu weltweitem Einfluß. Wer den Kulturreichtum der Welt nicht veröden lassen will, sondern sich für ihn einsetzt, der muß sich bei der Lösung der Sprachenfrage neutral verhalten.
- Eine Sprache ist nicht eine Ansammlung von Wörtern, sondern eine Welt von Vorstellungen, die in Begriffe gefaßt werden müssen, um anderen mitgeteilt werden zu können. Oft entsprechen die Gegebenheiten bei verschiedenen Völkern einander nicht. "Zahn" ist wohl weltweit dasselbe, aber schon der Begriff "Haus" erweckt im Tschad oder in Japan andere Eindrücke als bei uns in Mitteleuropa. Wörter wie "Macht", "Liebe", "Frieden" sind nicht einfach übersetzbar. Solche Begriffe müssen aus dem Umfeld ihrer Sprache auf ihren eng umrissenen Sinn präzisiert werden, und dieser Sinngehalt muß dann in einer anderen Sprache mit den Wertnormen ihrer Gesellschaft wiedergegeben werden. Was als "Sprache" bezeichnet werden will, das muß ein eigenständiges System von Vorstellungen und Werten sein. Das trifft auch auf eine Sprache zu, die nicht zur Kategorie "Volkssprache" gehört, sondern die einmal geplant entwickelt worden war und also eine "Plansprache" ist - ein solches Produkt menschlichen Geistes wird erst dann eine wirkliche "Sprache", wenn es aus genügend langer Anwendung unter einer ausreichend großen Zahl von Benutzern zu einem Ausdrucksmittel mit eigenem kulturellen Umfeld und eigenen Wertvorstellungen herangereift ist. Nur das Esperanto hat den Sprung vom Schreibtisch eines Erfinders in die Praxis des Gebrauchs geschafft und hat sich in inzwischen rund 100 Jahren nicht nur als Sprache, sondern zum Träger einer Kultur entwickelt.
Alle diese Aussagen lassen sich mit einer Fülle von Beispielen belegen.
Leichtigkeit
Gesprochene und geschriebene Sprache
- Die Aussprache der Buchstaben und Buchstabenverbindungen ist im Esperanto eindeutig und einfach. Der Laut e hat eine Aussprache, offen wie in "wenden", und es gibt nicht rund 15 Abstufungen des e wie im Englischen, vom knappen ö bis zum breiten ä - auf deren genaue Unterscheidung es sogar meist noch ankommt. Neben dem offenen e in "wenden" wird auch das geschlossene e wie in "weben" gesprochen. Dies ist möglich, weil die Vokale nicht so streng an einen Klangwert gebunden sind wie die Konsonanten. Gerade dies macht das Aussprechen leicht, denn das Lernproblem ist eben eher ein Vokal wie a als ein Konsonant wie b. Die Menge der Selbstlaute wird nicht durch viele Spielarten eines Buchstabens über den Grundbestand von a, e, i, o, u hinaus vergrößert, sondern durch Diphtonge: ai, au... Es gibt keine sinngebenden Längenunterschiede wie: Schall/Schal oder: ihm/im, die gelernt werden müßten. Demgemäß gibt es auch keine Doppelbuchstaben: Appetit = apetito, Terrasse = teraso, Akkumulator = akumulatoro. Auch braucht man sich keine maßgebenden Tonhöhen einzelner Silben einzuprägen wie in vielen südostasiatischen Sprachen.
- Die Betonung bringt keinerlei Lernaufwand: den Ton trägt stets die vorletzte Silbe. Dieser Punkt wird bei Kursbeginn einmal kurz erwähnt, und dann gibt es einfach kein Problem mehr damit.
- Es herrscht Kleinschreibung, und große Anfangsbuchstaben werden nur für Eigennamen und Satzanfänge verwandt. Die vielen Seiten, die der "Duden" für Deutsche über die Großschreibung in ihrer Sprache bringt, entfallen. Dieser und die anderen Punkte zeigen auf, daß es keinerlei Notwendigkeit gibt, sich neben dem mit der Aussprache übereinstimmenden Buchstabenbild eines Wortes zusätzliche Einzelheiten über seine Schreibweise merken zu müssen.
- Weitere Elemente der Schreibweise: die Trennung und die Interpunktion, sind nicht starr festgelegt und deshalb Gegenstand mühevollen Lernens. Vielmehr erfolgt die Trennung nach Wortbestandteilen, die man ohnehin kennt, und nach Silben so, wie sie klingen. Die Zeichensetzung ergibt sich aus der Absicht des Sprachnutzers: will er eine Pause im Gedankenfluß aufzeigen, dann wird ein Komma gesetzt. Einen "Fehler" kann niemand machen, weil es - absichtlich - keine die Einzelheiten allgemein festlegenden Regeln gibt.
- Im Esperanto gilt das Prinzip "1 Laut = 1 Buchstabe", wobei für jeden Buchstaben ein genau festgesetzter Lautwert gesprochen wird. So ist der Buchstabe "s" immer der scharfe und der Buchstabe "z" immer der weiche Zischlaut. Dabei wird im Anklang an die Schreibweise in den großen Nationalsprachen manchmal ein Einzelbuchstabe für Lautkombinationen verwandt: c = ts; in diesem Zusammenhang steht die Verwendung von Buchstaben mit Überzeichen: ŝipo (schipo) = Schiff, ĵurnalo (wie im französischen journal mit Schluß-o) = Wochenzeitung, ĉarma (tscharma) = charmant. Der Laut am Beginn des Wortes "Schiff" wird im Deutschen sch, im Englischen sh, im Ungarischen s, im Polnischen sz geschrieben, jedesmal als Kombination einzelner Buchstaben, die für sich genommen auch einen Lautwert haben, z. B. im Englischen: see, he, she. Daß sich ganz eindeutig jeweils ein Buchstabe und ein Lautwert entsprechen, macht es möglich, schon ganz am Anfang des Esperanto-Unterrichts fehlerfrei Diktate zu schreiben. Man muß den Wortschatz des Esperanto deshalb nur ein Mal lernen und nicht wie im Englischen die doppelte Menge, nämlich das geschriebene Wort und gesondert dazu das gesprochene Wort.
- Für Deutsche mag es überflüssig sein festzuhalten, daß das lateinische Alphabet mit nur 22 Buchstaben verwandt wird (dazu die Buchstaben mit Überzeichen). Für eine Weltsprache ist diese Feststellung aber durchaus bedeutend. Viele Sprachen benutzen andere Alphabete mit oft wesentlich mehr Buchstaben, so daß die Begrenzung in der Zahl eine Vergünstigung ist und die Wahl des bekanntesten aller Alphabete, des Lateinischen, allen Völkern entgegenkommt.
Grammatik
- Das Regelwerk der Sprache umfaßt nur solche Bestimmungen, die zur Vergrößerung der Ausdrucksfähigkeit und zur Vielzahl der Nuancierungen beitragen. Hingegen finden sich keine Vorschriften ohne diesen Zweck, also Regeln ohne Nutzbarkeit für die Flexibilität der Sprache, die aber doch gelernt werden müssen, weil es sie nun einmal gibt. Solcher Lernballast ist abgeworfen.
Beispiele für Elemente, auf die das Esperanto bewußt verzichtet, sind folgende:
- Es gibt kein grammatisches Geschlecht. Niemand braucht zu lernen, daß Tisch und Stuhl "männlich", Tischdecke und Lampe "weiblich" sowie Sofa und Kissen "sächlich" sind. Esperanto gleicht in diesem Punkt dem Englischen, und deshalb kann niemand behaupten, Esperanto sei ausdrucksarm. Mit einer Sprache ohne grammatisches Geschlecht konnten Menschen auf den Mond kommen. Genauso sind Gefühlswerte ohne grammatisches Geschlecht voll ausdrückbar, denn Shakespeare hat in einer solchen Sprache der Menschheit unvergleichliche Aussagen geschenkt.
- Es gibt keine unregelmäßigen Formen. Wenn das Beugeschema festgelegt ist: gehe, gehst, geht, gehen, geht, gehen, dann richten sich auch andere Zeitwörter danach: lebe, lebst, lebt, leben, lebt, leben - und es kommt keine Ausnahme: sehe, siehst, sieht, sehen, seht, sehen. Unregelmäßigkeit macht ein Zeitwort nicht ausdrucksstärker. Sonst hätten deutsche Schriftsteller dies als Stilelement benutzt. Es ist nun aber nicht bedeutungsschwerer auszudrücken: "ich spreche zu dir" (sprechen, sprach, gesprochen = unregelmäßig) als: "ich sage dir" (sagen, sagte, gesagt = regelmäßig). Unregelmäßige Formen sind nichs anderes als historische Entwicklungen, die als Lernballast eine Sprache schwierig machen. Esperanto vermeidet solche Belastungen ohne Sinn.
- Es gibt keine Vielzahl an Konjugationen und Deklinationen. Weder muß man lernen, zur "wievielten" Konjugation ein Verb gehört (im Französischen die Muster: 1. Konjugation auf -er, 2. Konjugation auf -ir, 3. Konjugation auf -oir, 4. Konjugation auf -re, dazu die Hilfsverben und die unregelmäßigen Formen) und sich dann alle Endungen dieser Schemata einprägen. Noch muß man neun Deklinationen beherrschen wie im Russischen. Im Esperanto gibt es für das Verbum drei zeitausdrückende Endungen auf -as, -is und -os, eine Endung der Möglichkeitsform auf -us und die Kennbuchstaben -i und -u für Infinitiv und Imperativ, also 6 einzuprägende Kennzeichen, und die Partizipien. Für das Hauptwort gibt es nur ein Schema mit Nennform, Objektform und Mehrzahl. Damit steht dem Esperanto die volle Breite an Ausdrucksmitteln zur Verfügung, ohne schwierige und dennoch im Grunde funktionslose Lerneinheiten.
- Es gibt keine festgelegten Ausdrucksformen für Zeitaussagen. Nicht die Grammatik legt den Unterschied zwischen "I was in France" und "I have been in France" fest, und es wird nicht aus dem Geflecht von Haupt- und Nebensätzen entschieden, ob es "I come" oder "I am coming" oder wie auch immer heißen muß. Vielmehr entscheidet der Sprachanwender aufgrund seiner Absichten über die "richtige" Zeitaussage, so daß im Esperanto die Regeln über die zu verwendenden Zeiten aus wenigen Sätzen bestehen.
- Nach den Verhältniswörtern kommt stets das Hauptwort in seiner Grundform auf Schlußvokal -o. Es ist keine Ausnahme von dieser Regel - so etwas kennt das Esperanto nicht! -, wenn es die Ausdrucksweisen "en la domo" und "en la domon" gibt, denn die Form auf den Schlußbuchstaben -n zeigt nur die Richtung an. "Wegen des schönen Wetters" oder "jenseits des Flusses" macht im Deutschen den Genitiv erforderlich, im Esperanto hingegen heißen die Beispielssätze: pro la bela vetero, trans la rivero. "Mit dem Fernsprechapparat" und "nach der nächsten Straßenkreuzung" sind im Deutschen Anwendungsfälle des Dativs; die Beispiele lauten im Esperanto: kun la telefonaparato, malantaŭ la sekvanta stratkruciĝo. Schließlich verlangen im Deutschen weitere Verhältniswörter den Akkusativ: "für den Freund" und "durch den Wald", während auch hier wieder im Esperanto das Grundmuster erscheint: por la amiko, tra la arbaro. Bei der Häufigkeit des Vorkommens von Verhältniswörtern in einem Text ist das ständige Nachdenken über die jeweils richtige Form des abhängigen Hauptworts eine große Belastung beim Sprechen selbst für Fortgeschrittene im Deutschen als Fremdsprache. Im Gegensatz dazu bietet das Esperanto auch auf diesem Gebiet keinen Lernaufwand, verzichtet aber dafür keineswegs auf die notwendige klare Aussagemöglichkeit.
- Mit seinem Abspecken des Regelwerks geht Esperanto aber nicht zur Primitivität über. Vielmehr enthält seine Grammatik Regeln, die man sich einprägen muß und von denen einige beim Esperanto-Unterricht auch als Schwierigkeit vor dem Lernenden stehen. Solche Regeln dienen dem größeren Ausdrucksreichtum der Aussage, der raschen Durchschaubarkeit eines Textes, der Absicherung gegen Mißverständnisse bei einer Sprache, die von Menschen vieler Muttersprachen jeweils als Zweitsprache angewandt wird. Dadurch tragen diese Sprachvorschriften dann aber wiederum zur Leichtigkeit des Esperanto bei.
Beispiele für bereichernde Sprachregeln, die für das Esperanto typisch sind, sind folgende:
- Jede Wortart hat einen Kennbuchstaben am Ende, durch den in einem Satz schnell erkennbar ist, welche Aufgabe jedes Wort hat: Substantiv -o, Adjektiv -a, Verbum -i und in der Konjugation Vokal + -s, Adverb -e. Das macht den Aufbau einer Gedankenkette im Satz, also in der angewandten Sprache, unmittelbar verständlich (und ist auch für die elektronische Datenverarbeitung praktisch).
- Das Objekt als eines der Hauptelemente einer Aussage ist vom Subjekt deutlich unterschieden. Es gibt eine Objektkennung durch den Endbuchstaben -n; la pasaĝero fiksas la sekurbendon = der Reisende macht den Sicherheitsgurt fest. Damit gewinnt das Esperanto an Übersichtlichkeit im Satz und befreit sich von der Zwangsfolge Subjekt - Prädikat - Objekt zugunsten einer stilistisch begründeten Freiheit der Wortstellung im Satz.
Während im Französischen nur gesagt werden kann: "je lui obéis" - und keinesfalls "je l'obéis" oder "j'obéis lui", oder im Englischen nur "I obey him" - und keinesfalls "I obey to him" oder "I him obey", richtet sich die Wortstellung im Esperanto nur nach dem auszudrückenden Sinn, den der Sprecher in seine Aussage hineinlegen will und den er durch Benutzung z. B. der betonten Spitzenstellung im Satz bewirkt: mi obeas lin, lin mi obeas, obeas mi lin, obeas lin mi. Im Esperanto wählt also der Anwender dieser Sprache im Augenblick des Sprechens die nach seinem Sprachgefühl bestgeeignete Wortfolge aus, und sie oder er ist nicht damit belastet, im Gedächtnis schnell nachzuprüfen, welches die "richtige" Reihenfolge ist. Esperanto kann deshalb impulsiver gesprochen werden als jede andere Fremdsprache.
- Das Prinzip der Redundanz wird angewandt (= doppeltes Bestücken einer Einzelaufgabe, übliches Sicherheitselement, z. B. 2 Autoscheinwerfer, 2 unabhängig voneinander wirkende Bremssysteme, 2 Steuerungsantriebe bei Weltraumkapseln zur Mondlandung). Ob Einzahl oder Mehrzahl, ob Subjekt oder Objekt, beides wird beim Hauptwort und seinem zugehörigen Eigenschaftswort (also doppelt) vermerkt: die Kosten sind hoch = la kostoj estas altaj (die Endungen werden gesprochen: eu, ai); diese Kostenposition ist günstig = tiu kosto estas favora; es gibt hohe Kosten = ekzistas altaj kostoj; sie kritisiert die hohen Kosten = si kritikas la altajn kostojn. Durch diese Methode lassen sich Hauptwörter und die zu ihnen gehörenden Eigenschaftswörter immer herausfinden, auch in den Fällen, bei denen andere Aussageteile dazwischengepackt werden, wodurch sonst die Erkennbarkeit eines Zusammenhangs leicht verlorengehen würde.
- Das rückbezügliche Fürwort zeigt seine Bezugsperson unmißverständlich auf: ŝi lavas sin = sie wäscht sich selbst; ŝi lavas ŝin = sie wäscht eine andere, z. B. die Krankenschwester eine Patientin. Dieses System der Rückbezüglichkeit wird im Esperanto auch auf besitzanzeigende Fürwörter ausgedehnt und erlaubt so auch in diesen Fällen, einen ganz eindeutigen Bezug herzustellen. "Sia" bezieht sich auf das Subjekt des Satzes oder des Satzteils, in dem es steht, und "lia, ŝia, ĝia" beziehen sich auf andere Personen, Tiere oder Sachen. "Karin sieht Ursel in ihrem neuen Auto" - wer fährt da in einem neuen Auto herum? Dies ist im Esperanto unmittelbar klar. Karin vidas Ursel en sia nova aŭto = das neue Auto bezieht sich auf das Subjekt des Satzes, und dieses ist Karin. Karin vidas Ursel en ŝia nova aŭto = das neue Auto bezieht sich nicht auf das Subjekt, sondern auf eine andere in diesem Satz vorkommende weibliche Person, also ist Ursel die neue Autobesitzerin. Gerade bei komplizierten Satzkonstruktionen, bei Schachtelsätzen oder eingeschobenen Infinitiven, läßt sich so in einem wichtigen Punkt des Bezugsnetzes im Satz Klarheit schaffen.
Wortschatz
- Die Bedeutungen aller Wörter sind deutlich voneinander abgegrenzt und streuen nicht über einen kaum übersehbaren Bereich: "Hand halten = teni manon", "das Auto hält = la aŭto haltas". "Teni" hat eben seine feste Definition, und seine Anwendung braucht nur in diesem eingegrenzten Rahmen gelernt zu werden. Solche Wörter wie "halten" sind nicht eingewurzelte Bestandteile von Ausdrücken, die etwas anderes als den Begriff des (fest-)haltens haben: Rede halten = prelegi, Mund halten = silenti, auf dem laufenden halten = kontinue informi, sein Gewicht halten = konservi sian pezon, Tiere halten = havi bestojn. Andere Beispiele für diese ausufernde Wortverwendung mit dem großen Lernaufwand: Auto führen = konduki aŭton, Gespräch führen = konversacii, Gruppe führen = gvidi grupon; Aufsicht führen = gardi; und in festgefügten, bildhaften Ausdrücken: hinter's Licht führen = trompi, im Schilde führen = intenci. Oder: Nimm einen Apfel = prenu pomon, nimm dich in Acht = atentu pri vi, nimm dich zusammen = regu vin, nimm Platz = sidiĝu, nimm dir Zeit = lasu al vi tempon, ernst nehmen = konsideri serioza. Das Esperanto verwirrt den Lernenden nicht mit festgefügten Begriffskombinationen, die sich nicht aus der eigentlichen Bedeutung jedes Wortes ergeben: in ein Zimmer geht man hinein, in einen Bus steigt man ein (vom Straßenniveau über Stufen in der Bustür hinauf), auch in eine U-Bahn wird eingestiegen, obwohl zwischen Bahnsteig und Waggonboden kein Höhenunterschied ist. Sich zu Fuß auf gleicher Höhe in etwas hineinzubegeben ist, wie man im Deutschen lernen muß, normalerweise "hineingehen", aber nicht bei öffentlichen Verkehrsmitteln. Eine solche Ausnahme entfällt beim Esperanto: hier benutzt man immer "eniri" (aus "en" = in, hinein + "ir" Wortstamm = gehen + Infinitivendung). Wenn man aber zum Ausdruck bringen will, daß eine Nach-oben-Bewegung, ein Aufsteigen erfolgt, dann tritt das Wort "grimpi" = klettern, steigen auf. "Grimpi en buson" ist nicht farblos wie im Deutschen, wo "einsteigen" seinen eigentlichen Sinn abgestreift hat, sondern weist lebhaft auf eine Mühsal des Hinaufkommens hin. Esperanto ist durch solche präzisen Begriffsabgrenzungen sowohl leichter zu erlernen als auch zugleich ausdruckskräftiger.
- Esperanto verzichtet auf ungenaue Mehrfachausdrücke desselben Tatbestandes wie bei den Wörtern für eine Veränderung im Ort in kurzer Zeit = schnell, rasch, eilig, hurtig... Damit kann man kaum sehr viel mehr anfangen als Werbesprüche machen, nach denen Wäsche nicht nur "sauber" , sondern vielmehr "rein" sein muß. Im Gegensatz dazu verfügt Esperanto über sinnvolle Bedeutungsabstufungen, die für alle Menschen auf der Welt die gleiche Skala an Begriffen bieten: rapideta = ein wenig schnell, rapida = schnell, rapidega = rasend schnell. Um die klare Zuordnung von Wörtern zu Begriffen festzusetzen und diese für einen weltweiten Benutzerkreis zu standardisieren, gibt es im Esperanto ein vorzügliches Hilfsmittel, das Plena Ilustrita Vortaro (Vollständiges Wörterbuch mit Abbildungen - das Wort "illustriert" erweckt im Deutsches Assoziationen an eine illustrierte Zeitung und paßt deshalb schlecht als Eigenschaftswort für ein wissenschaftliches Werk, und das durchaus korrekte Wort "bebildert" wirkt fremd). Es handelt sich dabei um ein Esperanto-Wörterbuch mit Definitionen in Esperanto und jeweils einer Vielzahl von Beispielen aus der Literatur.
- Im Esperanto-Wortschatz findet sich die Fülle international verwendeter Fremdwörter wieder, die in vielen Nationalsprachen auftauchen, auch außerhalb der indogermanischen Sprachen, aus denen sie vorwiegend kommen. Dadurch haben auch Sprecher dieser außereuropäischen Nationalsprachen ihnen bekannte Wortmuster in der internationalen Sprache Esperanto. Alle diese Wörter sind nahezu eine "Weltsprache", so daß daher Esperanto eine wirklich natürliche Sprache ist und nur das ordnende Regelwerk der Grammatik dazu erarbeitet werden mußte. Im Deutschen sind heimisch die entsprechenden Wörter für: telefoni, restoracio, tabako, instituto, katedralo, oceano, diamanto, centro, transporto, leksikono, tabelo, aplaŭdo, stacio, radio, medicino, asfalto, kalendaro, hospitalo... Nicht alltägliche Fremdwörter im Deutschen lassen sich aber auch wiedererkennen: kastelo, konversacio, balustrado, karambolo, konduktoro, kuraĝo, observado, fasado, manekeno, kariero, ŝoseo, helikoptero, gazeto... Die Lernarbeit an Vokabeln, dieses große Hindernis jedes Fremdsprachenerwerbs, ist auch durch dieses Hineinbeziehen allgemein bekannter Wörter klein gehalten. Über weltweit verwendete Begriffe hält sich zugleich der Esperanto-Wortschatz auf dem laufenden: komputoro, satelito, kontenero...
- Im Esperanto ist es vollkommen üblich, Gegenstände mit allgemein gültigen Sammelbezeichnungen zu benennen und auch für Tätigkeiten, für Eigenschaften einen breiten Bedeutungsrahmen umfassende Wörter zu verwenden. Solche Begriffe ergeben sich im Esperanto aus seiner Struktur: daß man mit Hilfe von Bildungssilben aus Grundbegriffen verschiedene Einzelbegriffe selbst schafft. Das Zeitwort "essen" heißt "manĝi" (der Buchstabe mit Überzeichen ĝ wird gesprochen wie ein schwach anklingendes d mit dem folgenden weichen sch von Garage). Die Endsilbe für ein Werkzeug, ein Mittel, ein Instrument ist "-il". Also bedeutet "manĝilo" ein Eßgerät jeglicher Art. Im Deutschen ist das Wort "Eßgerät" für die Umgangssprache unmöglich. Niemand kann sagen: "Gib mir bitte mal das Eßgerät her!" In dieser Sprache muß man die genauen Bezeichnungen kennen wie: Gabel, Messer, Löffel... Bevor man einen relativ einfachen Satz (bei einer Begegnung mit Ausländern bei einem gemeinsamen Essen) bilden kann, benötigt man bereits eine Reihe von Wörtern. Dies ist im Esperanto anders. "Manĝilo" hat nichts Minderwertiges an sich. Jedermann kann es in jeder Unterhaltung anwenden, ohne damit aufzufallen etwa als jemand, der "komisch" spricht.
Weder muß ein Europäer gleich das genaue Wort für "Eßstäbchen" wissen noch ein Chinese das europäische Besteck mit Gabel, Messer und Löffel kennen. Schon ein Lernender kann durchaus umgangsübliches Esperanto sprechen trotz seines noch geringen Wortschatzes. Er drückt sich dann allerdings etwas unpräzise aus. Soll eine Gabel oder ein Löffel hergereicht werden, dann langt das Anfangs-Esperanto nicht mehr aus. Mehr Wörter für Eßgeräte zu kennen ist aber im Esperanto nur eine Frage der Quantität, nicht jedoch der Qualität.
- Neue Begriffe der Rechts- und Umgangssprache eines Volkes dürfen nur dann direkt übersetzt werden, wenn sie überall unmittelbar verständlich sind, Beispiele: Personenkult = personkulto, Strumpfhose = ŝtrumpopantalono, verkehrsberuhigte Zone = zono da trankviligita trafiko. Sobald solche neuen Begriffe dem Zuhörer in Brasilien, Japan, Nepal oder Gabun nicht unmittelbar verständlich sind, muß anstelle der einfachen Übersetzung eine erklärende Übertragung verwendet werden, Beispiele: Sit-in = siddemonstracio, Mobilheim = loĝkamiono, Onkelehe = edzecsimila kunvivado, Medienverbund = kombinita apliko de pluraj komunikiloj, Normenkontrolle = kontrolo pri ĝusteco laŭ konstituciaj normoj per la Konstitucia Tribunalo, Kinderdorf = familiaj hejmoj por orfoj, Marsch durch die Institutionen = ennestiĝo de progresemuloj el la sesdekaj jaroj en la ŝtataj institucioj, Klinikum = multbranĉa hospitalkomplekso, Gesundschrumpfung = kvantredukto en ekonomia branĉo ĝis vivkapabla kerno. Im letzteren Fall wäre "sanŝrumpiĝo" völlig unverständlich und als Übersetzung unmöglich.
Dieses Vorsichtsgebot geht bis hin zu Fachbegriffen, die im Deutschen gesetzlich verankert und nur aus dieser Gesetzesdefinition heraus verständlich sind: Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) = kompanio kun limigita garantio laŭ germana juro. Selbst wo scheinbar eine Übersetzung einfach ist: Aktiengesellschaft = akcia kompanio, muß aus Gründen der Genauigkeit ein rechtsverweisender Zusatz gemacht werden. Wie der Deutsche die AG in "akcia kompanio" übersetzt, so könnten Sprecher anderer Nationalsprachen ihre vergleichbare Gesellschaft übersetzen, ohne daß die Regeln für die dann im Esperanto mit demselben Wort ausgedrückten Gesellschaften gleich wären. Übersetzt der Franzose ähnlich, dann sagt er: "anonima societo" (S. A. auf Französisch) - nur ein in das internationale Gesellschaftsrecht eingeweihter Experte wird darin eine Wirtschaftsform wiedererkennen. Wer Deutsch lernt, muß sich alle oben angegebenen neuen Ausdrücke und noch viele Tausende dazu einprägen. Im Esperanto darf das nicht sein. Wir Deutsche erwarten, daß Einheimische anderer Nationalsprachen ihre Spezialausdrücke für uns verständlich übertragen, statt sie sinnlos Stück für Stück zu übersetzen. Dies obliegt uns auch. Dadurch ergibt sich eine ungeheure Beschränkung des Lernaufwands an Vokabeln, und dies ist gewollt. Selbst wenn jemand sagen würde, der Ausdruck "Klinikum" sei treffender als "multbranĉa hospitalkomplekso", so ist das Esperanto eben doch in der Lage, den Begriff des Klinikums auszudrücken, ohne einen an solchen Wörtern hängenden Lernaufwand mitzuschleppen.
- In vielen Sprachen gibt es Wortbildungssilben, durch die aus dem einen Begriff ein verwandter gemacht wird: hören / man kann es hören: hörbar; essen / man kann es essen: eßbar. Dieses System existiert auch in der deutschen Sprache, aber es ist erstarrt. Irgendwann bildeten sich im Deutschen so einmal neue Begriffe, und diese gehören jetzt zum zu erlernenden Bestand der Sprache, ohne daß die Möglichkeit auch heute noch besteht, nach dieser alten Methode vorzugehen und die Sprache zu bereichern. Hierfür gibt es eine Fülle von Beispielen:
- Nachsilbe -bar: hören/hörbar = audebla; essen/eßbar = manĝebla; trinken/trinkbar = trinkebla; sehen/sichtbar = videbla; machen/machbar = farebla, lesen/lesbar = legebla; waschen/waschbar = lavebla. Aber ein Zimmer ist nicht "lüftbar" (im Esperanto selbstverständlich ausdrückbar: aerumebla), ein ausgestellter Gebrauchtwagen kann nicht angekündigt werden als "kaufbar" (aĉetebla) - kann ein Auto "käuflich" sein? - und eine kahle Zimmerwand ist nicht "schmückbar" (ornamebla). Wird ein solches Wort durch die Werbesprache doch geschaffen, so ist es zwar verständlich, aber völlig ungewöhnlich, wofür bestes Beispiel das neue Werbewort vom "wanderbaren Österreich" ist.
- Nachsilbe -ig: rein/reinigen (Esperanto: pura/purigi), fest/festigen (firma/firmigi), satt/sättigen mit Erschwernis durch Umlaut von a zu ä (sata/satigi), schön/beschönigen mit Erschwernis durch Vorsilbe be- (bela/beligi). Es heißt dann aber nicht: hart/härtigen, sondern härten (im Esperanto regelmäßig: malmola, malmoligi) und nicht: weich/weichigen, sondern: erweichen (mola/moligi). Auch diese Bildungssilbe ist im Deutschen vorhanden, aber nicht mehr aktiv - sonst hätte die Werbesprache längst den wäschewirkenden Ausdruck "frischigen" populär gemacht.
- Nachsilbe -sam: arbeiten/arbeitsam = labori/laborema, heilen/heilsam = sanigi/sanigema, wirken/wirksam = efiki/efikema, gehorchen/gehorsam (nicht: gehorchsam) = obei/obeema. Aber es geht dann im Deutschen nicht weiter. Man kann nicht von jemandem sagen, er sei "eßsam" (das ist jemand, der gerne ißt, dafür passen weder "hungrig" noch "gefräßig" noch das Fremdwort "Gourmet").
- Vorsilbe un-: Es gibt im Deutschen Ruhe/Unruhe (Esperanto: trankvilo/maltrankvilo), Lust/Unlust (emo/malemo), Glück/Unglück (feliĉo/malfeliĉo) als Ausdrucksformen wirklicher Gegensätze. Daneben dient die Vorsilbe un- zum Aufzeigen eines Abweichens, z. B. Tat/Untat (nicht das Gegenteil einer Tat, also Nichtstun, sondern eine falsche Tat) ist im Esperanto ago/misago, und sie bezeichnet das Nichtsein wie im Fall Dank/Undank (danko, sen danko) oder Schuld/Unschuld (kulpo, sen kulpo). Verwirrend ist dann aber, daß es auch scheinbare Paare gibt: Rat (konsilo) mit Unrat (rubaĵo), Rast (restado) mit Unrast (maltrankvileco). Und schließlich ist auch diese Vorsilbe im Deutschen nicht mehr aktiv anzuwenden: "satt" hat nicht "unsatt", sondern "hungrig", "schnell" nicht "unschnell", sondern "langsam" zum Gegensatz. Durch die Lebendigerhaltung des Wortbildungsprinzips mit Hilfe von Bildungssilben nach dem Vorbild der deutschen Sprache hat das Esperanto den Vorzug von besonders vielen fein nuancierten Ausdrücken. Diesen Vorteil erkauft es sich nicht durch eine besondere Fülle von zu erlernenden Vokabeln, sondern allein durch eine grundsätzliche Entscheidung zugunsten eines aufwandsparenden Prinzips. Dabei ist es wichtig festzuhalten, daß der Anwender des Esperanto nicht sein Wort "arbeitsam" aufspaltet in seine Einzelbegriffe, diese verarbeitet und dann wie mathematisch die Teile zusammensetzt. Vielmehr erweckt das Wort "laborema" unmittelbar die Vorstellung "arbeitsam" - genau wie beim Verarbeiten dieses deutschen Wortes in einem deutschen Text. Eine solche Kombination ist also weder im Deutschen noch im Esperanto etwas Künstliches.
Ausdrucksreichtum
Das breite Angebot in Wortschatz und Regelwerk
- Durch die Wortbildungssilben gibt es im Esperanto eine ungeheure Vielfalt von Ausdrücken. Es übertrifft die deutsche Sprache um Längen; natürlich läßt sich im Deutschen dasselbe sagen wie im Esperanto, aber wo das Esperanto ein treffendes Wort hat, muß das Deutsche zum Hiifsmittel von Umschreibungen greifen. Beispiele: komforto heißt Bequemlichkeit, komfortema heißt: die Bequemlichkeit liebend (es gibt keine kurze deutsche Bezeichnung dafür, "bequem" ist etwas anderes), komfortemulo ist eine Person, die die Bequemlichkeit liebt, die es gern bequem hat; für das eine Esperanto-Wort "komfortemulo" gibt es keine entsprechende deutsche Aussage. "Faŭko" heißt Schlund, Rachen. Mit der Verstärkungssilbe -eg entsteht das Wort "faŭkego" - übersetzt vielleicht in "Riesenschlund" (völlig ungewöhnlich im Deutschen!)? Nur im Esperanto steht einem Autor ein passendes Wort zur Verfügung, um das aufgerissene Maul eines Raubtiers vor seinem Opfer treffend zu schildern. "Prefero" heißt Bevorzugung; "malprefero" ist keineswegs Benachteiligung, sondern vielmehr das Gegenteil von dem, was man gern hat, etwa eine ungeliebte Speise: "spinaco estas la malprefero de tiu infano" heißt dann im Deutschen etwa: "Spinat ist genau das Essen, das dieses Kind am wenigsten liebt". Gleicher Herkunft oder Überzeugung zu sein läßt sich im Deutschen nur bei wenigen Tatbeständen einfach ausdrücken: Glaubensgenosse = samkredano ("-an" Zugehöriger, "kred-" Glauben, "sam-" gleich) - im Deutschen schon obsolet, Parteigenosse = sampartiano - im Deutschen wegen der besonderen Bedeutung von "Genosse" nur noch wenig üblich, Volksgenosse = sampopolano - im Deutschen verbraucht durch die Hitler-Zeit. Im Esperanto ist die Bildungsmöglichkeit unbegrenzt: auf Mallorca treffe ich einen Menschen aus meiner Heimatstadt = samurbano, auf einem Handelsschiff stellen zwei Bayern fest, daß sie aus demselben Gebirgstal stammen = samvalanoj.
- Da durch eindeutige Endungen die Wörter im Satz mit ihrer genauen Funktion gekennzeichnet sind, insbesondere wegen des Vorhandenseins einer Objektkennung, ist die Wortstellung im Satz den Absichten des Stils unterworfen. Gegenüber allen Sprachen mit einer Zwangsreihenfolge ergeben sich dadurch reiche Möglichkeiten zu einem abwechslungsreichen Satzbau. "Ich weise diesen Vorwurf zurück" ist eine andere Gewichtung als "Diesen Vorwurf weise ich zurück"; so erlaubt der Akkusativ-Ausdruck im Falle der männlichen Deklination (und dies ist nur eine Deklinationsform von drei) in der deutschen Sprache mit Hilfe des Artikels "den" auch im deutschen Text Klarheit. Manche Nationalsprachen können diese betonende Wortstellung überhaupt nicht anwenden oder müssen sie mühsam umschreiben. Das Esperanto besitzt hier eine unübertreffliche Flexibilität, die ein Element seiner Ausdrucksreichtums ist. Der Vorteil, den das Esperanto mit seiner Objektkennung durch den Schlußbuchstaben -n bietet, wird schnell klar durch einen Vergleich. Beläßt man die Spitzenstellung in einer Sprache, die nicht so präzise ist wie das Esperanto, aus Betonungsgründen dem Objekt, so kann dies zu Unklarheiten führen. "Beim Sekretariat setzte sie sich durch. Die Vollversammlung bat sie um Unterstützung" - vermutlich ist im zweiten Satz die Dame die Handelnde, und sie bittet die Vollversammlung (Objekt), weil im ersten Satz das andere gebetene Organ auch am Satzanfang aufgeführt ist und sich insofern eine Auflistung der angesprochenen Gremien ergibt. Natürlich kann es auch anders sein, daß nämlich die Vollversammlung die Dame um Einsicht gebeten hat, obwohl sie sich doch beim Sekretariat durchgesetzt hatte. Fast jede Nachrichtensendung des Deutschen Fernsehens enthält solche Zweifelsfälle. Typisch ist der Satz: "Seine erfolgreiche Tätigkeit als Unternehmer beendete die Weltwirtschaftskrise 1929". Den Zuschauern fällt dies nicht auf, weil ihre Interpretation automatisch richtig ist - sie kennen eben die Zusammenhänge! Bei einer weltweit zu benutzenden Sprache kann davon nicht ausgegangen werden, so daß an sie höhere Genauigkeitsansprüche gestellt werden müssen.
- Die Wortwurzeln im Esperanto können alle Arten von Wörtern bilden, sofern man die entsprechenden Formen aus der Grammatik an sie anfügt. Hauptwörter können Zeitwörter werden; dies geht grundsätzlich auch im Deutschen: Fahrt - fahren, Bau - bauen, ist aber hier eingeschränkt und muß in jedem Einzelfall gelernt werden. lm Esperanto kann man aus dem Hauptwort "Ostern" ein Zeitwort "Ostern verbringen/etwas während der Osterfeiertage tun" machen. Aus Hauptwörtern können im Esperanto auch Umstandswörter werden, und so entsteht der bildkräftige Werbespruch "paski italuje": Pasko = Ostern, paski = Ostern verbringen; italo = Italiener, Italujo = Land der Italiener, -e = Umstandswort, d. h. Art und Weise, wie die Tätigkeit eines Zeitworts ausgeübt wird; also bedeuten die zwei Wörter des Esperanto-Textes: Ostern im Land Italien (nicht etwa: italienisch) verbringen.
Nach obiger Feststellung kann auch aus dem Wort "Pantoffel" mit allen seinen Assoziationen (zu Hause, gemütlich, altmodisch, Pantoffelheld usw.) ein Zeitwort gemacht werden; "li pantoflis en sian dormoĉambron" - die Übersetzung "er ging in Pantoffeln in sein Schlafzimmer" gibt das Gewicht überhaupt nicht wieder, das im Esperanto durch den Wortstamm "pantofl-" als Prädikat, also als erstrangig tragendes Element des Satzes zum Ausdruck kommt. Auch hier erweist sich das Esperanto als ausdrucksstärker im Vergleich etwa zur deutschen Sprache.
Bildhafte Sprache im Esperanto
In jeder Nationalsprache gibt es eine Fülle von bildhaften Ausdrücken und Redewendungen, die man so sagt und keineswegs anders. Dies bedeutet ein Problem für eine Weltsprache, die überall gleichermaßen verstanden werden muß. Im Deutschen ist eine Anzahl festgefügter bildhafter Ausdrücke an unsere Art zu wohnen, an das Haus geknüpft: sich zu weit aus dem Fenster lehnen (mehr wagen als man eigentlich tun sollte), auf dem Teppich bleiben (im Rahmen seiner wirklichen Möglichkeiten bleiben), jemanden hinter'm Ofen hervorlocken (trotz erheblichen Widerstands herausbringen), groß wie ein Scheunentor (besonders riesig), vor Freude aus dem Häuschen sein. Wir benutzen Farben in bestimmtem Sinn: schwarzer Markt, weiß wie die Unschuld, grüne Partei. Wir setzen Tiere mit ihren Eigenschaften in unsere Sprache ein: schneller Hirsch, Bienenfleiß, sanft wie eine Taube, Falken und Tauben, (politische Gruppierungen im Kalten Krieg), auf den Hund gekommen. Unsere Speisen und Getränke dienen zu Bildern: dies ist nicht mein Bier, Eigenbrötler, kalter Kaffee. Weil unsere Kleidung Taschen hat, kann man sich in unserem Lande so verhalten, als hätte man den Sieg schon in der Tasche. Alle solchen festgefügten Ausdrücke müssen vor der Benützung in einer Weltsprache erst darauf geprüft werden, ob sie ohne ihr kulturelles Umfeld verständlich sind. Wo es andere Häuser und Heime gibt, wo andere Tiere leben oder andere Speisen und Getränke üblich sind, da können unsere Bilder nicht passen. Ein bildhafter Ausdruck aus dem Japanischen ist "mit dem Streifenvorhang kämpfen" (ein "Streifenvorhang" ist ein Raumabtrenner aus einer Vielzahl von parallel herabhängenden Bändern), auf Esperanto "lukti kun noreno", als Hinweis auf vergebliches Bemühen (wir mit unserem kulturellen Hintergrund der griechisch-römischen Welt würden sagen: eine Sisyphusarbeit); dieses Bild wäre schon verständlich.
Wenn nun aber im Esperanto nicht eine Vielzahl feststehender Bilder eingesetzt werden darf, dann muß man beim Anwenden des Esperanto selbst kreativ sein. Ein Esperantotext kann sich deshalb nicht damit begnügen, bildhafte Ausdrücke aus einer (großen) Reihe von Festlegungen zu bringen, sondern er wird durchsetzt sein von Bildern, die der Sprecher im Augenblick der Anwendung selbst geschaffen hat immer unter dem Imperativ, weltweit verständlich zu sein. Diese notwendige Kreativität trägt zum Ausdrucksreichtum fühlbar bei. Statt "vor Freude aus dem Häuschen sein" ist besser: "ŝvebi ĉiele pro ĝojo" (aus Freude im Himmel schweben), statt "weg vom Fenster" ist besser: for de la scenejo (weg von der Bühne), statt "Gift und Galle spucken" ist besser: elkraĉi sian malŝaton (sein Nicht-Schätzen herausspucken).
Neutralität
Keine Bindungen an nationale Vorbilder
- Wer eine Nationalsprache lernt, taucht damit ein in die Vorstellungswelt des Volkes, das diese Sprache benutzt. Im Deutschen ist "Herz" medizinisch der Muskel zum Pumpen des Blutes, zugleich aber auch Sitz der Gefühle. Zwar wissen wir heute, daß das Herz mit den Gefühlen nichts zu tun hat, diese vielmehr im Gehirn lokalisiert sind. Trotzdem schließen wir unsere Briefe weiterhin "mit herzlichen Grüßen" ab. Würden wir in dieser Brieffloskel auf den wirklichen Sitz unserer innersten Gefühlswelt hinweisen wollen, dann müßten wir sagen: mit gehirnlichen Grüßen. Im japanischen Kulturkreis ist der Leib die Umhüllung der Gefühle. Die genaue Entsprechung unserer "herzlichen Grüße" wäre deshalb im Japanischen "leibliche Grüße" (Harakiri, der rituelle und nicht entehrende Selbstmord durch Aufschlitzen des Leibes, hat den Sinn, der Seele das Ausfliegen zum Himmel zu ermöglichen, weil diese ja im Leib ihren Sitz hat). Wegen des zeitweiligen Übergewichts von Sprechern europäischer Nationalsprachen im Esperanto ist heute noch das Briefende "kun koraj salutoj" (mit herzlichen Grüßen) üblich, selbst bei Nichteuropäern. Während nun aber im Deutschen immer das "Herz" seine der deutschen Sprache entsprechende Nebenbedeutung behalten wird und jeder Ausländer sie beim Erlernen der deutschen Sprache mitlernen muß, bietet das Esperanto die Möglichkeit, sich als sprachliches Ausdrucksmittel von einer solchen Bindung an eine der großen Kulturen der Welt freizumachen. Für das Briefende stehen schließlich genügend klare und doch ausdrucksstarke Wörter zur Verfügung: sincere = aufrichtig, amike = freundschaftlich, afable = freundlich, estime = achtungsvoll, ŝate = schätzend usw. Durch diese Art, sich neutral auszudrücken, erweist das Esperanto seine Fähigkeit, eine Weltsprache ohne Bindung an nationale Vorbilder und damit ein wirklich neutrales internationales Verständigungsmittel zu sein.
Diesen Charakter gewinnt es mehr und mehr. Ursprünglich verfügte Esperanto nur über Wörter für Eßbestecke der europäischen Gewohnheiten: Gabel, Messer, Löffel. Für ein ungewöhnliches Eßgerät verwandte es genau wie die deutsche Sprache eine bildhafte Zusammensetzung: Eßstäbchen = manĝbastoneto. Nun ist dieses Eßgerät aber in Ostasien so üblich, daß es dort ein selbständiges Wort gibt, auch im Esperanto: haŝio. Wäre Esperanto nicht in Europa, sondern in Ostasien entstanden, dann wäre das Wort haŝio Bestandteil des Grundwortschatzes von Anfang an und für so etwas Ungewöhnliches wie eine Gabel würde man "manĝpikileto" sagen, im Deutschen: Eßaufstecherchen (stechen = piki). Menschen der älteren Generation benutzen im Esperanto noch "manĝbastonetoj", jüngere sagen "haŝioj", wenn sie in einem chinesischen Restaurant ihre Fähigkeit, damit zu essen, unter Beweis stellen wollen.
Ganz unschuldig benutzen viele Europäer den allgemeinen Ausdruck "Ort des Betens" = "preĝejo" als Übersetzung für (christliche) Kirche und nennen daneben andere Gotteshäuser: moskeo, sinagogo, templo, pagodo. Mit der Ausbreitung des Esperanto auf andere Kulturkreise entsteht das Bewußtsein, daß die Gleichsetzung eines allgemeinen Begriffs mit einer Religion diese bevorzugt und ungerecht ist. Neutral ist eine Sprachanwendung, die den allgemeinen Begriff "preĝejo" für jedes Gotteshaus verwendet und auf der präzisierenden Ebene darunter Kirchen aller Religionen nebeneinanderstellt. Deshalb kommt der neue Begriff "kirko" für christliche Kirche jetzt mehr in den Bereich der üblichen Sprache.
- Die Grammatiken der einzelnen Sprachen werden von vielen verschiedenen Kategorisierungen beherrscht. Die Sprachwissenschaft teilt die Nationalsprachen demgemäß in verschiedene Typen ein (z. B. agglutinierend, flektierend, isolierend). Das Esperanto klammert sich an keines dieser Modelle. Zwar fügt es Endungen an den Wortstamm an: vetur' = fahr'; mi veturas = ich fahre; veturanta = fahrend; veturilo = Fahrzeug. Dies ist aber nur scheinbar eine Agglutination, weil die verwandten lateinischen Schriftzeichen diese Zusammenfügung ermöglichen. Im Grunde stehen diese Elemente nebeneinander: mi + vetur + as = ich + was mit dem Begriff fahren zusammenhängt + Zeitwort in der Gegenwart; vetur + il + o = was mit Begriff fahren zusammenhängt + Mittel um das zu bewirken + es handelt sich um ein Substantiv. Deshalb darf man das Esperanto eher dem Typ einer isolierenden Sprache zurechnen. Diese ist wegen ihrer unveränderlichen Bestandteile und ihres Systems, diese wie Bausteine für den erwünschten Zweck zusammenzustellen, am leichtesten an alle anderen Sprachschemata anzupassen. Von seiner Struktur her hat also Esperanto eine im Verhältnis zu allen Nationalsprachen neutrale Grundlage.
Gerecht verteilter Lernaufwand
- Gerechte Verteilung im Wortschatz könnte darin bestehen, daß aus jeder Sprache der Welt ein proportionaler Anteil in den Bestand aufgenommen würde. Dies ergäbe ein heterogenes Grundmaterial. Da ist es besser, an einer in sich verwandten Sprachgruppe anzuknüpfen und diese zum Muster zu nehmen. Auf diese Art und Weise ist das Esperanto auf Wortwurzeln aus den großen Sprachen der Welt, die sowohl zahlenstarke Nationalsprachen sind, als auch zu den überall gelernten Fremdsprachen gehören, aufgebaut. Die romanischen Sprachen Französisch, Spanisch, Portugiesisch decken weite Bereiche des Globus ab, darunter gerade auch außereuropäische Staaten. Englisch ist aufgrund der Gegebenheiten der Welt - darunter das ehemals britische Kolonial-Imperium und die wirtschaftliche Vormachtstellung der Vereinigten Staaten von Amerika - weit verbreitet, zum Teil als Staatssprache (wenn auch nicht als Sprache der Mehrheiten der Bevölkerung). Auch Deutsch und Russisch haben Bedeutung als Fremdsprachen. Insofern sind die Grundbestandteile des Wortschatzes im Esperanto so international wie nur irgend möglich.
Diese hieraus entwickelten und standardisierten Wörter sind dann für den internationalen Gebrauch von ihrer festen Einbindung in eine Gesellschaft abgelöst. "Patro" heißt zwar "Vater", aber weder dürfen die einen dies mit "Familienbeherrscher, Patriarch" übersetzen noch die anderen mit "Elternteil ggf. auch Hausmann". "Fervojo" ist die Eisenbahn: für den einen erweckt das Wort das Bild vom schnellen, bequemen, pünktlichen, sauberen Intercity-Zug der Bundesbahn, der andere mag an eine altmodisch langsame, schmutzige, wackelnde, unsichere Bahn denken, der dritte sich schließlich mit der inneren Reserve: unzuverlässig, streikbedroht abwenden. Alle diese aus den nationalen Kulturkreisen herrührenden Eindrücke müssen vom Esperanto-Wort abgespeckt werden, so daß diese den Begriff an sich repräsentieren. Der Sizilianer darf "patro" nicht mit "padre" gleichsetzen. Damit ist dann auch der Lernaufwand für den Wortschatz gerechter verteilt. Die Esperanto-Wörter mit neuen Assoziationen zu erfüllen, ist Aufgabe der Esperanto-Kultur. So wird der Wortschatz zu einem Bestandteil der Neutralität des Esperanto, wie es auch die weitgehend aus einzelnen Bestandteilen aufgebaute Grammatik schon ist.
- Sprachbeherrschung ergibt sich aus der Dauer, die für das Erlernen einer Sprache aufgewandt wurde, und aus der Häufigkeit der Anwendung. Beides kulminiert dann, wenn man eine Sprache als Muttersprache erlernt hat und sie als seine Umgangssprache ständig anwendet. Das ergibt einen Vorsprung, den ein anderer nicht einholen kann, so sehr er auch danach streben mag. Eine Nationalsprache zur Weltsprache zu erheben würde für deren Anwender bedeuten, daß sie mit ihrer alltäglichen Umgangssprache, ob privat oder geschäftlich genutzt, auf einfacher Ebene oder in Form eines wissenschaftlichen Vortrages, stets auch die ganze Welt erreichen. Jeder Sprecher einer anderen Sprache müßte hingegen bei internationalen Beziehungen von seiner ständigen Sprache auf die weltweit genutzte umschalten. Er ist dann in einer schwächeren Position als der Muttersprachler. Diese Ungleichheit trägt den Keim des Untergangs dieser Lösung in sich. Sie ist nicht nur ein Element der Bequemlichkeit für die einen, sondern stellt eine Vorzugsstellung für alle Kulturgüter dar, die in der weltweit gebrauchten Sprache entstanden sind. Damit machen diese kulturellen Werte die entsprechenden Werte in allen anderen sprachlichen Umfeldern von Nationalkulturen automatisch zweitrangig. Alle Ungerechtigkeiten dieser Art lassen sich nur dann vermeiden, wenn als internationale Sprache eine Sprache gewählt wird, die niemandem einen "Heimvorteil" gibt, weil sie - wie Esperanto das für sich fordert - für alle Menschen die zweite Sprache ist.
Eigene Kultur
Esperanto-Benutzer tragen Esperanto-Kultur
Am Ende der Reisezugwagen der Deutschen Bundesbahn ist ein kleines Schild befestigt mit der Inschrift "Schalter für Schlußlicht / interrupteur pour feu arrière / interruttore por fanale di coda treno" und manchmal noch dabei "rear light switch". Man kann also Strom ein- oder aus-"schalten" (Deutsch, Englisch), oder man kann den Stromkreis "unterbrechen" (Französisch, Italienisch). Beide Ausdrücke sind technisch korrekt. In den verwandten Sprachen ist die Bezeichnung klar. Im Deutschen sagt man nun einmal auf keinen Fall "Unterbrecher für das Rücklicht". Es muß "Schalter" heißen, obwohl es das Wort "Unterbrecher" sogar gibt. In jeder Sprache muß festgelegt sein, für welche Tatbestände man welches Wort benutzt. Dies muß auch in einer internationalen Sprache so sein. Nur gibt es keine internationale Bahnverwaltung, die einen Ausdruck festsetzt. Allerdings hat die Bundesbahn das Wort "Schalter" nicht erfunden, sondern es aus dem Wortschatz des Deutschen genommen. Im Esperanto wendet die Gemeinschaft der Esperantisten ihre Sprache an und setzt damit ihre verbindlichen Normen. Im Esperanto ist festgelegt, daß ein Gerät zur Stromkreis-Unterbrechung, mit dem man den Strom mal durchlassen, mal ihn unterbrechen kann, "ŝaltilo" heißt. Das Wort "interrompilo" existiert, wird auch für bestimmte elektrische Verfahren gebraucht, aber beim Licht an- und ausknipsen braucht man das Wort, das von schalten abgeleitet ist.
Die weltweite Gemeinschaft der Esperanto-Sprechenden stellt ein Kollektiv von Menschen der gleichen Sprache dar, wie es ein Volk auch ist, nur daß Esperanto nicht in einem zusammenhängenden Territorium gesprochen wird. Als zusammenwirkende Gemeinschaft tragen sie ihre Sprache und deren Entwicklung, dabei formen sie die Weltsprache durch ihre kulturellen Leistungen. Esperanto ist deshalb kein Kunstprodukt, wie es sich aus einem Auftrag an die 1000 fähigsten Sprachwissenschaftler in den rund 150 Ländern der Welt auf Neuschaffung einer Weltsprache ergeben würde. Die Grundlagen des Esperanto sind einmal vor rund 100 Jahren in einer Systemurkunde festgeschrieben worden, und seitdem hat sich die Sprache nach den Linien der Entwicklung jeder von einer Kulturgemeinschaft getragenen Sprache ausgeformt. Die Internationalität seiner Anwender hat dem Esperanto als Sprache seine besonderen Eigenschaften gegeben, die im Vorstehenden geschildert worden sind.
Verbände bilden die tragende Struktur
- Der Zusammenhang unter den Benutzern des Esperanto wird durch internationale, regionale, nach Staaten gegliederte und örtliche Vereinigungen hergestellt (im Esperanto: internaciaj, regionaj, landaj, lokaj - im Deutschen läßt sich "ländlichen" in diesem Fall nicht sagen, so daß die oben verwandte Umschreibung die Einheitlichkeit der Erklärungskette unterbricht. Der Esperanto-Weltbund hat rund 40 000 Mitglieder in 93 Ländern, wobei Erfordernis für eine Mitgliedschaft die Fähigkeit ist, einen Beitrag in einer harten West-Währung, dem niederländischen Gulden, bezahlen zu können. Setzt man hier wie bei sehr vielen Organisationen den Anteil der besonders aktiven Mitstreiter, die sogar zahlendes Mitglied werden, mit 5 bis 10 % an, so ergibt sich eine Zahl an Benutzern des Esperanto von etwa 1/2 Million Menschen, ein Wert, der auch mit anderen Überlegungen begründet wird. Darüberhinaus gibt es ein Mehrfaches dieser Zahl an Menschen, die einfaches Esperanto verstehen und einige Sätze sprechen. Für sie alle ist der Weltbund, Universala Esperanto-Asocio, das Zentrum. Er und viele andere Organisationen sowie kommerzielle Unternehmungen, z. B. Buchverlage, Zeitschriftenherausgeber, betreuen eine Bewegung, die in westlichen wie sozialistischen Staaten, in den Industrieländern wie den Staaten der Dritten Welt vertreten ist. In der Bundesrepublik Deutschland ist der ihm angeschlossene Landesverband der Deutsche Esperanto-Bund e. V., auf Esperanto: Germana Esperanto-Asocio.
- Die Entwicklung der Sprache Esperanto wird von wissenschaftlichen Einrichtungen überwacht, ohne daß diese in den eigentlichen Prozeß der Kreativität eingreifen. Sie registrieren also die stattfindende und die abgelaufene Entwicklung und raten dann, bestimmte Entwicklungslinien zu verstärken oder andere Linien nicht weiter zu verfolgen. Von besonderer Bedeutung ist die 40 Mitglieder umfassende "Akademio de Esperanto" , die als höchste Entscheidungsinstanz über der Sprache steht, die aber nur so viel Macht hat, wie die Benutzer des Esperanto von ihr anzunehmen bereit sind. In der Bundesrepublik Deutschland bearbeitet das Deutsche Esperanto-Institut alle wissenschaftlichen und vergleichbaren Probleme. Es betreibt insbesondere das Esperanto-Prüfungswesen, hält eine große Bibliothek vor und veranstaltet Seminare zur Diskussion aller mit der sprachlichen Entwicklung zusammenhängenden Fragen.
- Als das Telefon erfunden wurde und es erst ganz wenige Anschlüsse gab, war die Frage verständlich: warum sollte ich mir denn einen Fernsprechapparat zulegen? Der Nutzen ist minimal. Im Laufe der späteren Entwicklung wuchs die Fernsprechdichte und damit die Nutzungsmöglichkeit, bis heute das Telefon ein überhaupt nicht mehr wegzudenkender Bestandteil des täglichen Lebens ist. Das Esperanto ist mit seiner Sprecherdichte schon nicht mehr den Anfängen des Telefons, wohl aber seiner ersten Ausbreitungsphase vergleichbar: zwar nicht überall anzutreffen, aber doch so weit verbreitet, daß sich eine Gemeinschaft seiner Anwender ergeben hat, die durch diese gemeinsame Sprache ihren Zusammenhalt findet. Dieses international verstreute Kollektiv der Anwender des Esperanto ist heute der große Wert, den das Esperanto jedem bietet, der die Sprache lernt. Man wird damit neben seiner Volkszugehörigkeit Angehöriger einer weltweiten Gemeinschaft, gewinnt neue Bekannte, sammelt neue Erfahrungen und weitet seinen Horizont beträchtlich aus. Dies ist eine große persönliche Bereicherung im Gebiet geistig-kultureller Werte, die die Mühe des Sprachenlernens lohnt. Über den individuellen Gewinn hinaus stellt in einer Welt voller Spannungen ein solcher grenzenübergreifender Zusammenhalt ein friedensförderndes Element dar; dieser Idee ist das Esperanto eng verbunden.
Der Verfasser, Dr. Werner Bormann, ist Mitglied der "Akademio de Esperanto", Lehrbeauftragter für Esperanto an der Universität Hamburg und Direktor des Deutschen Esperanto-Instituts.
Foto: Dreissig, Nürnberg
von links:
Dr. Werner Bormann, Hamburg
Stefanie Tucker, Augsburg
Geschäftsführerin des Deutschen Esperanto-Instituts
Gerald Tucker, Augsburg
Fachleiter für das Prüfungswesen
beim Deutschen Esperanto-Institut
Anschriften:
Verfasser: Neumühlen 37/414, DE-22763 Hamburg
Deutscher Esperanto-Bund e.V., Immentalstr. 3, DE-79104 Freiburg i.Br.
Deutsche Esperanto-Bibliothek, Gmünder Straße 9, DE-73430 Aalen
Deutsches Esperanto-Institut, Dr. Martin Haase, Steinmetzstraße 17, DE-10783 Berlin