Vorwort von Prof. Dr. Hubertus Fischer (Berlin)

 

 

 


Eine Adlige, die Religion, Sitte und Gesetz ignorierte titelte die Braunschweiger Zeitung am 25. November 2003. Ein Skandal in der Glamourwelt? Wer dies erwartet hatte, kam in dem mehrspaltigen Artikel nicht auf seine Kosten. Wer aber dem Hinweis auf ein im „Kloster St. Marienberg“ veranstaltetes „Seminar“ folgte, der wurde mit einer faszinierenden Geschichte bekannt. Es ist die Geschichte einer hinterpommerschen Klosterfrau, die vor fast 400 Jahren als Hexe hingerichtet wurde und die ein höchst ungewöhnliches Nachleben gehabt hat. Hinterpommern, das „Land am Meer“ zwischen Oder und Piasnitz, wird gemeinhin nicht mit Frauengestalten in Verbindung gebracht, die noch nach Generationen Kultstatus genießen. Das aber war bei Sidonie von Borcke aus pommerschem Uradel der Fall. Im lange Zeit als besonders prüde geltenden England der Queen Victoria gründeten Maler, Kunstkritiker und Poeten im Jahre 1848 die Bruderschaft der Präraffaeliten, die das Rätsel Frau – Engel oder Dämon, Heilige oder Teufelin – zu ergründen suchten und die in Sidonia The Sorceress das Abbild ihrer Sehnsüchte und Ängste fanden.

Wie aber ist diese Frauengestalt überhaupt nach England gelangt? Das ist die zweite Merkwürdigkeit, denn der Mittler der Geschichte gehört wahrhaftig nicht zu den ersten Namen der deutschen Literatur: Wilhelm Meinhold, ein pommerscher Pastor, der mit seiner Bernsteinhexe (1843), einer durch Sprache und Geist Authentizität vorspiegelnden „Chronik“ eines Hexenprozesses, einen gewissen Bekanntheitsgrad erwarb. Seine 1847/48 erschienene Sidonia von Bork, die Klosterhexe wurde noch im selben Jahr von Oscar Wildes Mutter, Lady White, ins Englische übersetzt und machte darauf als Kultbuch eines Dante Gabriel Rossetti und seiner Weggefährten aus der Pre-Raphaelite Brotherhood Karriere. Das hat – eine dritte Merkwürdigkeit – ein prominenter deutscher Schriftsteller nicht gewußt, obwohl er mit Meinholds Sidonia ebenso gut vertraut war wie mit den Präraffaeliten.

Theodor Fontanes Prosafragment Sidonie von Borcke, zwischen 1879 und 1882 entstanden, bildete den Anlaß und Mittelpunkt des Klosterseminars. Insofern handelte es sich um eine doppelte Premiere. Weder hat es zu Fontanes Sidonie jemals ein Seminar gegeben – nicht einmal eine kleine Studie oder ein spezieller Aufsatz ist bekannt –, noch ist der kulturelle Kontext des Fragments jemals so greifbar in Wort und Stein gewesen. Die Konventualin des Klosters Marienfließ von jenseits der Oder war für zwei Tage im Konvent des Klosters St. Marienberg diesseits der Elbe zu Gast – beides evangelische Damenstifte, die ihren Ursprung der Reformation verdanken, wobei St. Marienberg die ältere Geschichte als ehemaliges Kloster für Augustiner-Chorfrauen hat. Ein Klosterleben mit professioneller Tätigkeit und in liberaler Offenheit, wie es in St. Marienberg gepflegt wird, dürfte der schroffen Aristokratin jedoch gänzlich fremd gewesen sein.

Fremd nimmt sich aber vor allem Fontanes Sidonie selbst in der Nachbarschaft von Effi Briest und ihren literarischen Schwestern aus. Ein krasseres Gegenbild zur „Tochter der Luft“ kann es kaum geben. Die Geschichte war offenbar zu anstößig für das Publikum von Westermanns Monatsheften. Daß sie nur Fragment und nahezu unbekannt geblieben ist, ist bedauerlich. Sie hätte für ein spannungsvolleres Bild dieses Meistererzählers von Frauenschicksalen gesorgt. Daß Fontane mit dem Stoff zugleich auf eine Institution zurückgriff, die ihm bestens vertraut war, muß freilich auch gesagt sein. Für ihn charakterisierten die evangelischen Damenstifte so selbstverständlich die Landschaften des Nordens, daß er in seinem ersten Roman Vor dem Sturm (1878) Renate von Vitzewitz als Stiftsdame des Klosters Lindow sterben ließ und in seinem letzten Roman Der Stechlin (1898) mit der Domina des Klosters Wutz, Adelheid von Stechlin – „immer bloß herbe wie’n Holzapfel“ –, die Inkarnation einer erstarrten märkischen Adelstradition auftreten ließ.

Wie nähert man sich aber einem Prosafragment, das einem entschwundenen Land und einer weit zurückliegenden Epoche seinen Stoff verdankt? Wie nähert man sich einer literarischen Frauenfigur, hinter der zwar eine historische Gestalt, vor allem aber eine durch Mythen und Legenden überformte Überlieferung steht? Wie begreift man endlich die Verfolgung und Hinrichtung einer Konventualin im Rahmen jener anhaltenden Verfolgungsgeschichte, die seit dem Anbruch der Neuzeit ihre langen Schatten über Europa wirft?

Wege der Annäherung möchten die Beiträge dieses Bandes zeigen und, wo dies möglich ist, Antworten geben. Sie sind sämtlich aus den Vorträgen des Seminars hervorgegangen, für die Drucklegung jedoch überarbeitet und ergänzt worden. Den Beginn macht der Historiker und Fontane-Forscher Dietmar Storch (Hannover) mit seinem ebenso souveränen wie informativen landeshistorischen Aufriß „Pommern, von dem man vielleicht falsche Vorstellungen hat.“ Streiflichter aus der Geschichte des ,Landes am Meer‘. Bildet hier bereits der Hexenprozeß gegen Sidonie von Borcke den Mittelteil des Beitrags, so wendet sich der Zeithistoriker Ingo Loose (Humboldt-Universität zu Berlin) in systematischer Absicht den Hexenverfolgungen der Frühen Neuzeit sowie den modernen Ansätzen zu ihrer Erforschung zu. Er rückt Vor- und Fehlurteile zurecht, ohne Erklärungsdefizite zu verschweigen, und führt den heutigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse theoretisch fundiert vor Augen.

In diesem historisch erhellten Raum stellt dann die Germanistin Bernadetta Matuszak-Loose (Adam-Mickiewicz-Universität PoznaÕ) den Autor Wilhelm Meinhold und seine Sidonia von Bork vor. Sie bringt die hybride Romanform als Schwellentext zwischen Romantik und Realismus zur Sprache und zeigt gleichermaßen das Fortwirken bildlicher und diskursiver Topoi in diesem Roman auf. An ihre Ausführungen zur Rezeption der Sidonia schließt fast ,nahtlos‘ der Versuch des Literaturwissenschaftlers Hubertus Fischer (Universität Hannover) über Theodor Fontanes „Sidonie von Borcke“ an. Er entwickelt vor allem die Shakespearsche Größe dieses Charakters unter Fontanes formender Hand – eines Charakters, der unbeirrt an sich festhält, bis er zerschellt.

Den Gang durch die künstlerischen Gestaltungen des Stoffes beschließt die Anglistin Anna Maria Stuby (Universität Hannover) mit Edward Burne-Jones, Sidonia von Borcke und die Präraffeliten. Sie arbeitet das Profil dieser Kunstrichtung und die Stellung, die Burne-Jones in dieser Gruppe einnahm, heraus und spürt vor allem den Weiblichkeitsvorstellungen in Burne-Jones’ Sidonia-Portrait (1860) im Vergleich mit anderen präraffaelitischen Frauenbildern nach. Fontanes Sicht der Präraffaeliten fließt ebenso in die Darstellung ein wie die Rolle, die Meinholds Sidonia von Bork im Kommunikationsraum dieser Künstlergemeinschaft gespielt hat.

Damit schließt sich der Kreis, der bei der historischen Sidonia seinen Ausgang genommen hat und in den Imaginationen der englischen Brotherhood sein vorläufiges Ende findet. Man könnte den Kreis noch weiter ziehen: von Goethes Schwager Christian August Vulpius und seinem Pantheon berühmter und merkwürdiger Frauen (1812) über Johann Ernst Bennos historischen Roman Sidonia von Bork (1833) und Jaromar Wendts Trauerspiel Sidonia von Borck (1874) bis zu den jüngsten polnischen Adaptationen in Teresa Bojarskas Auf einem einzigen Gemälde (1972) und StanisÓaw Misakowskis historischem Epos Sydonia (²1978). Aber das mag künftiger Forschung vorbehalten sein.

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 Nach Historie, Literatur und Malerei verlangt die Gegenwart ihr Recht. An Mechtild von Veltheims (Helmstedt) Ausführungen über das Klosterleben heute wird sofort deutlich, daß „Stiftsdame und Weltdame“ keine „Antipoden“ mehr sind – wie noch im Stechlin zu lesen. Und was der ewig in Geldnöten steckende Sekondleutnant Leo von Poggenpuhl in Fontanes Roman Die Poggenpuhls (1895/96) über die „Stiftsdame“ sagt, hätte heute alle Chancen, wenigstens in St. Marienberg zum Klosterscherz zu avancieren: „,Stiftsdame ist das beste. Die glauben alles, jede Geschichte, die man ihnen vorerzählt, und wenn sie auch selber nicht viel haben, so geben sie doch alles, ihr letztes.‘“ Die Schwester Leos wendet ein: „,Ach, Leo, rede nicht so. Sie können doch nicht alles geben.‘“ Damit ist sie aber bei ihrem Bruder an den Falschen geraten.

Was Leo sich ausmalt, gehört schon deshalb hierher, weil es jenem Klischee entspricht, das bis in die jüngste Zeit durch viele Köpfe geisterte: „,Alles, sag ich. Denn was eine richtige Stiftsdame ist, die kann auch alles geben, weil sie nichts braucht. Sie hat Wohnung und Fisch und Wild, und die Puthühner laufen im Hof herum, und die Tauben sitzen auf dem Dach, und in dem großen Gemüsegarten, den sie natürlich selber besorgen (denn sie haben ja nichts zu tun), da steht immer irgendwo ein Kohlrabi oder eine Mohrrübe, und in der Küche ist immer Feuer, weil sie frei Holz haben. Und deshalb, ja, ich muß es noch einmal sagen, deshalb können sie alles geben, weil sie alles haben und nichts brauchen.‘“ Da nun für das Kloster St. Marienberg zwar nicht alles, aber doch vieles eine Textilfrage ist, sei die Fortsetzung des Dialogs noch hinzugefügt: „,Aber sie müssen sich doch kleiden.‘ ,Kleiden? I bewahre. Die kleiden sich nicht. Sie haben ein Kleid, und das dauert dreißig Jahre. Sie ziehen sich bloß an; natürlich, denn auf Eva im Paradiese sind sie nicht eingerichtet ...‘“

Die textilen Glanzpunkte des Seminars bildeten Paramente, alte und neue, darunter einige von großer Kostbarkeit. Sie schufen den passenden Rahmen für Sidonie, ihre literarischen und bildlichen Wandlungen. Denn von wegen: „Die kleiden sich nicht“! Viel Sorgfalt hatte schon Burne-Jones auf das ornamentale Muster des Kleides seiner Sidonia verwandt. Fontane sprach von einem „diademartigen Goldband“ und einem „schräg auslaufenden Samtkragen mit Pelz besetzt“. Textil und Text haben bekanntlich denselben Wortstamm. Sie bilden manchmal ein Gewebe, bei dem die Fäden unverhofft zusammenlaufen. So war es bei diesem herbstlichen Klosterseminar. Dafür sei dem Konvent des Klosters St. Marienberg gedankt, seiner Domina Mechtild von Veltheim indessen besonders für ihre spontane Bereitschaft, den Sidonie-Faden aufzunehmen. Die hier versammelten Studien sollten Anregung zu weiteren Forschungen auf dem Gebiet der Sidonie-Rezeption und -Imagologie sein, nicht zuletzt aber auch Anstoß zur Beschäftigung mit Fontanes Prosafragmenten geben, da diese noch manche Überraschung bergen.