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Untere Wernerstraße 1993
Der 29. Mai 1993 war ein Tag, der das Leben der Familie Genç auf immer veränderte. Aber auch in die Annalen der Stadt Solingen ist er als Schicksalstag eingegangen. Fünf junge Frauen und Kinder mussten ihr Leben lassen, weil vier junge Männer die wichtigste Lektion jeder Gemeinschaft noch nicht gelernt hatten, die da lautet: Du sollst nicht töten. Ich erinnere mich noch sehr genau der Fassungslosigkeit und des lähmenden Entsetzens, das sich damals über die ganze Stadt zu legen schien.
Aus der Bevölkerung heraus bildeten sich Projekte...
Darauf folgten Reaktionen, die ihrerseits wieder Angst und Schrecken verbreiteten. Was aber dennoch am eindruckvollsten in Erinnerung blieb, das war ein überwältigendes Bekenntnis gegen Gewalt und Rassismus, und zwar quer durch alle Bevölkerungsgruppen. Viele waren bereit, ein wenig näher zusammen zu rücken. Aus der Bevölkerung heraus bildeten sich Projekte, die Zeichen setzten für ein bewussteres Zusammenleben unterschiedlicher Gruppen in unserer Stadt. So entstand auf Initiative der Jugendhilfewerkstatt ein Mahnmal, das heute vor der Mildred-Scheel-Schule steht, und das zu einem beeindruckenden Wall aus persönlichen Bekenntnissen gegen Hass und Gewalt angewachsen ist. Das Projekt "Peace für Youth in the Future" wurde vom Europarat für internationale Zusammenarbeit im Jugendbereich ausgezeichnet und noch vor zwei Jahren fand ein Sternmarsch der Solinger Schülerinnnen und Schüler mit anschließender Kundgebung im Maltesergrund statt. Als Reaktion auf den Brandanschlag ist damals mit Hilfe der Bertelsmann-Stiftung das InterJu in Ohligs eingerichtet worden, das sich besonders um jugendliche Ausländer kümmert und immer wieder versucht, Kontakte zu deutschen Jugendlichen herzustellen. Auch das Bündnis für Toleranz und Zivilcourage, in dem viele verschiedene gesellschaftliche Gruppen und auch Einzelne mitarbeiten, entstand aus dem Bedürfnis, nicht untätig bleiben zu wollen.
"Scharfsinn gegen Stumpfsinn"
Eine Initiative des offiziellen Solingen war die Kampagne "Scharfsinn gegen Stumpfsinn", die weit über unsere Stadt hinaus wirkte. Fünf Plakatmotive warben für Aufmerksamkeit, Zivilcourage, Toleranz und Menschlichkeit. Ergänzende Arbeitsmappen enthielten Ideen, Vorschläge und Anleitungen für Schulklassen, Vereine oder Betriebsgemeinschaften, wie man ganz konkret ‘Verantwortung übernehmen’, ‘Mut beweisen’, ‘Kultur zeigen’, ‘kein dummes Zeug reden’ oder ‘Vorurteile lassen’ kann.
Was geblieben ist...
Gerade in diesen Tagen, wo sich der Brandanschlag zum zehnten Mal jährt, wird von außerhalb unserer Stadt immer wieder die Frage an uns herangetragen, was sich verändert habe nach dem 29. Mai 1993. Diese Frage ist schwer zu beantworten. Damals zog sich das Wort "Solingen ist überall" durch die Diskussionen. Auch ich bin bis heute der Überzeugung, dass es nichts gab, was uns von anderen Städten unterschieden und den 29. Mai erst heraufbeschworen hätte.
Zwar war der Anteil ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger immer schon höher als im Landesdurchschnitt, aber es gab weder eine Form von Gettobildung noch sichtbares Konfliktpotential. Wir hatten seit 1972 schon und damit als eine der ersten Städte einen Ausländerbeirat, der damals noch "Beirat für ausländische Arbeitnehmer" hieß.
Was geblieben ist seit dem Tag des Brandanschlags, ist ohne Zweifel eine erhöhte Sensibilität. Eine ausländerfeindliche Äußerung in Solingen hat einen anderen Beigeschmack als die in Hamburg, Köln oder München.
Manches wurde vielleicht beschleunigt, wäre aber sicherlich auch sonst in die Wege geleitet worden. Da entstanden zum Beispiel konkrete Projekte zum Spracherwerb als Voraussetzung für eine gelungene Integration, eine gezielte Förderung ausländischer Unternehmen in unserer Stadt, oder Aktivitäten des deutsch-türkischen Freundschaftsvereins, der sich nach 1993 gegründet hat.
Probleme lösen sich nicht durch Wegschauen oder Verschweigen...
All dies kann und will nicht verleugnen, dass ein Zusammenleben unterschiedlicher Menschengruppen manchmal durchaus problematisch ist. Aber aus persönlicher Erfahrung wissen wir wohl alle, dass Probleme nicht durch Wegschauen oder Verschweigen gelöst werden.
Deshalb hat der Slogan "Scharfsinn gegen Stumpfsinn" bis heute nichts an Aktualität verloren. Er beinhaltet eine konkrete Aufforderung an alle: nicht nur in Solingen,
... sondern überall.
Franz Haug
Oberbürgermeister
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