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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this...

Auf der Suche nach Lucio Cabañas

Besuch am Schauplatz des mexikanischen Romans „Krieg im Paradies" von Carlos Montemayor
Von Georg Oswald

Auf dem Hauptplatz von Atoyac werben Militärs für die Einschreibung beim Heer. Ein kleiner Holztisch steht im Eingang zum Rathaus, darüber ist ein Transparent
gespannt. Auf große Resonanz scheint die Werbekampagne der Uniformierten hier nicht zu stoßen. Vieles ist heute ganz anders, erklärt mir Victor, der diese Gegend wie seine Hosentasche kennt. Das
Rathaus ist ein hingeklotzter Betonblock, den Platz hat die vorangegangene Gemeinderegierung umgestaltet und der berühmte Tamarindenbaum, unter dem sich am 18. Mai 1967 die Eltern der Grundschule
versammelt haben, steht auch nicht mehr. Was ich denn genau sehen will, möchte Victor wissen, als wir im Zentrum der Stadt herumspazieren. Ich erkläre ihm noch einmal, dass ich nur die Gegend kennen
lernen möchte, vielleicht auch ein paar Leute, die schon vor 30 Jahren hier waren und die Zeit miterlebt haben, als das mexikanische Heer die Aufständischen von Lucio Cabañas verfolgt hat.

„Krieg im Paradies", der Roman des mexikanischen Schriftstellers Carlos Montemayor, erzählt davon. Ich habe ihn ins Deutsche übersetzt. Den Roman kennt in dieser Gegend fast jeder, und wer
nicht, tut wenigstens so, als ob er ihn kennen würde. Das ist also meine Eintrittskarte in einen Landstrich, der bis heute Unruhegebiet geblieben ist.

Wir gehen zu Fuß zum ehemaligen Militärlager außerhalb der Stadt, bei Tageslicht kein Problem, nach Einbruch der Dunkelheit geht auch mein Begleiter nicht mehr auf die Straße. Heute ist in einem Teil
des ehemaligen Militärlagers eine Polizeischule untergebracht. Ursprünglich wollte man das ganze Lager der Stadtverwaltung überlassen, die vor hatte, aus dem Lager einen Erholungspark zu machen. Da
aber vor ein paar Jahren zum ersten Mal eine Oppositionspartei den Bürgermeistersessel errungen hatte, wurde dann von der Übergabe nicht mehr viel gesprochen, denn womöglich hätte es sogar Leute
gegeben, die ernsthaft nachgeforscht hätten, was an den Geschichten wahr ist, die sich die Leute hier erzählen, von den Massengräbern am Rand des Exerzierplatzes. Und von Folterungen weiß auch
„Krieg im Paradies" ausführlich zu berichten.

Wir fragen den diensthabenden Polizeikommissar, ob wir auf das Gelände der Polizeischule dürfen. Die brummige Uniform möchte zuerst nicht verstehen, was es denn hier zu sehen gäbe, noch dazu für
einen, der aus dem Ausland daherkommt, bis er uns schließlich doch durchlässt. Gleich darauf erkläre ich meinem Begleiter, ich sei nicht daran interessiert, dass die Polizei und sonstige Stellen
genau wissen, was ich hier gerade mache, aber Victor beruhigt mich, wir werden weniger Schwierigkeiten haben, wenn wir offen sagen, was wir tun. „Und ein Menschenrechtsvertreter bist du ja nicht."
Vor ein paar Wochen war eine spanische Delegation hier, die durfte nur bis zum Eingang. Wenige Wochen vor meinem Aufenthalt in Guerrero hat die mexikanische Regierung unabhängige
Menschenrechtsbeobachter in Chiapas festgehalten und mit lautstarken, chauvinistischen Tönen des Landes verwiesen. Ich wundere mich über so viel Angst, als wir um den riesigen Betonplatz schlendern,
der von den Schlafbaracken der Polizeischüler gesäumt wird. Natürlich gibt es nichts zu sehen, außer vielleicht die herumlungernden Polizeianwärter, die uns nicht aus den Augen lassen.

Wir setzten unseren Stadtspaziergang fort. Ich möchte, dass mir Victor die zona de tolerancia zeigt, den Sperrbezirk, oder die Hurenstraße, wie der direktere Ausdruck lautet. Er stutzt zuerst,
und als ich ihm darauf erkläre, dass das auch in dem Buch vorkommt, führt er mich dorthin. Zu der Zeit, als das Militärlager noch in Atoyac war, herrschte dort Hochbetrieb, die Bordelle gehörten den
Militärs oder wurden zumindest von ihnen kontrolliert und die Soldaten verbrachten hier ihre Freizeit. Als das Militär abzog, war es dann auch mit dem großen Geschäft vorbei. Erst langsam, seit die
Polizei in das Lager außerhalb der Stadt eingezogen ist, erholt sich das Geschäft.

Ein Etablissement reiht sich neben das andere. An den Außenfassaden aufgemalt strecken sich überlebensgroße Frauen mit entblößten Brüsten. Alle Lokalitäten scheinen dieselbe Struktur aufzuweisen. In
der Mitte des Innenhofs stehen unter einem Strohdach Tische. Zu beiden Seiten wird der Hof von einer Flucht winziger Zimmer eingegrenzt, in die sich die Besucher für den privateren Teil der
Unterhaltung zurückziehen können. Um die Mittagszeit zeigt dieser Teil der Stadt sein unkaschiertes, gähnendes Gesicht. Es riecht nach abgestandenem Bier. Überall wird geschrubbt und geputzt.
Rinnsale ziehen über dem Betonboden dahin, Kinder tollen auf der Straße herum. So schön wie diese Kinder könne sie auch mit uns spielen, meint eine hagere Erscheinung im Trainingsanzug an einem
Hauseingang.

Gefängniserfahrungen

Wir kehren ins Stadtzentrum zurück und besuchen eine Frau, die lange Jahre als Lehrerin gearbeitet hat, unter anderem auch mit Lucio Cabañas. Ich werde vorgestellt und kann in den großen Raum des
einfachen Hauses eintreten. Was ich denn wissen möchte, werde ich von ihr gefragt, aber sie ist zu aufgeregt, um auf meine Fragen wirklich eingehen zu können. Als wir uns von ihrem Haus entfernten,
erfuhr ich, dass sie lange Zeit im Gefängnis verbracht hatte, dass sie während ihrer Schwangerschaft von Soldaten geschlagen worden war und sich nun um ihren behinderten Sohn kümmerte.
Gefängniserfahrung haben sehr viele Menschen, die mir hier vorgestellt werden. Als Verdächtige, mit den Aufständischen zusammengearbeitet zu haben, als Angehörige von Rebellen, als zufällig in die
Hände der Militärs oder einer Polizeieinheit Geratene, als Geißel für die lang anhaltende Ohnmacht des Militärs, der Aufständischen habhaft zu werden.

Fast 600 Verschwundene zählt man allein im Gemeindegebiet von Atoyac. 1967, nach dem Massaker auf dem Hauptplatz, tauchte der Lehrer Lucio Cabañas unter und versteckte sich im unwegsamen Gebirge von
Atoyac, wo es ihm gelang, allmählich eine Organisation von rebellierenden Bauern aufzubauen. Für die Bergdörfer um Atoyac bedeutet das nichts Neues. Schon zu den Zeiten des legendären Emiliano Zapata
hatte sich der Großvater von Lucio Cabañas dem Revolutionär angeschlossen. Und auch damals bestand die Taktik der Regierung darin, ganze Gebiete zu besetzen, Dörfer abzusiedeln und zu schleifen.
Anfang der siebziger Jahre wurden an die 20.000 Soldaten ins Gebirge von Atoyac verlegt. Erst im Dezember 1974, nach der spektakulären Entführung des Senators Figueroa, dem Kandidaten für den
Gouverneursposten von Guerrero, fiel Lucio Cabañas.

Die Niederschlagung der Guerilla von Cabañas ist bis heute ein Teil der verdrängten offiziellen Geschichte Mexikos. Es ist im Lauf der Zeit zwar leichter geworden darüber zu sprechen, aber es hat
sich nichts grundlegend geändert, nicht an der sozialen Situation in Guerrero und auch nicht an der Vorgangsweise des Militärs. Heute ist es nicht mehr die „Bauernbrigade der Hinrichtung", wie
sich der militärische Arm der Rebellen martialisch genannt hatte, sondern die EPR, Ejército Popular Revolutionario, die sich erst im letzten Jahr gespalten hat, und in Guerrero als ERPI, als
„Revolutionäre Armee des Aufständischen Volkes", einen ideologisch den Zapatisten in Chiapas angenäherten Kurs verfolgt.

Auch am Anfang der neuen Guerilla in Guerrero steht ein Massaker. Am 27. Juni 1995 werden 17 Bauern einer oppositionellen Bauernvereinigung von der Straßenpolizei bei Aguas Blancas auf der Ladefläche
eines Lastwagens zusammengeschossen. Die politischen Implikationen reichen weit. Der Gouverneur des Bundesstaates Guerrero, Rubén Figueroa Alcocer, musste nach langem Tauziehen zurücktreten. Ins
Gefängnis mussten andere. Der Gouverneur ist keine unbedeutende politische Figur. Der Präsident des Landes, Ernesto Zedillo, sprang bei der Hochzeit seines Sohnes als Trauzeuge ein. Wirtschaftlich
beteiligt sich Figueroa Alcocer vor allem im Transportwesen des Landes. Und hier verschränken sich die Ereignisse der siebziger Jahre mit den aktuellen Problemen. Der zum Rücktritt gezwungene
Gouverneur ist der Sohn des Rubén Figueroa Alcocer, den die Rebellen von Lucio Cabañas entführt hatten. Und die EPR tritt genau ein Jahr nach dem Massaker von Aguas Blancas bei einer
Gedenkveranstaltung an die Öffentlichkeit.

Der Roman „Krieg im Paradies" endet ohne abschließenden Punkt. Das ist dem Autor wichtig und schon beim ersten einer Reihe von Treffen, bei denen ich mit ihm meinen Fragenkatalog durchging,
macht er mich darauf aufmerksam. Er weiß, warum ihm das ein Anliegen ist: Die Geschichte der Erhebungen wiederholt sich, alle 20, 30 Jahre greifen die Menschen zu den Waffen, so lange sich die
sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen nicht verändern.

Reise nach El Quemado

Erst als das Klopfen deutlicher wird, wache ich in meinem Hotelzimmer auf. Es ist halb sieben vorbei. Victor meint, ich solle mich beeilen, der Lastwagen nach El Quemado fährt gleich ab. Im
Laufschritt zur Haltestelle erklärt er mir, dass er gestern im Beisein eines gefälligen Journalisten nicht unser heutiges Ziel bekannt geben wollte, andererseits aber doch über eine
Mitfahrgelegenheit in der Nacht froh gewesen war. Auf der Strecke nach El Quemado kann schon was passieren, da ist es besser, wenn nicht alle alles wissen.

El Quemado war einer der am schwersten betroffenen Orte im Gemeindegebiet, erklärt mir Nicolás, der drei Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Die Guerilla hat dem Militär in Santiago einen Hinterhalt
gelegt. Und dann hat man angenommen, das wären die Bauern aus El Quemado gewesen. Dort, auf dem Platz hat man die männliche Bevölkerung versammelt, während die Frauen und Kinder nicht aus den Häusern
gehen durften. „Darauf sind Lastwagen und Hubschrauber gekommen, die uns ins Lager nach Atoyac gebracht haben."

Wieder zurück in Atoyac lerne ich eine Frau kennen, die sich bis heute für die Verschwundenen der Gemeinde einsetzt. Sie geht noch regelmäßig zu den Treffen, wenn auch die Hoffnung, nach fast 30
Jahren eine Nachricht zu erhalten, ziemlich gering ist. Viele andere Frauen haben es schon aufgegeben, manche haben einen anderen Mann gefunden und so mancher Verschwundene wird auch irgendwo mit
einer anderen Frau zusammenleben, meint sie, aber sie ist hartnäckig geblieben und zeigt mir ein gerahmtes Bild von ihrem Mann in jungen Jahren, schwarzweiß, in einer abgegriffenen Plastikfolie.
Seitdem sie bei spiritistischen Sitzungen war, weiß sie, dass ihr Mann noch lebt.

Von Atoyac nach El Paraíso führt die einzige asphaltierte Straße auf dem ganzen Küstenabschnitt zwischen Zihuatanejo und Acapulco in die Berge. Diese Straße war eine der begleitenden Maßnahmen der
Militärs bei der Verfolgung der Rebellen, Infrastrukturmaßnahmen, die nach militärischen Gesichtspunkten angelegt wurden. Wir sitzen zu sechst zusammengepresst in einem VW Käfer, bisweilen passieren
wir Siedlungen. An manchen Stellen halten wir an. Hier, in den engen Kurven, wo man mit der Geschwindigkeit heruntergehen muss, hat die Guerilla von Lucio Cabañas Militärfahrzeuge angegriffen. Erst
jetzt kann ich mir vorstellen, dass es aus dieser Falle kein Entkommen geben konnte.

An so manchen Kurven tauchen unvermutet Polizisten auf. Das Militär ist ebenfalls präsent, hält sich aber im Hintergrund, lediglich bei El Paraíso hat man einen Kontrollposten eingerichtet. Nach
offiziellen Angaben ist das Heer präsent, um gegen den Drogenanbau vorzugehen, doch jeder hier weiß, dass es in erster Linie da ist, um Verstecke der Guerilla aufzuspüren.

Ich hatte genug gesehen. Am nächsten Tag fahre ich mit dem Autobus die Küstenstraße entlang nach Acapulco. In einem Strandcafé treffe ich Maribel Gutiérrez von der unabhängigen Wochenzeitung „El
Sur". In der Redaktion zeigt sie mir Fotos, die bei Interviews mit Leuten der EPR aufgenommen wurden. Auch wenn sie mit Strumpfmasken ihr Gesicht verhüllen, diese Leute sind ganz jung. Der
Bundesstaat Guerrero, einer der ärmsten Mexikos, weist eine Analphabetenrate von rund 30 Prozent auf. Diese Zahl trügt, denn ohne den Moloch Acapulco klettert diese Rate in den Bergregionen bis auf
70 und 80 Prozent. Dass dieses unmittelbare Nebeneinander von Reichtum und extremer Armut zu Spannungen führt, sollte wenig verwundern. Ob sie nicht Angst habe, frage ich Maribel Gutiérrez, hier in
Guerrero zu arbeiten, aber anstatt auf meine Frage einzugehen, spricht sie schon davon, wie wichtig es ist, gerade in Guerrero journalistisch zu arbeiten. „El Sur" habe als Tageszeitung
angefangen, dann wäre der Druck des Gouverneurs auf die Geldgeber so groß gewesen, dass man das Projekt derzeit nur als Wochenzeitung weiterführen kann. Aber man arbeite daran, dass man bald wieder
als Tageszeitung erscheinen könne. Ich stelle meine Frage nicht noch einmal.

„Krieg im Paradies" ist zuerst in deutscher Übersetzung erschienen, einige Monate später folgten auch die französische und die italienische Ausgabe. Noch vor der Veröffentlichung in Italien
brachte die triestiner Zeitschrift „Germinal" einen Abriss der Entwicklung in Guerrero mit Fragmenten aus dem Roman. Da die italienische Fassung noch nicht fertig und das Original nicht
greifbar war, wurden die Abschnitte aus der deutschen Übersetzung ins Italienische gesetzt. Diese gewundene Rezeption freut nicht nur den Übersetzer.

Literaturhinweis: Carlos Montemayor: Krieg im Paradies. Aus dem mexikanischen Spanisch von Georg Oswald. Hamburg: VLA 1998.

Freitag, 10. Dezember 1999

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