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28.08.2008

Von bestechenden Sonnen und cleveren Dienern

von Shi Ming

In China gibt es eine alte Tradition: Man erzählt uralte Geschichte, meint die aktuellste Gegenwart; reißt Witze, meint es ernst und lacht, um nicht zu weinen. So wird dieser Tage in Foren der Rubrik „Lachen und Witze“ (gaoxiao ban) eine uralte Saga mit Blick auf die für China siegreiche Olympiade neu erzählt. Die alte Saga handelt von einem Bogenschützen, der von zehn sengenden Sonnen neun abschießt, und schließt mit dem Jubel, der Held habe das leidende Volk endlich erlöst, damit es erhobenen Hauptes lebt. Und die neue Erzählung beginnt: „Frage an den Schützen Houyi: Warum hast du die Sonnen abgeschossen? Antwort: Weil man mich bezahlt hat. Frage: Warum neun? Antwort: Weil die Bezahlung gerade für neun reicht. Frage: Und warum ausgerechnet die eine Sonne am Himmel belassen, wie sie heute noch scheint? Antwort: Weil es diese Sonne ist, die mich dafür bezahlt hat, die anderen abzuschießen.“

Wer die Pointe immer noch nicht versteht, braucht nur den den Postingtitel eines Xinhua-Netzkommentators zu lesen: „Von der erfolgreichsten Olympiade profitiert das chinesische Volk!“ Kommentiert wird das Posting mit Beispielen galoppierender Inflation, grassierender Korruption und der Verschärfung des Strafrechtes gegen Staatsbedienstete, die die Herkunft ihrer übergroßen Vermögen nicht erklären können. „Na toll! Wenn unsere Staatsbedienstete bis heute nicht einmal ihre Vermögenswerte offenzulegen brauchen, wie will man sie bestrafen, wenn sie zuviel haben?“

Woanders, etwa auf www.kdnet.net, wird statt Witzen ein Märchen verbreitet. In Anspielung darauf, dass alle Staatsbediensteten laut KP-Satzung Diener des Volkes seien, erzählt das Märchen von dem Beschluß eines Hausverwalters, die Besoldung der Diener urplötzlich drastisch zu erhöhen. Die Abschlußbilanz teilt der Hausverwalter einige Zeit später den Herren des Hauses mit. Diese wundern sich, warum sie von dem Beschluß weder etwas wußten, noch daran beteiligt waren. Der Lehrsatz des Märchens lautet: Die Herren des Hauses seien Dummköpfe, die einfach nicht kapieren, dass die Diener gerade mit Geldern der Herren ein pompöses, ruhmreiches Bankett für den ganzen Erdball veranstalten. In höchsten Tönen von der Welt gelobt, steht es gewiss den Dienern an, sich ganz am Ende ganz bescheiden auch noch zu entlohnen. Ist das denn so schwer zu verstehen?

27.08.2008

Nach den Spielen: Der Blick nach Russland

von Shi Ming

Bbs.people.com.cn gehört dem Organ der KP Chinas, Renmin Ribao (Volkszeitung). Dort, just zu dem russischen Sieg in Georgien, findet sich eine vielsagende Diskussion statt, anläßlich einer Meldung im KP-Organ: Zum ersten Mal seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird in den russischen Lehrbüchern für Grund- und Mittelschulen eine positive Wertung von Stalin zu finden sein. Und zwar nicht bloß die Anerkennung, Stalin habe den großen vaterländischen Verteidigungskrieg gegen Hitlerdeutschland gewonnen, sondern auch, dass alles, was Stalin beschlossen habe, gemessen an seiner Zeit, richtig sei.

Nun das Vielsagende an der Diskussion: Man lobt mehrheitlich das historische Bewußtsein des russischen Volkes. Man lobt noch mehr dessen historischen Mut, die vergangenen Tatsachen als solche anzuerkennen. Es liest sich wie die bohrende Frage an Chinas Historiker, gar an die, die bisher die chinesische Geschichtsdeutung parteipolitisch genehmigt haben: Wie geht ihr mit unserem Vorsitzenden Mao um, etwa mit seiner entschiedenen Haltung gegen die USA?

Diese Frage berauscht dieser Tage überhaupt Chinas Webfreunde. Soll China Medwedjew und Putin als Erben Stalins in dessen Verteidigungskrieg des Vaterlandes, nunmehr gegen den verschwörenden Westen, unterstützen - nebst allen Beschlüssen, die, wenn schon nicht für ewig, so doch wenigstens „an der Zeit gemessen“, richtig seien? Der Unterschied zu dem Diskurs im KP-Organ zugehörigen BBS ist nicht zu übersehen: Weder auf der militanten Website www.china.com noch in anderen, als moderate geltenden Foren fehlt der Hinweis darauf: Das Zarenrußland habe China große Territorialtribute abgenötigt. Und Stalins Sowjetunion nahm China die Mongolei. Weder Jelzin noch Putin hätten die historischen Erniedrigungen Chinas korrigiert. Im Gegenteil: Beide pressten China weitere Territorien ab, so die Mehrheitsmeinung.

Noch wird jede klar formulierte Forderung aus der Mehrheitsmeinung durch Online-Redaktionen beteiligter Portale zensiert. Aber sie drängt sich auf: China solle sich, jetzt wo der Staatspräsident Hu in Zentralasien zur Teilnahme am Gipfel der Shanghai Cooperation Organisation weilt, aus dem Konflikt zwischen Rußland und dem Westen heraushalten. Wenn nicht mehr.

26.08.2008

Die Amerikaner und die Ping-Pong-Dynastie

von Shi Ming

Schon lange vor dem Ende und jetzt, nach dem Ende des Megaevents Olympia, erst recht warnt die Regierung in Beijing davor, dass die Massenbegeisterung für die olympische Harmonie in Depression umschlagen könnte, wenn plötzlich die Mattscheiben im Wohnzimmer keine spannenden Siegeszüge und –statistiken hergeben.

In einem Blog, dessen Besitzer die Xinhua-Agentur als “staatlich geprüften Therapeuten” bezeichnet, findet sich eine Liste mit Ratschlägen gegen dieses Loch, auf der nahezu alles steht, was wirken sollte: Tai Chi, Musikhören oder mehr Sex mit moralisch unbedenklichen PartnerInnen.

Dass bislang nur wenige diesen Ratschlägen gefolgt sein dürften, ist daran abzulesen, dass zwei Tage nach dem Ende des Spektakels bedrückende Themen im Internet wie Pilze aus dem Boden wieder geschossen sind. Und das direkt in dem BBS der Xinhua-Agentur selbst, bbs.huanqiu.com. Da fragt einer, wann China die Freiheit der Worte verwirklichen wird. Sofort wird der Fragende aufs Übelste beschimpft als „hirnrissig“, einen „Dachschaden habend“ oder „Arschkriecher westlicher Demokratien“.

In den weniger offiziösen BBS sieht es nicht harmonischer aus, sogar auch dann, wenn Leute über sportliche Aspekte grübeln. Zum Beispiel darüber, warum die Amis alle Bälle, bloß nicht den Ping-Pong-Ball, so meisterlich zu beherrschen wüßten wie wir Chinesen. Während die einen den Grund im hoch kommerzialisierten Sportwesen der Vereinigten Staaten suchten und erklärten, der Ping-Pong-Ball sei zu winzig für die Kamera und untauglich für die Großflächen-Werbung, parierten die anderen mit dem Argument, demnach seien wir Chinesen dann wohl zu erbsenzählerisch. Wieder andere witzelten, wir Chinesen beherrschten den Ping-Pong-Ball unbesiegbar gut, weil einst großer Vorsitzender Mao die Ping-Pong-Diplomatie als Staatspolitik erfunden habe. Dem Vorsitzenden folgten wir doch voll Begeisterung, oder?

25.08.2008

Banges Schielen auf London

von Shi Ming

Psychologisch bleibt wohl noch lange ein Forschungsthema: Ob, wenn ja, inwieweit Gipfelstürmer von der Angst geplagt werden, dass der von ihm erstürmte Gipfel nicht der höchste ist. Diese Angst geht um, nachdem sich London in Beijing als Nachfolger für die nächsten Olympischen Spiele vorgestellt hat.

Ganze acht Minuten britische Präsentation reichen für folgende Fragen in zahlreichen chinesischen BBS. Im www.cyol.com heißt es: Was meint Lord Sebastian Coe mit seinem Versprechen, London werde keinen Cent der einzusetzenden Steuergelder verplempern? Spielt der böse Gentleman auf unsere chinesische Verschwendungssucht an? Die Antwort: Chinas Regierung habe keinen Cent der Steuergelder eingesetzt. Sie habe die Notenpresse angeschmissen. Fertig.

Aus www.qianlong.com folgt die Frage: Was heißt, London wolle in den ärmsten Vierteln der Stadt das Olympische Dorf einrichten, um diese Regionen besser zu entwickeln? Wird damit unser Beijing an den Pranger gestellt, behauptet, wir hätten querbeet alle besten Viertel des alten Beijing baulich versaut und nur den Reichen das Geld nachgeworfen? Die Antwort besteht aus dem Hinweis darauf, dass das jetzige Olympische Dorf in Beijing bald eins der prächtigsten Bankenviertel in der Welt werde, eins, das das Londoner City locker in die Tasche stecken kann. Dann nämlich gebe es keinen Armen in Beijing mehr. Schaut euch die Wanderarbeiter an, die man aus der Stadt vertrieben habe!

Dass Großbritannien bei den kommenden Spielen die meisten Medaillen gewinnen könnte, darüber macht sich der chinesische Gipfelstürmer aber keinerlei Sorge. Eher darüber: Trotz der glanzvollsten Abschlußzeremonie aller Zeiten werde China nicht die erhoffte Anerkennung als erfolgreichster Gipfelstürmer aller Olympischen Spiele erhalten. Das fängt mit dem IOC-Präsidenten Rogge an, der die Beijinger Spiele mit dem britischen Understatement würdigt: truly exceptional – wahrlich beispiellos. Warum, so die Frage aus www.kdnet.net, sagt der China-Freund nicht einfach: Beijing habe die besten Olympischen Spiele hingelegt? Wahlweise gehe es auch mit dem Attribut: die „erfolgreichsten“. „Beispiellos?“ fragt ein Diskutant theatralisch, „dann laß die diktatorische Pjöngyang an die Olympiade ran! Das würde wahrlich beispiellos sein!“

24.08.2008

Entschädigt die Bürger von Beijing!

von Shi Ming

Wir sollten die Töchter Chinas in alle Welt exportieren! Oder kommen die dort unter die Räder?

Ende gut, alles gut. Die Abschlusszeremonie der Spiele verspricht ein harmonisches Ende. Die folgende Meldung, auf fast allen nationalen Portalen in China herumgereicht, verheißt Ähnliches: Ein Langläufer aus Simbabwe würde gerne ein chinesisches Mädchen zur Frau zu nehmen und inseriert mit Angabe seiner E-Mail-Adresse. Ähnlich, so manche böse Zungen in zahlreichen Diskussionsforen, wie die Medaillen Chinas sportliche Potenz bewiesen, belegt der Heiratsantrag die Attraktivität unseres Vaterlandes. Es gibt durchaus solche, die sich seriös Sorgen machen: Simbabwe, ein Land mit mehr als 1.000-prozentiger Inflation! Ob unsere Töchter dort nicht unter die Räder kommen? Nein, versichern Zeitungen, denn der afrikanische Sportler verspreche doch, er werde, so verliebt er in die Kultur Chinas sei, alle Güte der Welt aufwenden, um seine chinesische Gemahlin gut zu behandeln. Das vermag jedoch die Bedenken der Chinesen kaum zu zerstreuen: Hatte nicht auch Simbabwes Herrscher Robert Mugabe versprochen, er würde jede demokratische Entscheidung akzeptieren?

Eine Frage stellt, weitaus bodenständiger und lebensnäher, im Internet der Schriftsteller Zhang Lifan: Sollte Chinas Regierung die Einwohner von Beijing nicht entschädigen, die wegen der Olympischen Spiele allerlei Unannehmlichkeiten - wie Teuerung der Lebensmittel oder stillgelegte Fahrzeuge oder geschlossene Fabriken oder strenge Einschränkung der Bewegungsfreiheit - zu erleiden gehabt hätten?

Bis zur Stunde läuft parallel zu der Abschlussfeier die Diskussion paritätisch. Die Befürworter von Zhang Lifans Einwurf prangern die Prunksucht der Obrigkeit an: “Schau dir die Feiern an, wie viele Geldscheine die verbrannt haben!” Andere argumentieren, wenn das mit der Prunksucht zutreffe, dann habe das gesamte Volk die Kosten getragen - und nicht allein die Einwohner in Beijing! Müssen nicht Bauern im Umland auf sauberes Trinkwasser verzichten, damit sich die Gäste aus aller Welt in unserer Hauptstadt so pudelwohl fühlen dürfen, dass so manche auf schräge Gedanken kämen? Auf welche genau, bleibt bis dato unbekannt.

21.08.2008

Massensport: dem Bus hinterherhecheln

von Shi Ming

Männer in den Städten würden freiwillig auf ihre Lieblingsautos verzichten

Langsam nähern sich die Spiele ihrem Ende, und langsam ahnen alle Berauschten in China, was die Rückkehr in den Alltag bedeuten könnte. Auf www.china.com.cn verweist man darauf, wie Einzelne morgens in Großstädten wieder hinter überfüllten öffentlichen Bussen herhecheln müssen. Man müsse es nunmehr positiv sehen, schlägt der Erstschreiber vor. In puncto “wie” folgen andere ihm gleich mit kreativen Deutungsvorschlägen. Zum Beispiel: Wenn sich immer mehr Chinesen der Sportdisziplin anschließen, hinter schaukelnden Bussen herzuhecheln, wer weiß, ob nicht bald ein chinesischer Bolt emporstiege?

Oder: Männer in den Städten würden sich in den nämlichen Hechelsport verlieben, sie würden freiwillig auf ihre Lieblingsautos verzichten.

Dann bekomme Beijing seinen blauen Himmel zurück, ohne Zwangsmaßnahmen zur Gewährleistung olympischer Sicherheit. Oder: Auch der Kraftsport könnte vom angeregten Massendrill im urbanen Alltag profitieren, nach dem Hinterherhecheln müsse man sich durch die Wand aus menschlichen Körpern durchquetschen, um in den Bus zu kommen.

Nicht alle sind so gut aufgelegt. In mehreren Foren, darunter bbs.people.com.cn, jenem Forum des Parteiorgans, bemängeln Webfreunde, sie hätten als Steuerzahler zu viel geopfert, etwa insofern, als das Sportwesen in China hochgradig antiolympisch, zumal hochgradig professionalisiert sei. Wo im Westen aus der Clubkultur des Massensportes selbstzahlende Anwärter auf Titel im Leistungssport erwüchsen, würden in China wenige von Kindesbeinen an fiskalisch gezüchtet, professionell gedrillt und in den Kampf um die Staatsehre abkommandiert. Wo bleibt der Massensport, für den doch einst Vorsitzender Mao mit dem berühmten Spruch plädiert hat: “Das Sportwesen entwickeln, um die Gesundheit des Volkes zu fördern”, fragt einer wehmütig.

Er wird sogleich zurückgepfiffen: “Die Zeit von Mao meinst du? War es nicht die Zeit, wo sowieso alle Städter allmorgendlich hinter allem hergehechelt waren, nicht bloß hinter den Bussen, sondern auch hinter allem Essbaren?”

20.08.2008

Hocharbeiten, um hoch zu heiraten

von Shi Ming

Ein seltsames Rätsel: Erfolgreich auf dem Sportplatz werden vor allem die Kinder der Bettelarmen - warum ist das so?

Ursachenforschung betreibt man zumeist, wenn etwas Unerfreuliches passiert. Anders bei den gegenwärtigen Spielen: China führt immer noch die Goldmedaillentabelle mit deutlichem Abstand an. Selbst die anfänglichen Olympia-Verächter haben sich mittlerweile davon begeistern lassen. Im Forum bbs.cyol.com fragt sich einer: Warum dieser Erfolg? Seine Antwort klingt nicht neu: weil wir Chinesen fleißig sind.

Neu ist sein Blickwinkel: Erfolgreich auf dem Sportplatz werden vor allem die Kinder der Bettelarmen. So etwa die Gewichtheberin Tang Gonghong. Die Goldmedaillen-Gewinnerin stamme aus einer Familie, die nicht einmal umgerechnet 50 Euro zusammenkratzen konnte, um für sie die Gebühren der Sportschule zu bezahlen. Oder die Weltmeisterin in der Disziplin Schießen, Guo Wenjun, ein Mädchen, das angeblich noch während intensivstem Training für den Lebensunterhalt jobben musste. Das Fazit: Müssen wir Chinesen nicht darüber nachdenken, warum Kinder korrupter Kader und kometenhaft reich Gewordener zu derartigen Sportleistungen nicht fähig sind? Liegt es daran, dass Sport heute für viele armen Chinesen der einzige Weg ist, um noch aufzusteigen? Wenn dem so sei, was für eine erbärmliches Land wäre China doch noch immer!

Auf seine ein wenig verwinkelte Sichtweise mit dem Schlussseufzer antwortet kaum jemand. Dafür wird auf www.china.com hitzköpfig debattiert, wie viele chinesische Siegerinnen nach ihrem Titelgewinn Superreiche geheiratet hätten - und so dem Schicksal späterer Verarmung rechtzeitig entkommen sind. Von Gewichtheben über Schwimmen bis zu Turmspringen, alle Disziplinen sind vertreten. Die Ehemänner: Fußballstars, Spitzenpolitiker in Hongkong oder Hollywood-Gurus. Das Fazit lautet hier: Wer sich sportlich zum Erfolg hochgearbeitet hat, ist dazu verdammt, sich ebenso zum Erfolg zu verheiraten. Sonst? Sonst müsse MANN sich, wie der Hürdenläufer Liu Xiang zeigt, so viel Geld erlaufen, um Unwägbarkeiten im Leben ein für alle Mal abzusichern, mit einer Police. Ist nicht die Ehe ebenso eine Art Versicherung - nicht allein in China?

19.08.2008

Glaube, Tratsch und 10 Millionen Euro

von Shi Ming

Hat sich Liu Xiang gegen sein Scheitern bei 110 Meter Hürden versichern lassen?

Lin Dan ist Weltmeister. Disziplin: Badminton. Liu Xiang war Weltmeister: 110 Meter Hürdenlauf. Lin scheiterte in Athen. Liu siegte dort. Gibt es noch einen Unterschied zwischen den beiden chinesischen
Athletenstars? Die Webfreunde, etwa auf military.club.china.com, haben einen gefunden: Lin Dan habe kurz vor den Spielen in Athen den ehemaligen KP-Vorsitzenden Mao verlacht. Darum scheiterte er dort. Diesmal in Beijing, laut dem Sportler persönlich, habe er mit der größten Ehrfurcht Mao angebetet. Das Ergebnis ist hinlänglich bekannt, ebenso der Umstand, dass Liu Xiang wegen Fußverletzung das Stadion tränenreich hat verlassen müssen. Ob Liu Xiangs Scheitern auch mit
weniger Respekt vor dem Vorsitzenden Mao zu tun hat, weiß niemand. Jedoch wurde im verbreitet, er habe sich gegen das Scheitern versichert, mit umgerechnet 10 Millionen Euro. Noch sei unklar, ob die Versicherung für die verpaßte Chance des Sportstars aufkommt oder nicht.

Fest steht bei Lin Dan: Nicht wenige feiern ihn, weil er, wie es heißt, wenigstens einen Glauben habe, und sei’s auch nur ein ideologisierter Glaube. Glaube wirke nun einmal Wunder. Gegner dieser These müssen, da es sich nun um den Glauben an den Vorsitzenden Mao handelt, gleich schwerste Geschütze auffahren: “So? Nach dieser Logik müßten wir doch wohl auch Sportlern zujubeln, die an Falun Gong glauben?” Da dieser Glaube in China ausdrücklich verboten ist, reagiert aus dem Lager der
Wunderglaubenden keiner mehr. Hingegen überwiegt bei Liu Xiang zwar die Sympathie der Masse, man könne nun einmal nicht immer siegen. Oder: Hauptsache, Liu Xiang empfinde bald schon keinen Schmerzen mehr. Dennoch verharrt ein Hauch fast boshafter Zweifel beim Cyberspace-Tratsch: Wer
weiß, ob Liu Xiang nicht schon vorher ganz genau wußte, mit seinem Fuß werde er nicht auftreten, schon gar nicht siegen können.

Ob der Sportstar nicht zum Filmstar mutiert sei und einen tragischen Helden gespielt habe? Beweise gibt es für diese Vermutung nicht. Aber das überzeugendste Indiz ist der Versicherungspolice. Bewirken nicht 10 Millionen Euro auch Wunder, sogar jedes?

18.08.2008

Weltmeister in der Disziplin “Korruption”

von Shi Ming

“Schau dich um: In Südkorea kann selbst der Präsident deswegen abgewählt werden”

Die Goldmedaillenjagd hat jetzt in China Hochkonjunktur. Das Fieber steigt und steigt und macht vor nahezu keinem Thema mehr Halt. Also auch davor nicht, welches Land in der ganzen Welt Goldmedaille gewinnen würde, wenn es um Korruption ginge. Auf der Website www.kdnet.net taucht zuerst Indien auf: Das sei ja die größte Demokratie der Welt. Damit niemand die Botschaft falsch versteht, zitiert wird sogleich aus bbs.tiexue.net die Kommentierung geliefert, wonach letztlich nicht das System, sondern die Güte der Menschen in einem Lande darüber entscheidet, wer in dieser Disziplin Anwärter auf Gold sein darf.

Nach dieser umsichtigen, in der Botschaft unmissverständlichen Darbietung geht der eigentliche Wettbewerb erst richtig los. Die Befürworter der These überhäufen den Anbringer mit Ausrufen wie “Wow!” oder “Superposting”, derweil die Gegner gleich China nach vorne bringen: “Du meinst, dass das indische Volk selbst zugibt, jährlich 4,3 Milliarden Dollar für Bestechung auszugeben? Na dann hör zu: Bei uns werden jährlich umgerechnet über 55 Milliarden Dollar für Dienstwagen auf Staatskosten ausgegeben, weitere 300 Milliarden für Völlerei aus der Tasche der Steuerzahler. Weitere 300 Milliarden aus dem Fiskus für Tourismus aus dem Fiskus. Wie viele Milliarden für Bestechung ausgegeben werden, dazu gibt es keine Statistik. China ist Weltmeister, du Idiot!” Oder: “Schau dich um: Südkorea ist als korruptes Land bekannt. Aber dort kann selbst der Präsident deswegen abgewählt werden.” Oder: “Bei uns unterschlägt selbst der Rektor einer einzigen Grundschule schon umgerechnet etwa 16 Millionen Dollar. 3.000 Kreise mal 3 Grundschulen pro Kreis gleich 144 Milliarden. Da erübrigt sich jeder Streit!”

Mitten im Wettbewerb um den eigentümlichen Weltmeistertitel taucht immer wieder eine blau markierte Zeile auf: “Diese Kommentierung wird von der Redaktion unterdrückt!” Bis einem der Diskutanten der Kragen platzt: “Bestich doch die Redaktion, und zwar bitte gleich alle im Netz, auf dass wir frei schreiben können! Du wirst sehen, welches Land korrupter ist: das demokratische Indien oder unser Vaterland ganz ohne!”

14.08.2008

Fehlt China ein Putin?

von Shi Ming

Einige fürchten, nach Russlands Einmarsch würde die Luft im Kaukasus langsam dünn für Pekings Interessen

Es wäre zynisch zu meinen, dass das Thema Kaukasus-Konflikt im chinesischen Internet deshalb wieder zugelassen würde, weil nunmehr Chinas Hoffnung sinkt, noch mehr Gold zu erbeuten. Dennoch entbrennt in zahlreichen Debattenclubs online ein Streit über den entfernten Konflikt - mit für Chinas Außenpolitik teils unangenehmen, teils gefährlichen Schlußfolgerungen.

Auf der bislang hoch nationalistischen Portal www.china.com.cn wird Rußland bejubelt, mit der Frage an die eigene Führung: Wenn Rußlands Putin locker den kleinen Nachbarn Georgien abstrafen kann, warum kann die KP-Führung in Peking nicht gleich Vietnam einen ähnlich schmerzlichen Unterricht erteilen, jetzt, da Hanoi immer offenkundiger seine Ansprüche auf Inselgruppen im südchinesischen Meer geltend macht? Fehlt uns Chinesen eine eiserne Hand mit Putins Kaliber? Einige Kommentierungen thematisieren in diesem Kontext sogar die Kompromisse, die China neuerdings gegenüber Japan bei der Lösung des Konfliktes um  Öl- und Gasfelder im Ostchinesischen Meer oder gegenüber jenem Rußland von Medwedjew bei der endgültigen Grenzfestlegung.

bbs.tiexue.com zählt zu den chinesischen Debattenclubs mit faschistoider Tendenz. Hier wird vor einem Bündnis Chinas mit Moskau gewarnt, Rußland würde sich nicht mit einem starken China abfinden. Sollte Moskau in Südossetien erfolgreich ein Exempel statuieren können, was würde demnächst in Zentralasien passieren, fragen sich Diskutanten, die sich auf diesem Tummelplatz sonst auch mit militärischen Sandkastenspielen befriedigen. Wer jedoch glaubt, hier würden extreme Meinungen ewig pubertierender Großjungs vertreten, täuscht sich. Denn die meisten Diskussionsansätze hier decken sich fast hundertprozentig mit den Ansichten eines im Februar 2008 herausgebrachten Fachbuchs der Akademie der Sozialwissenschaften in Peking. Der Tenor: Nach Georgien würde Rußland, neben den USA und der EU, in Zentralasien an Einfluß gewinnen, so dass die Luft dort für Peking dünn wird - nicht wie die Luft in Peking, die wegen etwa 2,5 Millionen stillgelegter Autos momentan Superqualität erreicht.