MOSKAU - Ausdrücklich dankte Michail Chodorkowski in seiner gestrigen Verteidigungsrede seinenWidersachern: den vier Staatsanwälten. Ihnen sei es in den über anderthalb Jahren, die seit Eröffnung des zweiten Verfahrens gegen ihn und Juniorpartner Platon Lebedew vergangen sind, nicht gelungen, verbrecherische Handlungen nachzuweisen. Auch seien der staatlichen Anklage bei der Beweisführung über 400 Fehler unterlaufen.
Kritische Beobachter glauben dennoch, Richter Viktor Danilkin werde bei der Urteilsverkündung nur unwesentlich hinter dem Strafmaß zurückbleiben, das die Staatsanwälte vergangenen Freitag gefordert hatten: Für jeden der beiden Angeklagten vierzehn Jahre Straflager. Offiziell wird ihnen Diebstahl von Rohöl, Betrug und Geldwäsche vorgeworfen.
Die liberale Opposition, Bürgerrechtler im In- und Ausland sowie westliche Regierungschefs vermuten politische Hintergründe wie beim ersten Prozess, bei dem Chodorkowski und Lebedew im Mai 2005 zu jeweils acht Jahren verurteilt wurden. Denn Chodorkowski hatte mit Teilen des Gewinns, die ihm der inzwischen zerschlagene und quasi verstaatlichte Ölgigant Jukos in die Tasche spülte, oppositionelle Parteien unterstützt und sich zudem mit alternativen Bildungsprogrammen in die Erziehung künftiger Wähler eingemischt. Regimekritiker sprachen von einer direkten Herausforderung Putins und vermuten, solange dieser in Russland an den Schalthebeln der Macht sitzt, werde Chodorkowski im Knast sitzen.
Hoffnungen auf Zusammenlegung der Strafen aus dem ersten und dem zweiten Verfahren, wie sie die neue, von Präsident Dmitri Medwedew auf den Weg gebrachte Strafgesetzgebung zu Wirtschaftsvergehen durchaus vorsieht, tendieren unter diesen Umständen gegen Null. Trotz guter Beurteilung der Vollzugsanstalt. Zumal auch Chodorkowskis Gesuch auf vorzeitige Entlassung abschlägig entschieden wurde. Wegen guter Führung hätte er nach Verbüßen von zwei Dritteln des Strafmaßes im Herbst 2007 laut Gesetz darauf Anspruch gehabt. Doch akkurat zu jenem Zeitpunkt wurde da neue Verfahren gegen ihn eröffnet.
Chodorkowski geht offenbar davon aus, dass er nichts mehr zu verlieren hat. Gestern teilte er noch mal richtig aus. Außer „normaler Wirtshaftstätigkeit“ könne ihm objektiv nichts vorgeworfen werden. Freispruch von einem Moskauer Gericht zu erwarten, sei dennoch „irreal“.
Heute und morgen werden die Schlussplädoyers der Anwälte Chodorkowskis und Lebedews erwartet, die Anklage hatte dafür das Doppelte der Zeit zur Verfügung. Doch Kreml und Regierung wollen weitere Beschädigungen des internationalen Russland-Bildes vermeiden und den umstrittenen Prozess so schnell wie möglich über die Bühne bringen. Schon Freitag ist daher mit dem letzten Wort der beiden Angeklagten zu rechnen. Danach zieht sich das Gericht zur Beratung zurück. Das Urteil wird frühestens in vier Wochen erwartet. (Von Erich Wiesner)