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Nachrichten aus meinem Viertel

Matthias Steinbach ist Sozialarbeiter und Fotograf, er lebt in Berlin und bricht oft zur Spaziergängen auf, die Kamera hat er immer dabei. Matthias ist die Sorte Mensch, die man drei Jahre lang bearbeiten muss, bis sie sich eine Homepage einrichten und ihre Bilder zeigen. Nach einem Dutzend Überredungsversuchen hat sich Matthias nun endlich hingesetzt und seine Fotografien hochgeladen. Seine Berliner Bilder wirken wie ein Beschleuniger: Wer sie anschaut, kann in Sekunden einen Spaziergang durch die Stadt und ihre Aussenbezirke machen. Sonst bräuchte man Stunden dafür, und sähe vermutlich doch nur die Hälfte.

matthiassteinbach.com

Im Haus gegenüber befindet sich ein Puff, durch eine silbrige Tür kommt man rein, die Zimmer haben alle eine andere Farbe, fast überall flimmert ein Fernseher, fast überall sind die Läden nur halb geschlossen. Nach dem Essen trinke ich meist einen Tee und schaue hinüber, vor allem zu den Frauen vorm Eingang.

Sie gefallen mir, weil sie auf ein Dutzend verschiedene Arten die Zeit totschlagen, mal balancieren sie auf ihren High Heels und staksen auf ihren Fersen übers Trottoir, mal lecken sie saure Apfelringe und beschleunigen ihren Zungenschlag, wenn Kunden kommen, mal massieren sie sich die Schultern und schauen verloren drein, mal machen sie Faxen und halten sich den Bauch vor Lachen. Aber auch die Kunden gefallen mir.

Jene, die sich von einer Prostituierten einlullen lassen, obwohl sie vielleicht gar nicht ins Bordell wollten. Die sich umarmen und ein wenig heiss machen lassen, dann aber doch davongehen, meist in die Richtung, aus der sie kamen. Jene, die in einem der bunten Zimmer sind und eine Viertelstunde brauchen, ehe sie scharf genug sind, um zu vögeln. Jene, die immer wieder erschlaffen und dann auf der Bettkante sitzen und die haarigen Schultern hängen lassen. Jene, die sich zwar auf ein Zimmer bringen lassen, dann aber doch keine Lust mehr haben und eine Minute später wieder vor der silbrigen Tür stehen, die mit einem so lauten Knall ins Schloss fällt, dass sogar der Voyeur hinter seinem geschlossenen Fenster es hört.

Manchmal stehe ich auch noch da, wenn die Tasse schon leer ist. Man kann hier wunderbar den Blick schweifen lassen und die Fassade des Hauses, mit seinen vielen Fenstern, wie ein Puppenhaus betrachten, oder eher noch wie einen Fernseher. Mein Lieblingskanal ist das Fenster oben links.

Eine nackte Glühbirne an der Decke, eine Klimmzugstange in der Badezimmertür, ein halbdurchsichtiger Vorhang – das Zimmer eines Transvestiten, der lange braucht, bis er bereit ist für den Aufriss. Er schminkt sich und prüft sich immer wieder vor allen Seiten. Er macht Klimmzüge und betrachtet im Licht der Glühbirne das Spiel seiner kleinen Muskeln. Immer wieder rückt er sich die Perücke zurecht und zieht die Linien um seine Augen nach, der Mund ist geschürzt vor Konzentration.

Es sieht aus, als würde er sich selber küssen.

Es dauert eine Stunde, dann ist man da. Am Samstag war ich mal wieder dort und froh, dass ich nie in der Zeitung darüber geschrieben habe. Denn es waren nur wenige Leute da, und irgendwann sind sie in die Hütte gegangen und wir hatten die Aussicht für uns. Ich rede vom Jurablick, einer Beiz auf der Südseite des Üetlibergs, mitten im Wald und mit Sicht auf den Aargau und was dahinter kommt.

Die Hütte war in den Zwanzigern der Rückzugsort der Zürcher Sozialisten, dann liess man sie zerfallen. Vor einigen Jahren haben Hans und Vreni Keller aus Stallikon den Jurablick wieder in Stand gestellt, seit einigen Monaten gehört auch ein nigelnagelneues Klohäuschen zum Angebot. Ich habe über Hans und Vreni mal ein Feuilleton geschrieben, aber nicht wegen ihrer Hütte.

Es ging um ihre zweihundert Frösche, die sie im Badezimmer aufbewahren. Wir standen eine Stunde zwischen all den Glupschaugen und redeten über Vrenis Lieblingsfrösche. Ihr Favorit war einer, den sie auf einem Spaziergang in einer Mülltonne entdeckt und gerettet hatte, ein Frosch mit einer Krone auf dem Kopf. Dann setzten wir uns in die Küche und assen die Sachen, die sie sonst ein paar hundert Meter weiter oben auftischen. Als ich sie fragte, ob ich etwas über den Jurablick schreiben dürfe, lächelten die beiden. “Lieber nicht. Wir haben es gern, wenn nicht zu viele Leute da sind.”

Die Hütte ist holzige Heimeligkeit pur, die Aussicht eine Postkarte mit drei Dimensionen. Das Essen kommt aus der Gegend à la Moschtbröckli vom Hansruedi vo Ebikon und schmeckt fabelhaft. Und ja: dass selten viele Leute da sind, ist eine feine Sache.

Zwischendurch mal wieder was altes aus dem Tages-Anzeiger: die Geschichte des Baustellenfans Reto Enderli, der jeden Tag mit seinem Funkgerät von den Baustellen seines Vertrauens berichtet.

Er weiss alles über sie, ohne sie will er nicht sein. Er sieht sie jeden Tag, oft auch in seinen Träumen. Reto Enderli liebt Baustellen.

Mit Funkgerät und Fröhlichkeit geht er durch die Stadt, an Baugruben bleibt er stehen und berichtet darüber.

Oft nimmt er Freunde mit, zusammen stehen sie dann vor Abrisshäusern und Bohrmaschinen und schauen und staunen.

Manchmal muss Reto lachen vor Freude, und die Freunde müssen dann auch lachen. Bevor er weitergeht, macht er ein Foto und klebt es daheim ins Baustellenalbum.

Freunde schicken ihm Briefe mit Informationen zu den Baustellen, die bald entstehen. Reto freut sich auf sie wie auf Weihnachten.

Reto ist 50 und war Fernmeldetechniker, ist aber wegen einer Krankheit seit Jahren arbeitsunfähig. Er lebt an der Hardstrasse, gleich neben einer Baustelle. Hier wohnt er mit seiner Mutter Erna, seinem Hund Laila, seiner Katze Züseli und einer Sammlung von Sachen über Marilyn Monroe. Marylin 79 ist sein Funk-Pseudonym, unter diesem Namen gibt er seine Berichte über Baustellen durch. Er schätzt, dass es dreihundert davon gibt in Zürich. Einen Nachmittag lang fuhr er mit mir seine drei Lieblingsbaustellen ab. Unterwegs sagte er viele Wahrheiten mit Ausrufezeichen: «Mir wirds nie langweilig in der Stadt!» – «Es ist einfach super, wenn etwas Neues entsteht!» – «Wer seine Augen offen hat, sieht so viel!»

Rang drei: Manessestrasse

Im Bus ist es still, seine Stimme schrillt. Die Fahrgäste dösen, er hüpft auf seinem Sitz. Die andern schweigen, Reto ruft: «Schau mal, das Haus da drüben, das wird gerade abgerissen! Und der Bagger da vorn, siehst du, wie toll der ist?» Ein Freund von Reto ist auch dabei, bei der Utobrücke steigen wir aus. Reto geht voran und reibt sich die Hände: «Jetzt wird’s spannend!» Wo an der Manessestrasse 196 mal eine Tankstelle und ein Wohnhaus standen, ist nur noch Schutt und Schrott. Reto stemmt die Hände in die Hüften und blickt zur Mauer des Nachbarhauses, wo Kabel herausragen und Röhren hervorlugen. Er geht um die Baustelle herum und spricht einen Arbeiter an:

Reto: «Hoi!»

Arbeiter: «Sali.»

Reto: «Was kommt denn hier hin?»

Arbeiter: «Weiss auch nicht.»

Reto: «Wird es eine Garage geben?»

Arbeiter: «Keine Ahnung.»

Reto: «Vielleicht Bäume?»

Arbeiter: «Interessiert mich nicht so.»

Reto: «Danke, gäll! Und en Schöne.»

Reto gibt dieser Baustelle Bronze, weil sie ein Beispiel für viele ist. Klein, aber fein. Zwei Jahre war das Haus ausgesteckt, zwei Jahre freute er sich auf den Abriss. Drittrangige Eigenschaften: Es hat Staub, der durch die Luft wirbelt. Es hat Hydraulikbagger aus Japan, die wie Dinosaurier durch ihr Revier rattern. Es hat Lärm, der in Retos Ohren zu einer Sinfonie aus Krach wird. «Und», sagt Reto, «es hat Bauarbeiter, die Auskunft geben. Mal mehr, mal weniger.»

Rang zwei: Viadukt

Bei der Haltestelle Dammstrasse steigen wir aus, Reto sagt: «Du siehst schon von weitem, dass es hier eine ausserordentliche Baustelle hat, en Fäger!» Er nähert sich wie ein Jäger, Schritt für Schritt. Legt seine Hände ans Gitter und schaut hindurch. Plötzlich ist er still, als stünde er in einem Museum. Dann hebt er die Hand und zählt die Vorzüge dieser Baustelle auf. Erstens sei es schön, dass unter den alten Brückenbögen was Neues entstehe. Zweitens sei schon jetzt klar, dass er hier gern einkaufen werde. Drittens sei es offensichtlich, dass diese Baustelle Poesie habe, viel davon. Weil, viertens, die Bauarbeiter sorgfältig mit der alten Substanz umgingen. Und weil, fünftens, gerade Pause sei und die Baustelle still und schön daliege. Ein Arbeiter isst neben einem Schuttberg ein Sandwich. Reto hat eine Frage.

Reto: «Hoi!»

Arbeiter: «?»

Reto: «Wie viele Tonnen Schutt sind das etwa?»

Arbeiter: «8.»

Reto: «Super.»

Der Freund geht neben Reto her und schweigt und lächelt. In seinem Rucksack hat er Proviant dabei für den Fall, dass sie Hunger bekommen vom Staunen. Brot, Käse, Wasser, mehr brauchen sie nicht. Reto kneift im Sonnenlicht die Augen zusammen. «Baustellen sind einfach eine gute Sache. Ich habs schon immer gesagt.» Der Freund nickt und lächelt. Dann gehen wir weiter.

Rang eins: Sihlpost

Wir wandern um den Bahnhof herum, Retos Schlüssel klirrt, Schweiss rinnt ihm über die Stirn, sein T-Shirt mit Marilyn drauf flattert, er grüsst die Bauarbeiter von weitem. Vor einer Infotafel kommt er ins Träumen, als er den Titel sieht: «Willkommen in Zürichs Zukunft». Wie es hinter dem Bahnhof aussehen wird in zehn Jahren! Wie hier ein Viertel entsteht mit Wohnungen, die so dringend gebraucht werden! Mit Bäumen, die an einem Kanal stehen werden! Mit Arbeitsplätzen, die den Studenten sehr entgegenkommen werden! Reto fasst zusammen: «E gueti Sach!» Er sieht einen Arbeiter mit einer Bohrmaschine hantieren und ruft ihm zu.

Reto: «Wie tief bohrst du?»

Arbeiter: «?»

Reto: «Quanti metri?»

Arbeiter: «30.»

Reto: «Super. Danke. Ciao, gäll.»

Reto gibt dieser Baustelle den ersten Platz, weil sie so gross ist. Weil hier für ihn eine Utopie entsteht. Und weil man von der Plattform aus alles im Blick hat. Eigentlich, sagt er, sei die ganze Stadt eine Baustelle.

Und das Leben, Reto? – «Das Leben sowieso.»

Was für Leute sitzen in den verspiegelten und verglasten Bars der oberen Langstrasse? Wie ist die Stimmung dort? Wie fühlt man sich da? Wir haben eine Nacht lang nach Antworten gesucht, von Bar zu Bar, von Bier zu Bier.

Treffpoint: Hätte er einen, der Kellner würde den Teppich ausrollen für uns. Die Kühlschränke surren, im Fernseher läuft Arte, der Kellner macht einen Knicks. Er ist Türke, lächelt preiswürdig, nennt uns Madame und Monsieur. Die Gäste sitzen seit Stunden da, fahl und freundlich. Obwohl Zigarettenschachteln zwischen ihren Gläsern liegen, riechen wir kaum den Rauch. Es ist ruhig hier; wir hören viele Autos und viele Sprachen: Türkisch, Französisch, Arabisch, Deutsch. Wir gehen, der Kellner macht einen Knicks.

Restaurant Gotthard: Ein Tresen aus Holzimitat, Fussballfans in Jeansjacken, ein Gast, der sein Bier selber zapft. Einer hat Geburtstag und lädt uns zum Bier ein. Ein Freund streckt sich über die Ecke des Tresens, um mit uns anzustossen. Der Kellner aus Kroatien beugt sich über die Bar und erzählt. Von den deutschen Lehnwörtern in seinem Zagreber Dialekt, von seiner Zeit in der Volksarmee Jugoslawiens, von der Tochter, die an der Adria lebt. Es läuft Coldplay, wir haben Platz, man will uns hier behalten. Wollt ihr noch eins? Bleibt doch!

Malibu Bar: Überall Kronleuchter, Marmor, Spiegel, weisse Socken und Gelfrisuren bei den Männern, Plastikstiefel und Make-up dick wie Elefantenhaut bei den Frauen. Im Keller kann man Zigaretten kaufen und sich am Automaten ein Plüschtier krallen, wenn man Glück hat. Im hinteren Teil des Lokals singt ein Alleinunterhalter auf Portugiesisch, sein Gesang – ein wunderschönes Meer aus Nasalen mit ein paar Inseln: «saudade» hier, «saudade» dort. Auch in dieser Bar: Bedienung vom Feinsten, Gäste ohne Allüren, Musik mit Stil. Ein Schwarzer kommt rein mit Silberschmuck im Bauchladen und einer Lichterkette auf dem Kopf, die wirkt wie ein neongrüner Heiligenschein, der ständig blinkt. Er lächelt ohne Zähne. Er verkauft nichts und geht. Wir hinterher.

Allegro Bar: Die Allegro Bar, das sind 20 Quadratmeter Südamerika, Frauen mit Kurvenüberschuss, schwankende Barhocker unter mächtigen Hintern. Endlich begreifen wir, warum Spiegel und Glas in diesen Lokalen so wichtig sind. Die Bar ist klein wie ein Kinderzimmer, die Lautsprecher dröhnen, als beschallten sie ein Stadion. Gäbe es keine vorgespiegelte Weite, man würde ersticken vor Platzangst.

Green Mango: Dieses Lokal ist voll mit Spielautomaten, Männern hinter Sonnenbrillen, Alten mit Bierhumpen vorm Gesicht. Auf einem Regal steht ein Pokal aus Plastik, doch Sieger sind keine in Sicht. Die philippinische Kellnerin empfängt uns, als hätten wir ein Luxushotel betreten. Sie bringt uns zur Bar, weist grazil auf die alten Hocker. Später steigt der philippinische Alleinunterhalter von der Bühne und grüsst uns mit Handschlag. Der Mann am Spielautomat lächelt rüber. Die Leute an der Bar nicken uns zu, ehe sie wieder ihr Zerrbild im Bierglas betrachten. Als wir gehen, winkt uns die Kellnerin zum Abschied.

World Bar: An der Wand hängt eine Skulptur, die aussieht wie hundertfach vergrösserter Hundekot, an der Decke leuchten Sterne, an den Fenstern blinken Leuchtstäbe. Die thailändische Kellnerin kommt sofort und stellt Sekunden später zwei Gläser auf dem Tisch. Über den Männern an der Bar zeigt Eurosport Billard: gerunzelte Stirnen, in den Mundwinkel geschobene Zungenspitzen. Scheint dies auch nicht wirklich der «place to be», ist die Stimmung doch nett und die Bedienung schnell. Unsere Tour ist mehr Reise als Spaziergang, eine Vermessung der Welt auf kaum mehr als 100 Metern: Wir waren im Treffpoint der Türken, tranken im Gotthard der Kroaten, hörten die Portugiesen im Malibu, sahen die Lateinamerikaner im Allegro, die Philippinas im Green Mango, die Thais in der World Bar.

Lambada Bar: Es ist laut. Die Leute prosten uns zu und laden uns zum Tanz. Die Gäste sind offen und entspannt. In Szenelokalen würden sie ausgelacht wegen ihrer weissen Socken, glänzenden Frisuren, offenen Hemden. Hier kann jeder sein, wie er will. In Szenetreffs gelten solche Lokale als Proletenmagnete: rückständig, stillos, spiessig. Doch es ist angenehm hier. Die Leute nehmen alle, wie sie sind. Nichts ist peinlich. Wir fühlen uns wohl.

Piranha Bar: Hier hats Goldkettchen, Strohhüte, Oberarme wie Baumstämme. Die Bar ist so breit, dass die Kellnerin uns kaum bedienen kann, sie lächelt und zwinkert; für ein Wort ist es zu laut. Die Lichtflecken der Discokugel gleiten über starre Gesichter; neben dem Klo hängt eine Vorrichtung für den Alkpegeltest, hinter der Bar sitzen Männer in Hawaiihemden und schauen nachdenklich ins Ungefähre. Wie überall: Wir werden in Ruhe gelassen, sitzen unbehelligt, keiner schaut uns schräg an, keiner unterzieht uns einem Coolheitstest. Es ist eine gute und harte Welt hier. Wir kommen wieder.

Stellt euch vor: Ihr putzt euch die Zähne mit einer Bürste, die auf beiden Seiten Borsten hat. Ihr fährt mit Rollschuhen umher, doch statt mit Muskelkraft gleitet ihr elektrisch getrieben durch die Strassen. Wenn euch langweilig ist, werft ihr einfach eine Weile den Indoorbumerang durch die Stube. Bei Hochwasser bläht sich das Luftkissen unter eurem Auto auf, und ihr zischt herum wie James Bond. Wenn ihr tot seid, seilt keiner euren Sarg ab. Das besorgt dann ein Lift, der euch per Pfarrerknopfdruck in der Tiefe versenkt, kraftsparend und schnell.

All dies sind Vorschläge für eine andere Welt. Erfindungen, die auf ihre Entdeckung warten, vielleicht für immer. Sie liegen bereit in einem Haus an der Badenerstrasse. Ausstellungsobjekte im Museum einer Zukunft, die es vermutlich nie geben wird. Der Museumswärter heisst Heinz Frei, ein Mann mit Schirmmütze und Nikolausbart, freundlich und verträumt. Er sitzt an einem Tisch, auf dem ein paar Prototypen stehen. Wenn er lacht, wankt der Tisch und die Erfindungen zittern auf die Kante zu, suizidale Wesen aus Draht und Plastik.

Jeden Tag sitzt Heinz Frei in seinem Erfinderhüsli an der Badenerstrasse und wartet auf Neugierige, während im Aschenbecher seine Zigaretten verglühen, jeweils von fünf bis sieben Uhr abends.

Seit zwölf Jahren gibt es das Erfinderhüsli, so lange beträgt Heinz Freis Wartezeit inzwischen, länger als der Stadtplaner im Ruhestand annahm. Er dachte, das Erfinderhüsli würde bald zu klein sein, die Firmen würden ihm die Bude einrennen, die Welt würde anders aussehen, wenigstens ein wenig. Er wartet weiter, und mit ihm warten die mehreren Tausend Erfinder in seiner Kartei, Tüftler aus der ganzen Schweiz. Seit fünf Jahren lädt er sie einmal im Monat zum Treff im Restaurant Körnerstube und ermutigt sie, ihre Erfindungen weiterzutreiben. Morgen Abend wird er dort wieder Platz nehmen, und seine Kollegen werden ihre Neuheiten erklären und sich überlegen, was daraus werden soll.

Ein Besuch bei Heinz Frei ist ein Ausflug in eine Parallelwelt neben den Tramgleisen. Ein Ort, an dem keine Gefahren drohen, fast keine. Man muss nur ein wenig aufpassen, wenn man Heinz Frei etwas fragt. Wenn er antwortet, gerät man in einen Zeitraffer, und dann ist es Abend. Was wiederum den Vorteil hat, dass man einige Objekte erst jetzt richtig sieht: eine Lampe aus Petflaschenstücken, die ein Bekannter ertüftelt, ein Drahtmännchen mit Glühbirnenkopf, das Heinz Frei selbst gebastelt hat. Viele Erfindungen stammen von Kollegen, er sieht sich eher als Vermittler. Auf einer Internetseite im Steinzeitlook hat er ein Verzeichnis aller Erfindungen angelegt, die ihm seine Freunde zugetragen haben, weit über hundert sind es inzwischen, vom Einhand-Nagelclipper bis zum Hundebeiwagen fürs Velo.

Heinz Frei hofft, dass Firmen auf die Produkte aufmerksam werden und sie auf den Markt bringen. Meist hofft er vergeblich, aber nicht immer. Ein Kollege hat zum Beispiel einen Spielball erfunden, der nicht rund ist. Mehrere Tausend Stück sind schon hergestellt worden, und in einigen Kindergärten rennen die Kleinen den unberechenbaren Hüpfern hinterher. Auch Klett- und Reissverschluss sind von Privaten erfunden worden. Einige der Ideen im Erfinderhüsli seien ebenso gut, sagt Heinz Frei, etwa der Zerstäuber, den man auch umgekehrt halten kann. Frei knetet den ovalen Spielball und blickt auf die Pinnwand, wo er die Erfindungen auf Zetteln vorstellt. Daneben hat er Sprüche geschrieben, Aufmunterungen an sich selbst: «Keine Idee ist schlecht, nur keine Idee ist schlecht.»

Erfinder zu sein, war schon einfacher. Zur Zeit der Industrialisierung sei eine Euphorie fürs Neue dagewesen, die längst weg sei, sagt Frei. Für seine Freunde ist das Erfinden meist eine Minitragödie. Es gelingt ihnen selten, die Erfindungen irgendwo unterzubringen – ausser bei Heinz Frei, der ihnen fünfzig Franken zahlt, wenn ihm ein Prototyp gefällt. Auch er zweifelt erst, ob eine Idee gut ist, auch er muss immer wieder seine Scheu dem Neuen gegenüber überwinden. Wenn die Erfinder mit ihrem Objekt unterkämen, würden sie von den Firmen oft abgezockt, sagt er. Wenn sie ein Patent anmelden, müssen sie es jedes Jahr teuer erneuern. Viele Erfinder haben sich in den Ruin getüftelt.

Heinz Frei empfiehlt es keinem, Erfinder zu werden. Solche brauche niemand mehr, gefragt seien nur noch Entwickler und Konstrukteure. Einer von Freis liebsten Sprüchen geht so: «Künstler haben Galeristen, Schriftsteller haben Verleger, Erfinder haben es schwer.» Sie stehen in keinem Branchenbuch. Sie haben niemanden – ausser Heinz Frei. Kein Branchenbuch – nur das Erfinderhüsli mit dem grossen Schaufenster. Heinz Frei will den Tüftlern nicht den Mut nehmen, weiterzumachen, bis die Erfindungen funktionieren. Und ihre Neuheiten in die Welt rauszutragen, trotz der Geistesblitzableiter da draussen. Einfach weiterzuwerken, zu bauen, zu basteln. Bis es klappt. Vielleicht.

Das Freibad Letzigraben gilt als schönstes der Stadt, viele halten es auch für Max Frischs bestes Werk. Am Samstag sind manchmal 7500 Leute hier und schwimmen und schwatzen, spritzen und quatschen, kraulen und tratschen. Alte und Junge, Dicke und Dünne, Laute und Leise breiten ihre Badetücher aus, reden in allen Sprachen drauflos, holen Babylon in die Badi, singen eine Symphonie der Sonnensüchtigen. Es ist eine Oper mit Tausenden von Sängern. Ein Auszug:

Am Eingang

Sie, können wir nicht ausnahmsweise gratis rein? Was, so teuer! Ich ziehe die Flügeli auch in der Badewanne an. Hihi, du bist ein Lustiger. Sie müssen die Karte aus der Plastikhülle nehmen, um sie zu entwerten. Sorry, aber das Zwölferabo für 70 Stutz, das ist ja eine Riesenfrechheit! Da spart man ja fast nichts! Wir haben uns auf der Dachterrasse geküsst, aber ich weiss nicht, ob ich ihn liebe. Hast du die Wasserballons dabei? Hallöchen. Jetzt kommt endlich, gopfertami! Ich so: Nein Mann, ich will nicht mit dir rumhängen. Er so: Was jetzt? Ich so: Mann, tschäggsch es nöd? Mama? Geld! Louis, jetzt hör auf, deine Bööggen zu essen. Mich scheisst es an! Julian, bissoguet. Sie müssen die Karte aus der Plastikhülle nehmen, um sie zu entwerten. Mierda, mierda, mierda! Papi, Papi, Papi darf ich das Trotti mit in die Badi nehmen? Du spinnst doch, du kannst doch nicht mit einer anderen vögeln und erwarten, dass ich das toll find! Ach, fick dich doch! Sie müssen die Karte aus der Plastikhülle nehmen, um sie zu entwerten.

Vor dem Kiosk

Nicht mal Kafiglace haben die, gopf! Hey Papi, bring mir ein Ovoglace! Arschloch. Ich will das und das und das und das. Hör auf, mich mit deinen kalten Pfoten anzutatschen. Nummer 36! Dieses Kinderglace sieht aus wie das Mittelding zwischen Deo und Dildo. Hey schau mal, dort ist sie, diese Hurenschlampe, Mann. Die sieht aus wie Francine Jordi. Ich hasse Francine Jordi. Mir ist alles egal, wenn du zahlst. Ich will ein Rüeblisandwich. La lu la lu dubi dubi. Ich muss Gaggi. Nummer 37! Weisst du, wie gruusig das ist? Du bist doch keine Sau! Einfach das Glace vom Tisch lecken! Jetzt hör auf, immer drein zu plappern, Sarah! Ich finde meine Eltern voll blöd im Fall. Nummer 38!

Auf dem Sprungturm

Wie wärs mit einer Vierteldrehung, dann Salto, dann noch eine Vierteldrehung? Uaaaaaaaaah! Scheisse, Mann, mein Rücken, Mann! Hey, voll krass Hinderschisalto. Hey, bist du gaga? Yeaaaaaaah! Hey, ooni Scheiss ey! Jetzt komm runter du Pussy! Yo shit happens, gäll. Hey, schaut, jetzt mache ich den Frosch! Mach das Totenbein, mach das Totenbein! Du musst einfach springen und dann zack, zack, zack! Hey, du bist voll der Chef. Ich hab heute drei Spiegeleier gegessen. Hohohoho. Hey, du bist so ein Pfüdi. Au mein Arsch, jetzt weiss ich, was Frauen durchmachen müssen, und Schwule. Jetzt mach mal, Meili, der Bademeister will Wellen machen! Yo, Bademeister, lass es krachen, Mann!

Im Wellenbad

Ich meine, der Typ ist noch schlimmer und blöder als Mohamed. Autsch, ich hab voll den Kopf angeschlagen. Wer ist der alte Wichser mit dem bescheuerten Hütlein dort drüben? Warte, ich will mal direkt vor deinen Kopf springen. Ich glaub, der will was von deiner Schweter, hähä. Nein, nein, nein, ich will noch nicht heim. Liebe Badegäste, das Wellenbad schliesst in fünf Minuten, merci. Hey, jetzt gib mir den Ball und ich geb ihn dir zurück, ich schwörs. Shit.

Neben dem Schwimmbecken

Ja aber hallihallo, und ich hab gemeint, du musst heute arbeiten. Sie, Herr Bademeister, wollen Sie nicht auch ins Wasser? Lukas, musst du so gruusig ins Wasser schnudern? Hast du nicht geschaut, du Trottel? Riesentitten, im Fall. Du darfst den Männern einfach kein Anzeichen geben, sonst hast du sie für den Rest des Abends am Arsch. Ich finde, der Herr Waldvogel ist der herzigste Bademeister von der ganzen Welt!

Beim Kinderbecken

Alex, du bist ein kleiner Sauhund! Hey, der Delfin gehört mir! Du Wichser, du hast mich voll gehauen! Auauauauauau! Papi lueg, Papi lueg, Papi lueg! Wehe, du haust mich noch mal. Diese Blöterli kitzeln im Fall megaschön. Oh mein Gott! Uaaaaaaaaaah! Das machen wir später, Yannick, der Papi muss erst mal in aller Ruhe eins rauchen. Schau Cyrill, so musst du springen. Ich muss uumegadringend aufs WC! Der Typ ist irgendwie auch schon seit einem Jahrhundert Bademeister hier, aber er ist noch ein Süsser und sieht jung aus, Knackarsch. Allgemein seh ich aber mehr schöne Frauen als schöne Männer hier, schade. Lass mich los, du Arschloch. Voll easy. Sie hat sich jetzt einen neuen Stecher aus Gabun zugelegt. Voll geil. Papi, Papi, Papi, dalf ich auf die Lutschbahn? Schau dir die Kleinen mal an: Verspielte Monster, oder?

Auf der Liegewiese

Hast du sie gesehen? Ihre Augen sind irgendwie so schwarz wie die Nacht, so kroatisch irgendwie, weisch. Du musst einfach dran bleiben an der. Hey, diese Augen, Mann. Klar, sie ist nicht grad die Grösste, dafür ist sie ein megaherziger Zwerg. Hey, nächste Woche bekomm ich endlich ein iPhone! Hey, hueregeil! Hey was, du bist aus Glarus? Ob ichs schon unter der Dusche gemacht hab? Ja, ist aber ziemlich unbequem. Hey, gehen wir jetzt endlich? Ok. Achtung, fertig, los! Hey, kennst du die, die nackt auflegt? DJ Catastropha oder so. Echt Mann, die steht oben ohne am Mischpult. Oh, die Vanessa ruft mich an, die Vanessa! Wegwegwegwegweg, das ist mein Badetuch! Gehen wir? Dann geh ich halt allein. Gehst du jetzt zu den zwei Tschiggis rüber? Warum seid ihr plötzlich so still? Hey, habt ihr gewusst, dass der Chrigi ein Nazi geworden ist? War das nicht der, der immer so in der Nase herum gegrübelt hat? Hey, es war so schön, als wir all unsere Schulordner verbrannt haben! Hey, jetzt gib diesen Joint endlich weiter. Ich hab einfach keine Kraft mehr, es schneidet mir voll die Luft ab, ich muss da raus, ich bin jetzt seit ich dreizehn bin immer in einer Beziehung gewesen. Muss glaubs mal lernen, allein zu sein. Aber erst die Operation, dann mach ich Schluss. Einfach herrlich, oder? Hey, gehen wir? Gehen wir. Achtung, fertig, los!

“Over the Rainbow” ist eins der Lieder, die wir nie zum ersten Mal hören. Geschrieben von einem Kind russischer Einwanderer, gesungen von einer jungen Schauspielerin auf Drogen, geliebt von den Soldaten im Zweiten Weltkrieg, gehätschelt von den Schwulen in die Sechzigern, dreihundert Mal nachgespielt, in über hundert Werbefilmen verwendet, kommt “Over the Rainbow” immer wieder in die Hitparade und setzt sich mit seinem Oktavsprung im Ohr fest.

Eine Handvoll Leute sind dank dem Song zu Millionen gekommen. Andere haben an diesem Lied gelitten wie an einer chronischen Krankheit. Die meisten hören es einfach gern. Manchmal lief es auf unserer Redaktion so oft, dass eine Kollegin ein Moratorium verlangte.

Wir sind nach Hawaii geflogen, um das Leben des dicksten Popstars aller Zeiten zu recherchieren. Israel Kamakawiwo’ole, der sanfte Riese, war mehr als tausend Pfund schwer, als er starb. Seine Version des Liedes hört man in Honolulu an jeder zweiten Strassenecke. Wir haben uns mit der Wissenschaft des Ohrwurms beschäftigt und den Song durchleuchtet, als bedienten wir ein Röntgengerät für Töne. Wir haben die Erben des Liedes getroffen, haben sie auf die Couch gelegt und ihnen zugehört.

Als wir fertig waren, haben wir das Lied gehört wie neu. Vielleicht geht es euch auch so, wenn ihr das Folio gelesen habt, das heute der NZZ beiliegt.

Heute, so ab sechs, feiern wir dieses Heft. Natürlich in der Regenbogenbar, die sich im Rosenhof befindet, mitten im Dörfli. Es gibt Musik – nichts als Coverversionen unseres Liedes. Und es gibt Gratisalk – eine Rainbowle.

Kommt!

Wir haben es mit einer Anzeigenbroschüre zu tun, die in Zürichs Alternativrestaurants aufliegt. Das Blatt erscheint “alle 14 Tage bzw. 3 Wochen” und heisst A-Bulletin, gestern bekam ich es mal wieder in die Hände. Nirgends findet man Inserate, die so lustig und so traurig sind: Ein Pferd sucht nach einem “Alterspensionsplatz”, eine Heilerin lehrt Allergiker, “den Pollenflug zu lieben”, DJ Stefan lädt zur “Tanzeria”, im “HerzBrändli” kann man “Schuldgefühle auflösen und das Herz schreiben lassen.” Dann wäre da noch der “reife, kreative Mann, der das FKK-Leben entdeckt hat” und selbiges mit einer “offenen Frau” teilen möchte. Unwiderstehlich auch diese Einladung: “Begegne der Wolfsfrau in dir!”

Ein Mini-Best-of aus dem aktuellen A-Bulletin:

Ich, 23jähriger, schwarzer Wallach, suche Alterspensionsplatz. Mit Pferdegesellschaft, Offenstall und grosser Weide. Ich möchte zu Menschen, die verstehen, dass auch Pferde eine Seele haben und mich nicht als Bock betrachten. (…) Freue mich auf Ihr Angebot! 079 255 19 90

EroSpirit®-Tantra (…) Tantra-Wochenende – Unverschämt glücklich. 043 535 71 79

Hörst du auch diesen unwiderstehlichen Ruf deiner Seele, Verwantwortung für diesen Planeten zu übernehmen? (…) Gründung einer kleinen, weltoffenen Lebensgemeinschaft, individuelles Entfalten und gemeinsames, achtsames Wachsen, herzhaftes Wirken nach aussen. Inspiriert? 079 306 93 28

Es knospt unter den Blättern, das nennen sie Herbst. (…) Eine Entdeckungsreise in Achtsamkeit, zu dem, was uns lebendig fühlen und blühen lässt. (…) KOSTEN? Minimum 280.- (…) 033 243 20 33

Allergiker lernen, den Pollenflug zu geniessen – atelier-wolke7@bluewin.ch

KONZERT zum Mitsingen PETER MAKENA “Fly fly high, let the earth touch the sky…” (…) Anschl. “Tanzeria” mit DJ Stefan Kontakt: singdichfrei@gmx.net

Begegne der Wolfsfrau in dir! Lasst uns diese ursprüngliche Intuition der wilden Frau wiederentdecken! Basierend auf dem Buch “Die Wolfsfrau” wollen wir unsere persönliche Wolfsfrau erwecken, pflegen und feiern. (…) info@getincontact.ch

Visionssuche in Ligurien (…) Mobile 079 486 28 03

“Im Reich des Pan” Naturkommunikation erlernen und vertiefen im Heilkräuter-Kraftort Devas Garden in Bubikon, ZH. (…) Infos bei Andreas unter: 077 449 07 00

Schamanischer Trommelkurs – circles of life, circles of healing. (…) 079 238 16 78

20 Wolldecken für Schwitzhütten oder anderen Gebrauch (sauber) Tel: 079 746 81 16

N wie Notlüge – Das Steueramt akzeptiert auch keine Notlügen. Wahre Zahlen erarbeitet das Büro von Moos. (…) Komme mit dem ÖV.

Das Gefieder der Sprache streicheln… Deine Texte flugs, präzis und professionell lektoriert! 043 300 42 28

Lust auf die Westmongolei? (…)

Welcher Mann ist bereit, mit mir durchs Leben zu tanzen? In die Tiefen des Meeres zu tauchen und zu den Sternen zu fliegen? Ich möchte mich mit dir vom stürmischen Wind tragen und vom Feuer verbrennen lassen. Chiffre: Lebenstanz.

☺ Damit uns das Lachen nicht vergeht… ☺ Ein Lachseminar mit Annemarie (…) www.lach-oase.ch

Akademie des Mitgefühls (…) Ruf an! 055 280 39 40

“Steimüürli”-Baukurse (…) Theorie + Praxis (…) www.erholungsoasetessin.ch

Aktuelle Kurse im HerzBrändli: Schuldgefühle auflösen, Lass dein Herz schreiben, Achtsames Kochen, Wie emotional ist Wissenschaft? (…) www.herzbraendli.ch

Als reifer, kreativer Mann habe ich das FKK-Leben entdeckt. Möchtest du, offene Frau, mit mir diesen Sommer viele Sonnenstunden geniessen? Chiffre: Sonnenschein.

Er schiesst übers Feld, schnell wie im Galopp. Er sitzt im Sattel und schwingt den Schläger: Thomas «Wälde» Walther spielt Polo auf Asphalt und haut den Plastikball durch Häuserschluchten. Er ist Velomech und Velokurier, sein Rad fährt er wie ein Artist, der aus dem Zirkus geflogen ist. Seine Beine sind warm, die Augen wach, das Fahrrad glänzt. Der Ball liegt in der Mitte des Feldes, die Spieler harren hinter ihren Toren, auf einen Pfiff preschen sie auf den Ball los. Wälde bremst und beschleunigt, bremst und beschleunigt, bremst und fällt.

«Tammisiech!»

Wälde braucht kein Pferd fürs Polo, sein Drahtesel tuts auch. Braucht keinen Holzschläger, ein Skistock mit Gummirohr als Schlagfläche genügt. Er isst keine Kohlenhydrate vor dem Spiel und braucht kein Pferd mit Präparaten zu füttern, Öl fürs Velo und Bier für ihn – das reicht. Er benötigt keinen Rasen von 270 Meter Länge, ein Parkplatz ist gut genug. Benötigt weder Helm noch Lederstiefel noch Poloshirt. Was er braucht, sind Aufmerksamkeit, Wendigkeit, Heftpflaster. Das Feld misst etwa 30 auf 70 Meter, mal mehr, mal weniger. Das Spiel ist ein Beschleunigen und Bremsen ohne Ende, Stürze und Flüche durchziehen den Match wie der Refrain den Punksong. Die Spieler schlagen sich die Knie auf, schürfen sich die Beine, prellen sich die Ellbogen, renken sich die Schultern aus. Doch meist fahren die Männer unverletzt und mit weit offenen Augen auf dem Feld umher. Wenn ihnen ein Schuss gelingt, brüllen sie vor Glück.

«Läck!»

Sie müssen einen Ball ins Tor schiessen, ohne zu Boden zu fliegen oder den Gegner zu rammen. Das Spiel endet, wenn ein Team fünf Tore erzielt hat. Wer mit einem Fuss den Boden berührt, muss eine Stelle am Feldrand mit dem Schläger antippen. Das sind die Regeln, doch sie sind nirgends festgehalten und ändern sich von Stadt zu Stadt. Velopolo war 1908 Demonstrationssport an den Olympischen Spielen von London, Irland gewann. Dort hatte, so die Legende, ein Vierteljahrhundert früher der erste Match stattgefunden. Zweite Legende zum Ursprung des Spiels: Britische Kolonialbeamte wollten in Indien Polo spielen, hatten aber kein Geld für Pferde. Also liessen sie sich ein Dutzend Fahrräder schicken, Ende des vorletzten Jahrhunderts. Britische Soldaten, stationiert auf dem Subkontinent, brachten das Spiel dann nach Hause.

«Huere Schiissdräck!»

Im Juni 2009 fand in Berlin das bisher grösste Velopoloturnier statt, vierzig Teams aus dreissig Städten reisten an. In Zürich spielen zwei Dutzend Leute Velopolo, vor allem Fahrradkuriere. Sie treffen sich hinter der Bäckeranlage, im Seefeld, bei der Hardau. Es braucht wenig dafür: Taschen markieren die Tore, Mäuerchen schliessen das Feld ein, mässig begeisterte Passanten übernehmen die Zuschauerrolle. Man spielt drei gegen drei, Schiedsrichter brauchts keine – Velopolo, das sei ein Sport für Gentlemen, sagt Wälde, keiner für Weichlinge. Was nicht heisse, dass Frauen ausgeschlossen seien. «Uns gehts schlicht um Fairness. Wie jedem Gentleman.»

«Aua-aua-aua!»

Wälde ist Mitte dreissig, eröffnete vor zwei Jahren eine Velowerkstatt an der Steinstrasse in Wiedikon, fuhr lange als Velokurier durch die Stadt, auf der Suche nach Abkürzungen. Er hat sein Fahrrad fürs Spiel verbessert, eine kleine Übersetzung angebracht, um besser beschleunigen zu können, eine Kunststoffplatte ans Vorderrad geschraubt, damit kein Schläger in die Speichen gerät. Die meisten Spieler arbeiten als Kuriere, im Aufenthaltsraum an der Hardstrasse haben die Leute vom Veloblitz meist ein paar Schläger auf dem Spind. Wenn sie Lust haben, trommeln sie Leute zusammen und suchen ein Feld. Rollen die Zürcher gegen die Basler an, gewinnen Letztere – sie spielen öfter, treiben den Sport wie einen Wettkampf, fordern Teams aus Deutschland heraus, etwa die Münchner, die dreimal die Woche üben.

«Gopf!»

Es ist Abend, in der Ferne gehen die Lichter der Hardau an. Die Wolken hängen tief, Regen pladdert aufs Feld, das Spiel geht weiter. Die Männer kneifen die Augen zusammen, um den Ball auch im Dämmerlicht zu sehen. Sie holen aus mit ihren Schlägern, sie schieben die Zunge in den Mundwinkel, sie verfehlen. Treffen ist schwierig, weil man die Flanke des Schlägers lediglich bei Pässen brauchen darf, für Schüsse aufs Tor gilt nur die Spitze. Der Regen wird heftiger, der Teer dampft, die Tropfen hüpfen, die Spieler brechen ab. Auf ihren Rädern fahren sie davon und treffen sich wieder, wenn sie Lust haben. Lust auf ein paar Stürze.

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