Neurobiologische Forschungen lassen sehr zweifeln, wie aufnahmebereit das menschliche Gehirn für die Gedanken anderer ist. Fragt sich, ob eine Kolumne dann nicht zwecklos ist.
*
Vielleicht kennen Sie das auch. Sie versuchen, Onkel Herbert zu überzeugen, dass man, sagen wir, die Grünen heute durchaus wählen kann, haben zwei Dutzend Argumente, Zahlen, Fakten. Und am Ende sagt Herbert: Ja, mein Junge, ich weiß, die stricken im Bundestag und haben ja so schmuddelige Sachen an. Alles umsonst.
So ähnlich geht es einem gelegentlich, wenn man eine Kolumne über wirtschaftspolitische Problemstellungen schreibt, heute zum 500. Mal freitags an dieser Stelle. Da hat man auch viele Argumente, Zahlen und Experten zusammengetragen, und am Ende gibt es Leser, die sich für etwas bedanken, was man gar nicht geschrieben hat.
Umso größere Zweifel schossen vor Kurzem in mir hoch, als ich einen großen Neurobiologen traf, dessen Erkenntnisse man etwa so übersetzen könnte: dass jeder Mensch seine Kerndeutung der Welt festlegt, lange bevor erstmals ein Kolumnist die Chance hat, daran etwas zu ändern. Was Kolumnen irgendwie zwecklos erscheinen lässt. Jedenfalls im Normalfall.
Wundersame Hirnwindung
Getroffen habe ich Al Seckel bei einem Dinner in Davos, bei dem er eindrucksvoll darlegte, wie das menschliche Gehirn Dinge wahrnimmt und verarbeitet, wobei das Wahrnehmen an sich bei allen gleich ist. Über das Verarbeiten entscheide dagegen ein System aus politischen, ethischen und anderen Glaubenssätzen. Und das sei eben nicht bei allen dasselbe.
Hier liegt die Krux. Beim Messen von Hirnsströmen kam Erstaunliches heraus: Das Gehirn hat offenbar eine ungeheure Neigung, alles, was an Informationen reinkommt, sofort damit abzugleichen, was das eigene Glaubenssystem sagt und erwartet. Was ich ahnte – selektive Wahrnehmung: was stört, wird durchgewinkt. Nur geht die Hirnwindung noch weiter, so Al Seckel: Das Gehirn versuche, jede noch so widersprüchliche Information gleich so umzuwandeln und zu kartografieren, dass sie ins Denksystem passe. Mehr noch: dass sie das eigene Weltbild sogar unterstütze – selbst wenn sie falsch ist.
Als ich am nächsten Tag einen deutschen Wirtschaftsvertreter treffe, kommen wir, was sonst, auf die Griechen. Worauf der Mann meint, dass die halt noch nie richtig arbeiten wollten. Was ich gleich datenkundig widerlege, indem ich aufzähle: dass der Grieche weniger Feiertage habe, mehr Stunden arbeite und so weiter.
Während ich das so sage, nickt der Mann. Bis ich fertig bin, und er meint: Ja, wenn er sich das so vorstelle, bei Sonne und Wein in Griechenland, da hätte er auch keine Lust zu arbeiten. Ah. Ich denke: Das muss ich Al Seckel erzählen. Und stelle mir vor, wie das Gehirn meines Gegenübers jede Arbeitsstundeninformation aufgenommen und sofort umgewandelt hat. Und dass ihn all das bestätigt hat, dass der Grieche eben nicht will.
Nun hat diese Erkenntnis mehrere schwere Konsequenzen. Etwa dass der Grieche keine Chance hat. Nach Seckel fixiert das Gehirn unser Kernglaubenssystem schon weitgehend, wenn wir klein sind. Mit sieben, acht Jahren sei das „Mapping“ fertig. Da ist der Grieche bei uns einfach durch.
Andererseits könnten die wundersamen Gehirntätigkeiten gut erklären, warum, sagen wir, unser Bundesbankpräsident so dagegen ist, Staatsanleihen zu stützen – obwohl es auf der Welt kaum einen großen Experten gibt, der das nicht empfiehlt, und eine Menge dafür spricht, dass es auch für uns das Beste wäre. Wahrscheinlich kommt jeder neue Beleg bei Jens Weidmann oben an, wird dann aber mit einem tief sitzenden Stabilitätsglaubenssystem abgeglichen – und so umgewandelt, dass er danach noch mehr gegen Anleihekäufe ist.
Da macht das Gehirn, bei aller Achtung, offenbar auch mal ziemlichen Unsinn. Was auch die schwerwiegende Frage aufwirft, ob es dann überhaupt einen Zweck hat, offene Briefe zu schreiben. Oder Kolumnen (und Leserbriefe zu Kolumnen).
Wenn man nur für die schreibt, deren Weltsicht mit acht Jahren zufällig ähnlich kartografiert wurde, ist das ja nur bedingt sinnvoll. Man will ja den überzeugen, der anderes denkt, bei dem das blöde Gehirn aber alles, was man sagt, gleich so umwandelt, dass der denkt, man habe genau das gesagt, was er schon immer dachte. Das mag neurobiologisch bestimmt einen guten Zweck haben und unsere Art erhalten oder so, scheint ansonsten aber nicht wirklich hilfreich.
Nun wirkt die logische Konsequenz daraus auch nicht unbedingt annehmbar. Zumindest für Kolumnisten, die davon leben, im Grunde aber auch für alle, die andere von etwas überzeugen wollen, was wir ja eigentlich ständig wollen. (Nehmen wir mal: „Ihr geht jetzt ins Bett, Kinder.“ Das wird bei denen im Gehirn ja offenbar auch oft falsch kartografiert.)
Wahrscheinlich funktioniert das Mapping auch gar nicht so kategorisch. Sonst ließe sich ja nicht erklären, warum die Menschheit gelegentlich doch Fortschritte macht. Vor 150 Jahren gehörte es noch zum üblichen Mapping, dass Männer sich im Morgengrauen duellieren, wenn sie sich mal nicht einig werden. Wenn das Gehirn solche Grundregeln immer so früh und endgültig festschriebe, wäre das womöglich heute noch so.
Gut möglich, dass das Gehirn bei einem Manager mit gut betoniertem Griechenbild weit strikter gemappt ist, als das bei den anderen der Fall ist, wo das Mapping irgendwie danebengegangen ist. Und dass bei diesen Anderen das Flexibilitätspotenzial dafür liegt, neue Gedanken und Informationen aufzunehmen und eher mal zum Fortschritt der Welt beizutragen. Was ja wiederum wichtig ist, wenn es wie jetzt plötzlich Probleme gibt, die vom Kernglaubensbild noch nicht abgedeckt sein können. Sagen wir: EFSF-Hebel. Wer dann alles in sein altes Weltbild umzuwandeln versucht, kriegt ein Problem. Was ja erklären könnte, warum unsere Kanzlerin nach jedem neuen Krisenschub mal wieder Schuldenbremsen einführen will – obwohl das die umworbenen Märkte gar nicht beeindruckt.
Wenn das stimmt, sind Kolumnen natürlich extrem wichtig, um jene Regierenden und sonst wie Verantwortlichen mit Diagnosen und Ideen zu inspirieren, bei denen das Mapping noch Platz für Neues gelassen hat. Vorausgesetzt natürlich, beim Kolumnisten ist das Weltbild auch nicht so starr kartografiert, dass es nicht mehr verrückbar ist – aber stark genug, um nicht von Woche zu Woche das Gegenteil zu schreiben und auch mal auf etwas rumzureiten.
Überzeugend. Außerdem gilt: Wenn das mit dem Mapping stimmt, wie Al Seckel sagt, muss in der Ausformung des Weltbilds bei einer Menge Menschen ja auch irgendetwas angelegt sein, was sie dazu veranlasst zu glauben, dass es wichtig ist, Kolumnen zu lesen.
Bis nächsten Freitag dann.
Email: fricke.thomas@guj.de