Das
Tao Te King
von
Lao Tse
Chinese - English by
Stephen Mitchell, 1988
English - German by
Peter Kobbe, 2003

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1

Das Tao, das mitgeteilt werden kann,
ist nicht das ewige Tao.
Der Name, der genannt werden kann,
ist nicht der ewige Name.

Das Unnennbare ist das ewig Wirkliche.
Das Benennen ist der Ursprung
aller Einzeldinge.

Frei von Begierde, erkennst du klar das Geheimnis.
In Begierde verstrickt,siehst du nur die
Erscheinungsformen.

Doch Geheimnis und Erscheinungsformen
entspringen aus derselben Quelle.
Diese Quelle bezeichnet man als Dunkelheit:

das Dunkel inmitten von Dunkelheit,
das Tor zu allem Verstehen.


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2

Wenn gewisse Dinge als schön gelten,
werden andere Dinge hässlich.
Wenn gewisse Dinge als gut gelten,
werden andere Dinge schlecht.

Sein und Nichtsein erzeugen einander.
Schwierig und leicht stützen einander.
Lang und kurz bestimmen einander.
Hoch und niedrig sind abhängig voneinander.
Vorher und nachher folgen einander.

Daher handelt der Meister,
ohne irgendetwas zu tun,
und lehrt, ohne irgendetwas zu sagen.
Die Dinge erscheinen, und er lässt sie kommen;
die Dinge verschwinden,und er lässt sie gehen.
Er hat, besitzt aber nicht,
handelt, erwartet aber nicht.
Wenn sein Werk getan ist, vergisst er es.
Ebendarum währt es ewig.


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3

Verehrt man die Großen zu sehr,
werden die Menschen kraftlos.
Steht Besitz zu hoch im Kurs,
beginnen die Menschen zu stehlen.
Hat man zu viele Wünsche,
verirrt sich das Herz.

Der Meister lenkt,
indem er den Geist der Menschen leert
und ihr Innerstes füllt,
indem er ihren Ehrgeiz schwächt
und ihre Entschlossenheit stärkt.
Er hilft den Menschen, alles loszuwerden,
was sie wissen und was sie begehren,
und sorgt für Verwirrung bei jenen,
die sich für Wissende halten.

Übe dich im Nichttun,
und alles fügt sich zum Guten.


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4

Das Tao ist wie ein Brunnen:
genutzt, aber nie aufgebraucht.
Es ist wie die ewige Leere:
angefüllt mit unendlichen Möglichkeiten.

Es ist verborgen und doch immer da.
Ich weiss nicht, wer es hervorbrachte.
Es ist älter als Gott.


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5

Das Tao ergreift nicht Partei;
es bringt sowohl das Gute als auch das Böse hervor.
Die Meister ergreifen nicht Partei;
ihnen sind sowohl Heilige als auch Sünder willkommen.

Das Tao ist wie ein Blasebalg:
Es ist leer und doch unendlich wirksam.
Je mehr du es anwendest, desto mehr bewirkt es;
je mehr du davon redest, desto weniger begreifst du es.

Halte am Mittelpunkt fest.


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6

Das Tao bezeichnet man als die große Mutter:
Leer, doch unerschöpflich,
bringt es unzählige Welten hervor.

Es ist immer in dir da.
Du kannst es ganz nach Belieben verwenden.


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7

Das Tao ist unbegrenzt, ewig.
Warum ist es ewig?
Es wurde nie geboren;
folglich kann es nie sterben.
Warum ist es unbegrenzt?
Es hat keine Eigeninteressen;
folglich steht es allen Wesen zur Verfügung.

Der Meister bleibt zurück;
ebendarum ist er den anderen voraus.
Er haftet nicht an den Dingen;
ebendarum ist er eins mit ihnen.
Weil er sich losgelassen hat,
verwirklicht er sich vollkommen.


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8

Das höchste Gut ist wie das Wasser, das alle Dinge nährt,
ohne sich darum zu bemühen.
Es gibt sich mit den niedrigen Plätzen zufrieden, die man
gemeinhin gering schätzt.
Somit gleicht es dem Tao.

Beim Wohnen: Wohne dicht am Boden.
Beim Denken: Halte dich ans Einfache.
Im Streit: Sei fair und großzügig.
Beim Lenken und Führen: Versuch nicht, Kontrolle aus­zuüben.
In der Arbeit: Tu, was dir Freude bereitet.
Im Familienleben: Steh voll und ganz zur Verfügung.

Wenn du zufrieden einfach nur du selbst sein kannst
und dich mit anderen weder vergleichst noch misst,
wird jeder dich achten.


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9

Fülle deine Trinkschale bis zum Rand,
und sie wird überlaufen.
Schärfe dauernd dein Messer,
und es wird stumpf werden.
Jage Geld und Sicherheit nach
und dein Herz wird sich niemals öffnen.
sorge dich um den Beifall der Leute,
und du wirst ihr Gefangener sein.

Verrichte dein Werk, tritt dann zurück.
Das ist der Weg zur Gelassenheit.


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10

Kannst du deinen Geist von seinem Herumwandern ab
bringen und am ursprünglichen Einssein festhalten?
Kannst du deinen Körper so geschmeidig werden lassen,
dass er dem eines neugeborenen Kindes glicht?
Kannst du deine innere Sehkraft reinigen, bis du nur
noch das Licht siehst?
Kannst du Menschen lieben und sie führen, ohne ihnen
deinen Willen aufzuzwingen?
Kannst du die wichtigsten Angelegenheiten bewältigen,
indem du den Ereignissen freien Lauf lässt?
Kannst du von deinem eigenen Geist Abstand nehmen
und so alle Dinge begreifen?

Hervorbringen und nähren,
haben, ohne zu besitzen,
handeln ohne Erwartungen,
führen, ohne zu herrschen:
Das ist die höchste Tugend.


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11

Wir fügen Speichen in einem Rad zusammen,
aber es ist das Loch in der Mitte,
das die Bewegung des Wagens bewirkt.

Wir formen Ton zu einem Topf,
aber es ist die Leere darin
die das Gewünschte enthält.

Wir zimmern Holz für ein Haus,
aber es ist der Innenraum,
der es bewohnbar macht.

Wir arbeiten mit Seiendem,
doch Nichtsseiendes macht den Nutzen aus.


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12

Farben machen das Auge blind.
Töne machen das Ohr taub.
Gewürze stumpfen den Geschmackssinn ab.
Gedanken schwächen den Geist.
Begierden dörren das Herz aus.

Die Meister beobachten die Welt,
vertrauen aber ihrer inneren Sehkraft.
Sie lassen die Dinge kommen und gehen.
Ihr Herz ist offen wie der Himmel.


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13

Erfolg ist so gefährlich wie Misserfolg.
Hoffnung ist so nichtig wie Angst.

Was heißt: Erfolg ist so gefährlich wie Misserfolg?
Ob du die Leiter hinaufsteigst oder hinunter -
deine Stellung ist wackelig.
Wenn du mit beiden Beinen auf dem Boden stehst,
wirst du immer im Gleichgewicht sein.

Was heißt: Hoffnung ist so nichtig wie Angst?
Hoffnung und Angst sind beide Trugbilder,
die aus dem Selbstbild entstehen.
Machen wir uns kein Bild von uns selbst-
wovor müssen wir uns dann ängstigen?

Betrachte die Welt als dein Selbst,
habe Vertrauen zum Sosein der Dinge,
liebe die Welt als dein Selbst;
dann kannst du dich um alle Dinge kümmern.


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14

Schau - und es ist nicht zu sehen.
Horch - und es ist nicht zu hören.
Greif- und es ist nicht zu fassen.

Oben - ist es nicht hell.
Unten - ist es nicht dunkel.
Saum- und nahtlos, unnennbar,
kehrt es ins Reich des Nichts zurück.
Form, die alle Formen in sich schließt,
Bild ohne Bilder,
subtil, jenseits aller Begriffe.

Nähere dich ihm - und da ist kein Anfang;
Folge ihm und da ist kein Ende.
Du kannst es nicht kennen, aber es sein.
Lebe gelassen dein Leben,
erkenne nur klar, wo du herkommst:
Das ist die Essenz der Weisheit.


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15

Die Meister aus alter Zeit waren tief schürfend und
scharfsinnig.
Ihre Weisheit war so unergründich,
sie lässt sich gar nicht beschreiben;
das Einzige, was wir beschreiben können,
ist das Erscheinungsbild jener Alten.

Sie waren vorsichtig wie jemand, der einen zugefrorenen
Bach überquert.
Wachsam wie ein Krieger in Feindesland.
Höflich wie ein Gast.
Wandlungsfähig wie schmelzendes Eis.
Formbar wie ein Holzblock.
Aufnahmefähig wie ein Tal.
Klar wie ein Glas Wasser.

Hast du die Geduld zu warten,
bis dein Schlamm sich setzt und das Wasser klar ist?
kannst du regungslos verharren,
bis die richtige Handlung sich von selbst ergibt?

Die Meister streben nicht nach Erfüllung.
Ohne Streben, ohne Erwartung
sind sie immer bereit und heißen alle Dinge willkommen.


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16

Mach deinen Geist völlig gedankenleer.
Stimm dein Herz auf Frieden ein.
Sieh dem Getümmel der Wesen zu,
aber sinne nach über ihre Rückkehr.

Jedes einzelne Wesen im Universum
kehrt zur gemeinsamen Quelle zurück.
Zur Quelle zurückkehren - das ist heitere Gelassenheit.

Wenn du die Quelle nicht klar erkennst,
irrst du dahin in Verwirrung und Leid.
Wenn du klar erkennst, woher du kommst,
kannst du ganz natürlich duldsam werden
und unvoreingenommen, belustigt,
gutherzig wie eine Großmutter,
würdevoll wie ein König.
Ins Wunder des Tao versenkt,
kannst du alles bewältigen, was das Leben dir bringt,
und wenn der Tod kommt, bist du bereit.


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17

Wenn der Meister regiert, ist sich das Volk
kaum bewusst, dass es ihn gibt.
Der Zweitbeste ist ein Führer, den man liebt.
Der Nächste einer, vor dem man Angst hat.
Der Schlechteste ist einer, den man verachtet.

Vertraust du den Leuten nicht,
machst du selbst sie nicht vertrauenswürdig.

Der Meister redet nicht, er handelt.
Wenn sein Werk getan ist,
sagt das Volk: »Unglaublich:
Wir haben es ganz allein vollbracht!


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18

Wenn das große Tao in Vergessenheit gerät,
tauchen Rechtschaffenheit und Frömmigkeit auf.
Wenn das natürliche Denken verfällt,
treten Schlauheit und Wissen hervor.
Wenn in der Familie Unfrieden herrscht,
regt sich die Kindespflicht.
Wenn der Staat ins Chaos stürzt,
entsteht die Vaterlandsliebe.


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19

Schaffe Heiligkeit und Weisheit ab,
und die Menschen werden hundertmal glücklicher sein.
Schaffe Moral und Gesetze ab,
und die Menschen werden das Richtige tun.
Schaffe Ehrgeiz und Gewinnsucht ab,
und es wird keine Diebe geben.

Sollten diese drei Schritte nicht reichen,
dann bleib einfach im Mittelpunkt des Kreises
und lass allen Dingen freien Lauf.


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20

Hör auf zu denken - und mach deinen Problemen ein Ende.
Worin unterscheiden sich denn Ja und Nein?
Worin unterscheiden sich denn Erfolg und Misserfolg?
Musst du schätzen, was andere schätzen
meiden, was andere meiden?
Wie lächerlich!

Andere Menschen sind aufgeregt,
als wären sie bei einer Parade.
Ich allein bleibe von allem unberührt,
ich allein bin ausdruckslos,
wie ein Kleinkind, das noch nicht lächeln kann.

Andere Menschen haben, was sie brauchen;
ich allein besitze nichts
und wandre ziellos umher
wie jemand, der kein Zuhause hat.
Ich bin wie ein Narr,mein Geist ist so leer.

Andere Menschen sind hell leuchtend;
ich allein bin dunkel verborgen.
Andere Menschen sind scharf, gescheit;
ich allein bin stumpf und dumm.
Andere Menschen verfolgen bewusst einen Zweck,
ich allein weiß von nichts.

Ich treibe wie eine Woge auf dem Ozean,
ich wehe so ziellos wie der Wind.

Ich unterscheide mich von normalen Menschen. Ich trinke aus den Brüsten
Ich trinke aus den Brüsten der großen Mutter.


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21

Die Meister bleiben in ihrem Sinn
stets eins mit dem Tao;
ebendies gibt ihnen ihren strahlenden Glanz.

Das Tao ist unbegreifbar.
Wie kann ihr Sinn eins damit sein?
Weil sie nicht an Begriffen festhalten.

Das Tao ist dunkel und unergründlich.
Wie kann es ihnen Glanz verleihen?
Weil sie es lassen.

Bevor noch Zeit und Raum bestanden -
Seitdem besteht das Tao schon.
Es liegt jenseits von Sein und Nichtsein.
Woher ich weiß, dass dies zutrifft?
Ich schaue in mich hinein und sehe es.


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22

Willst du ganz werden,
dann sei ruhig halb.
Willst du gerade werden,
dann sei ruhig krumm.
Willst du voll werden,
dann sei ruhig leer.
Willst du wiedergeboren werden,
dann stirb ruhig.
Willst du, dass dir alles gegeben wird,
dann gib alles hin.

Die Meister, die im Tao wohnen,
gehen allen Wesen mit gutem Beispiel voran.
Weil sie sich nicht zeigen,
können alle ihr Licht sehen.
Weil sie nichts zu beweisen brauchen,
können alle ihren Worten vertrauen.
Weil sie nicht wissen, wer sie sind, können
können alle sich in ihnen wiedererkennen.
Weil sie kein Ziel im Sinn haben,
glückt alles, was sie tun.

Als die Meister aus alter Zeit sagten:
»Willst du, dass dir alles gegeben wird,
dann gib alles hin«, in
war das kein leeres Gerede.
Nur indem das Tao in dir lebt,
kannst du wahrhaft du selbst sein.


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23

Äußere dich vollständig,
und verhalte dich dann ruhig.
Sei wie die Naturkräfte:
Wenn es stürmt, ist das nur der Wind;
wenn es regnet, ist das nur der Regen;
wenn die Wolken vorüberziehen, tritt die Sonne hervor.

Öffnest du dich dem Tao,
so bist du eins mit dem Tao
und kannst es vollständig verkörpern.
Öffnest du dich der Einsicht,
so bist du eins mit der Einsicht
und kannst sie vollständig anwenden.
Öffnest du dich dem Verlust,
so bist du eins mit dem Verlust
und kannst ihn vollständig hinnehmen.

Offne dich dem Tao
und vertraue auf deine natürlichen Reaktionen;
dann fügt sich eins ins andere.


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24

Wer auf Zehenspitzen steht,
steht nicht sicher.
Wer vorauseilt,
kommt nicht weit.
Wer zu glänzen versucht,
verdunkelt sein eigenes Licht.
Wer sich selbst definiert,
kann nicht erfahren, wer er wirklich ist.
Wer Macht hat über andere,
kanns ich selbst keine Macht verleihen.
Wer sich an sein Werk klammert,
wird nichts schaffen, was von Dauer ist.

Willst du eins mit dem Tao sein,
so tu deine Arbeit und dann lass los.


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25

Es gab etwas Formloses und Vollkommenes,
bevor das Universum entstand.
Gelassen ist es und leer.
Einzig und unverständlich.
Grenzenlos und ewig verfügbar.
Es ist die Mutter des Universums.
In Ermangelung eines besseren Namens
nenne ich es das Tao.

Es fließt durch alle Dinge,
innen und außen, und kehrt zurück
zum Ursprung aller Dinge.

Das Tao ist groß.
Das Universum ist groß.
Die Erde ist groß.
Der Mensch ist groß.
Das sind die vier großen Mächte.

Der Mensch folgt der Erde.
Die Erde folgt dem Universum.
Das Universum folgt dem Tao.
Das Tao folgt nur sich selbst.


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26

Das Schwere ist die Wurzel des Leichten.
Das Unbewegte ist die Quelle aller Bewegung.

Demgemäß ist der Meister den ganzen Tag unterwegs,
ohne aus dem Haus zu gehen.
Wie großartig die Ansichten auch sein mögen -
er weilt gelassen in sich selbst.

Wozu sollte der Landesherr
wie ein Narr herumsausen?
Lässt du dich hin und her wehen,
dann verlierst du die Verbindung mit deiner Wurzel.
Lässt du dich von Rastlosigkeit antreiben
dann verlierst du die Verbindung mit deinem Wesenskern.


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27

Ein guter Reisender hat keine festen Pläne
und ist nicht erpicht darauf anzukommen.
Ein guter Künstler lässt sich von seiner Intuition
leiten, wohin immer sie will.
Ein guter Wissenschaftler hat sich von Theorien befreit
und hält seinen Geist offen für das, was ist.

Demgemäß sind die Meister für alle Menschen da
und weisen niemanden zurück.
Sie nutzen alle Situationen
und verschwenden nichts.
Das nennt man Verkörpern des Lichts.

Was ist ein guter Mensch anderes als der Lehrer eines schlechten?
Was ist ein schlechter Mensch anderes als die Aufgabe eines guten?
Wenn du dies nicht begreifst, gerätst du auf Irrwege,
wie intelligent du auch bist.
Es ist das große Geheimnis.


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28

Kenne das Männliche,
doch halte dich ans Weibliche:
Nimm die Welt auf in deine Arme.
Nimmst du die Welt auf,
dann wird das Tao dich nie verlassen,
und du wirst wie ein kleines Kind sein.

Kenne das Weiße,
doch halte dich ans Schwarze:
Sei ein Leitbild für die Welt.
Bist du ein Leitbild für die Welt,
dann wird das Tao stark sein in dir,
und es wird nichts geben, was du nicht zu tun vermagst.

Kenne das Persönliche,
doch halte dich ans Unpersönliche:
Akzeptiere die Welt, wie sie ist.
Akzeptierst du die Welt,
dann wird das Tao leuchtend hell sein in dir,
und du wirst zu deinem elementaren Selbst zurückkehren.

Die Welt wird aus dem leeren Raum gestaltet
wie Geräte aus einem Holzklotz.
Der Meister kennt die Geräte,
hält sich jedoch an den Klotz:
Somit kann er alle Dinge gebrauchen.


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29

Willst du die Welt verbessern?
Ich glaube nicht, dass man das kann.

Die Welt ist heilig.
Man kann sie nicht verbessern.
Willst du sie manipulieren, dann wirst du sie zugrunde richten.
Behandelst du sie wie einen Gegenstand, dann wirst du sie verlieren.

Es gibt mancherlei Zeit -
Eine dafür, vorn zu sein,
eine dafür, hinten zu sein;
eine dafür, in Bewegung zu sein,
eine dafür, in Ruhe zu sein;
eine dafür,kraftvoll zu sein,
eine dafür, erschöpft zu sein;
eine dafür, in Sicherheit zu sein,
eine dafür, in Gefahr zu sein.

Die Meister sehen die Dinge, wie sie sind,
versuchen jedoch nicht, sie zu kontrollieren.
Sie lassen sie ihren eigenen Weg gehen
und wohnen im Mittelpunkt des Kreises.


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30

Wer sich bei der Menschenlenkung auf das Tao verlässt,
versucht nicht,Entscheidungen zu erzwingen
oder Feinde mit Waffengewalt zu besiegen.
Denn für jede Kraft gibt es eine Gegenkraft.
Gewalt, auch wenn sie in guter Absicht angewandt wird,
fällt immer auf einen selbst zurück.

Der Meister erledigt seine Arbeit
und lässt es damit genug sein.
Er begreift, dass das Universum
sich für immer der Kontrolle entzieht
und dass der Versuch, Ereignisse zu beherrschen,
der Strömung des Tao zuwiderläuft.
Weil er an sich selbst glaubt,
versucht er nicht, andere zu überzeugen.
Weil er mit sich selbst zufrieden ist,
braucht er nicht den Beifall anderer.
Weil er sich selbst akzeptiert,
akzeptiert ihn die ganze Welt.


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31

Waffen sind die Werkzeuge der Gewalt;
alle Anständigen verabscheuen sie.

Waffen sind die Werkzeuge der Angst;
ein Anständiger wird sie meiden
es sei denn, er befindet sich in der höchsten Not,
und wird sie, wenn er dazu gezwungen ist,
so zurückhaltend gebrauchen wie nur irgend möglich.
Frieden ist sein höchster Wert.
Liegt der Frieden in Trümmern -
wie kann der Betreffende zufrieden sein?
Seine Feinde sind keine Dämonen,
sondern Menschen wie er selbst.
Er wünscht ihnen keinen persönlichen Schaden.
Auch freut er sich nicht über den Sieg.
Wie könnte er sich über den Sieg freuen
Und am Morden von Menschen Vergnügen finden?

In eine Schlacht zieht er ernst -
voll Trauer und mit großem Mitgefühl,
als nähme er an einem Begräbnis teil.


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32

Das Tao kann man nicht wahrnehmen.
Kleiner als ein Elektron,
enthält es unzählbare Galaxien.

Könnten große Männer und Frauen
im Tao zentriert bleiben,
wären alle Dinge in Einklang.
Die Welt würde zu einem Paradies werden.
Alle Menschen lebten in Frieden,
und das Gesetz wäre in ihre Herzen eingeschrieben.

Wenn du Benennungen und Formen verwendest,
dann sei dir bewusst, dass sie vorläufig sind.
Wenn du mit Institutionen zu tun hast,
dann sei dir bewusst, wo ihr Aufgabenbereich enden sollte.
Mit dem Wissen,wann man einhalten muss,
kannst du jeder Gefahr entgehen.

Alle Dinge enden im Tao
wie Ströme ins Meer fließen.


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33

Andere zu kennen zeugt von Intelligenz;
sich selbst zu kennen zeugt von wahrer Weisheit.
Herr zu sein über andere bedeutet Stärke;
Herr zu sein über sich selbst bedeutet wahre Kraft.

Siehst du ein, dass du genug hast,
dann bist du wahrhaft reich.
Weilst du beständig im Mittelpunkt
und nimmst den Tod mit ganzem Herzen an,
dann wirst du für immer fortdauern.


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34

Das große Tao fließt überallhin.
Alle Dinge gehen aus ihm hervor,
doch es erschafft sie nicht.
Es ergießt sich in sein Werk,
doch es erhebt keine Forderung.
Es nährt unzählige Welten,
doch es hält sich nicht daran fest.
Da es mit allen Dingen verbunden
und in ihrem Innersten verborgen ist,
kann man es bescheiden nennen.
Da alle Dinge in es hinein verschwinden
und nur es allein bestehen bleibt,
kann man es groß nennen.
Es ist sich seiner Größe nicht bewusst;
folglich ist es wahrhaft groß.


up

35

Die eins mit dem Tao sind,
können gefahrlos gehen, wohin sie wollen.
Selbst mitten in großem Leid
nehmen sie den allumfassenden Einklang wahr,
weil sie Frieden in ihrem Herzen gefunden haben.

Bei Musik und dem Geruch guter Speisen
verweilt man gern und lässt sich verwöhnen.
Aber Worte, die auf das Tao hindeuten,
scheinen eintönig und fade zu sein.
Wenn du nach ihm schaust, ist nichts zu sehen.
Wenn du nach ihm horchst, ist nichts zu hören.
Wenn du es anwendest, ist es unerschöpflich.


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36

Willst du etwas schmaler machen,
musst du es vorher sich ausweiten lassen.
Willst du etwas loswerden,
musst du es vorher aufblühen lassen.
Willst du etwas nehmen,Das n man d
musst du vorher zulassen, dass es gegeben wird.
Das nennt man die subtile Wahrnehmung
des Soseins der Dinge.

Das Weiche überwindet das Harte.
Das Langsame überwindet das Schnelle.
Lass dein Wirken ein Geheimnis bleiben.
Zeig den Menschen bloß das Ergebnis.


up

37

Das Tao tut nie etwas,
doch durch es wird alles getan.

Könnten große Männer und Frauen
ihre Mitte in ihm finden,
würde die ganze Welt, ihren natürlichen Rhythmen gemäß,
von selbst umgewandelt werden.
Die Menschen wären zufrieden
mit ihrem schlichten, alltäglichen Leben,
in Eintracht und frei von Begierde.

Wenn es keine Begierde gibt,
existiert alles und jedes in Frieden.


up

38

Der Meister bemüht sich nicht um Macht;
deshalb ist er wahrhaft mächtig.
Der Gewöhnliche greift ständig nach der Macht;
Deshalb hat er nie genug.

Der Meister tut nichts,
doch er lässt nichts ungetan.
Der Gewöhnliche tut immer irgendetwas,
doch noch viel mehr bleibt zu tun übrig.

Der Menschenfreundliche tut etwas, doch etwas bleibt
ungetan.
Der Gerechte tut etwas und vieles bleibt noch zu tun.
Der Moralist tut etwas, und wenn niemand reagiert,
krempelt er die Ärmel hoch und wendet Gewalt an.

Wenn das Tao verloren geht, herrscht die Rechtschaffenheit.
Wenn die Rechtschaffenheit verloren geht, herrscht die
Moral.
Wenn die Moral verloren geht, herrscht das Ritual.
Das Ritual ist die bloße Hülle des wahren Glaubens, der
Beginn des Wirrwarrs.

Daher beschäftigt sich der Meister
mit der Tiefe und nicht mit der Oberfläche,
mit der Frucht und nicht der Blüte.
Er hat keinen Eigenwillen.
Er wohnt in der Wirklichkeit
und lässt alle Illusionen los.


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39

In Einklang mit dem Tao
ist der Himmel klar und weit,
ist die Erde fest und voll,
gedeihen alle Geschöpfe zugleich,
zufrieden mit ihrem Sosein,
in endloser Selbstwiederholung,
endlos erneuert.

Wenn der Mensch das Tao stört,
verkommt der Himmel,
verödet die Erde,
zerfällt das Gleichgewicht,
sterben die Geschöpfe aus.
begreifen.
Die Meister betrachten die Teile voller Mitgefühl,
weil sie das Ganze begreifen.
Ständig üben sie Bescheidenheit.
Sie funkeln nicht wie ein Juwel,
sondern lassen sich vom Tao formen,
so derb und alltäglich wie ein Stein.


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40

Rückkehr ist die Bewegung des Tao.
Nachgeben ist der Weg des Tao.
Alle Dinge entstammen dem Sein.
Das Sein entstammt dem Nichtsein.


up

41

Wenn ein großer Mensch vom Tao hört,
beginnt er sofort danach zu leben.
Wenn ein Durchschnittlicher vom Tao hört,
so glaubt er halb, halb zweifelt er.
Wenn ein Törichter vom Tao hört,
lacht er laut heraus.
Würde er nicht lachen,
wäre es nicht das Tao.

Demgemäß sagt man:
Der Weg ins Licht scheint dunkel zu sein,
der Weg nach vorn scheint zurückzuführen,
der kürzeste Weg scheint lang zu sein,
wahre Kraft scheint schwach zu sein,
wahre Reinheit scheint befleckt zu sein,
wahre Standhaftigkeit scheint wankelmütig zu sein,
wahre Klarheit scheint unklar zu sein,
die größte Kunst scheint ungekünstelt zu sein,
die größte Liebe scheint gleichgültig zu sein,
die größte Weisheit scheint kindisch zu sein.

Das Tao ist nirgendwo zu finden.
Doch es nährt und vollendet alle Dinge.


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42

Das Tao bringt die Eins hervor.
Die Eins bringt die Zwei hervor.
Die Zwei bringt die Drei hervor.
Die Drei bringt alle Dinge hervor.

Alle Dinge haben im Rücken das Weibliche
und vor sich das Männliche.
Wenn Männliches und Weibliches sich verbinden,
erlangen alle Dinge Einklang.

Gewöhnliche Menschen hassen die Einsamkeit.
Aber die Meister machen sie sich zunutze:
Sie verinnerlichen ihr Alleinsein und erkennen,
dass sie eins sind mit dem ganzen Weltall.


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43

Das Sanfteste auf der Welt
Überwindet das Härteste auf der Welt.
Was keine Substanz hat,
dringt ein, wo kein Zwischenraum ist.
Dies zeigt den Wert des Nichthandelns.

Belehren ohne Worte,
Vollbringen, ohne zu handeln:
So gehen die Meister vor.


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44

Ruhm oder Lauterkeit: Was ist wichtiger?
Geld oder Glücklichsein: Was ist wertvoller?
Erfolg oder Misserfolg: Was ist schädlicher?

Erhoffst du Erfüllung von anderen,
wirst du nie wahre Fülle erlangen.
Hängt dein Glücklichsein von Geld ab,
wirst du nie innere Beglückung erfahren.

Gib dich zufrieden mit dem, was du hast;
erfreu dich am Sosein der Dinge.
Wenn du einsiehst, dass nichts dir fehlt,
gehört dir die ganze Welt.


up

45

Wahre Vollkommenheit scheint unvollkommen zu sein,
doch sie ist vollkommen sie selbst.
Wahre Fülle scheint leer zu sein,
doch sie ist völlig präsent.

Wahre Geradheit scheint krumm zu sein.
Wahre Weisheit scheint töricht zu sein.
Wahre Kunst scheint kunstlos zu sein.

Die Meister lassen die Dinge ruhig geschehen.
Sie formen die Ereignisse, während sie auftreten.
Sie weichen aus
und lassen das Tao selbst sprechen.


up

46

Wenn ein Land in Einklang mit dem Tao lebt,
stellen die Fabriken Lastwagen und Traktoren her.
Wenn ein Land dem Tao zuwider lebt,
werden vor den Städten die Waffen gehortet.

Es gibt keine größere Illusion als die Angst,
keinen größeren Fehler, als aufzurüsten,
kein größeres Missgeschick, als einen Feind zu haben.

Wer jederlei Angst zu durchschauen vermag,
wird immer in Sicherheit sein.


up

47

Ohne vor die Tür zu treten,
kannst du dein Herz der Welt öffnen.
Ohne aus dem Fenster zu blicken,
kannst du das Wesen des Tao erschauen.

Je mehr du weißt,
desto weniger begreifst du

Der Meister kommt an, ohne abzureisen,
schaut das Licht, ohne zu sehen,
vollbringt, ohne irgendetwas zu tun.


up

48

Beim Streben nach Wissen
wird täglich etwas hinzugefügt.
Bei der Einübung ins Tao
wird täglich etwas fallen gelassen.
Immer weniger musst du die Dinge erzwingen,
bis du schließlich beim Nichthandeln anlangst
Wenn nichts getan wird,
bleibt nichts ungetan.

Wahre Meisterschaft kann man erreichen,
wenn man den Dingen ihren Lauf lässt
und sie gar nicht dabei stört.


up

49

Der Meister hat kein eigenes Denken und Empfinden.
Er arbeitet mit dem Denken und Empfinden der Mit­menschen.

Er ist gut zu Menschen, die gut sind.
Er ist auch gut zu Menschen, die nicht gut sind.
Das ist wahre Güte.

Er vertraut Menschen, die vertrauenswürdig sind.
Er vertraut auch Menschen, die nicht vertrauenswürdig sind.
Das ist wahres Vertrauen.

Das Denken und Empfinden des Meisters gleicht dem Raum.
Die Mitmenschen verstehen ihn nicht.
Sie blicken zu ihm hin und warten.
Er behandelt sie wie seine eigenen Kinder.


up

50

Der Meister widmet sich allem,
was der Augenblick gerade bringt.
Er weiß, dass er sterben wird,
und es gibt nichts mehr, an dem er festhalten würde:
keine Illusionen in seinem Geist,
keine Widerstände in seinem Körper.
Er denkt über seine Handlungen nicht nach;
sie fließen aus dem innersten Kern seines Wesens.
Er hält nichts zurück vom Leben;
daher ist er zum Sterben bereit,
wie ein Mann zum Schlafen bereit ist
nach tüchtigem Tagewerk.


up

51

Jedes Wesen im Universum
ist ein Ausdruck des Tao.
Es entsteht plötzlich,
unbewusst, makellos, frei,
nimmt physische Gestalt an,
lässt sich von den Umständen ergänzen.
Ebendarum ehrt jedes Wesen
ganz naturgemäß das Tao.

Das Tao bringt alle Wesen hervor,
nährt sie, erhält sie,
sorgt für sie, erquickt sie, beschützt sie,
nimmt sie wieder zu sich.
Es erschafft, ohne zu besitzen,
handelt, ohne zu erwarten,
lenkt, ohne sich einzumischen.
Ebendarum liegt die Liebe zum Tao
im Wesen der Dinge.


up

52

Am Anfang war das Tao.
Alle Dinge entspringen ihm;
alle Dinge kehren zu ihm zurück.

Willst du den Ursprung finden,
dann verfolge die Spur der Erscheinungen.
Wenn du die Kinder erkennst
und die Mutter findest,
wirst du frei sein von Leid.

Verstopfst du deinen Geist mit Beurteilungen
und treibst du Handel mit Begierden,
wird dein Herz voll quälender Unruhe sein.
Hältst du deinen Geist vom Beurteilen ab
und lässt du dich nicht von den Sinnen leiten,
wird dein Herz Frieden erlangen.

Dem Dunkel auf den Grund zu gehen bedeutet Klarheit.
Nachgeben zu können bedeutet Stärke.
Benutze dein eigenes Licht
und kehre zur Klarheit zurück.
Das nennt man: die Ewigkeit einüben.


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53

Der große Weg ist leicht zu gehen,
doch die Menschen bevorzugen die Seitenpfade.
Erkenn es, wenn die Dinge aus dem Gleichgewicht sind.
Bleib zentriert im Tao.

Wenn reiche Spekulanten Erfolg haben,
während Bauern ihr Land verlieren;
wenn die Regierung Geld ausgibt
für Waffen statt für Hilfsprogramme;
wenn die Oberen verschwenderisch und
verantwortungslos sind,
während die Armen immer ärmer werden -
all dies ist Raub und Chaos.
Es stimmt nicht mit dem Tao überein.


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54

Wer fest im Tao verankert ist,
kann nicht leicht entwurzelt werden.
Wer fest das Tao umfängt,
wird nicht ausrutschen und fallen.
Seinen Namen wird man in Ehren halten
von Generation zu Generation.

Lass das Tao in deinem Leben walten,
und du wirst wahre Kraft haben.
Lass das Tao in deiner Familie walten,
und deine Familie wird blühen.
Lass es in deinem Land walten,
und dein Land wird ein Vorbild werden
für alle Länder der Welt.
Lass es im Universum walten,
und das Universum wird in Harmonie sein.

Woher ich weiß, dass dies zutrifft?
Dadurch, dass ich in mich hineinschaue.


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55

Wer in Einklang mit dem Tao ist,
gleicht einem neugeborenen Kind.
Dessen Knochen sind weich, seine Muskeln sind schwach,
aber sein Griff ist kraftvoll.
Es weiß nichts von der Paarung
von Mann und Frau,
doch sein Glied kann steif werden,
so stark ist seine Lebenskraft.
Es kann den ganzen Tag lang schreien,
doch es wird nie heiser,
so vollkommenist es im Einklang.

Ebendem gleicht die Kraft der Meister.
Mühelos, ohne Begierde
Lassen sie alle Dinge kommen und gehen. Sie erwarten nie Ergebnisse;
Sie erwarten nie Ergebnisse;
deshalb sind sie nie enttäuscht.
Sie sind nie enttäuscht;
deshalb altert ihr inneres Feuer nie.


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56

Die Wissenden reden nicht.
Die Redenden wissen nicht.

Schließ deinen Mund,
versperr deine Sinne,
mach deine Schärfe stumpf,
löse deinen Knoten,
mildere deinen Glanz,
lass deinen Staub sich legen:
Das ist die elementare Identität.

Sei wie das Tao.
Man kann sich ihm weder nähern noch sich von ihm zurückziehen,
ihm weder nützen noch ihm schaden,
es weder ehren noch ihm Schande bereiten.
Es gibt sich unablässig hin.
Ebendarum dauert es fort.


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57

Willst du ein großer Führer werden,
dann musst du lernen, dem Tao zu folgen
Unterlass jeden Versuch, Kontrolle auszuüben.
Lass festgelegte Pläne und Konzepte los,
und die Welt wird sich selbst regieren.

Je mehr Verbote es gibt,
desto weniger tugendhaft werden die Leute sein.
Je mehr Waffen es gibt,
desto weniger sicher werden die Leute sein.
desto weniger selbstbewusst werden die Leute sein.

Daher sagt der Meister:
Ich lasse das Recht los,
und die Leute werden redlich.
Ich lasse die Wirtschaft los,
und die Leute werden wohlhabend.
Ich lasse die Religion los,
und die Leute werden heiter und ruhig.
Ich lasse das Verlangen nach dem Allgemeinwohl los,
und das Wohl verbreitet sich so allgemein wie das Gras.


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58

Wird ein Land mit Duldsamkeit regiert,
dann fühlt das Volk sich wohl und ist redlich.
Wird ein Land mit Unterdrückung regiert,
dann ist das Volk bedrückt und verschlagen.

Wenn der Machtwille die Leitung hat-­
je höher die Ideale, desto geringer die Ergebnisse.
Versuche, die Menschen glücklich zu machen,
und du legst das Fundament für das Elend.
Versuche, die Menschen moralisch zu machen,
und du legst das Fundament für das Laster.

Demgemäß begnügen sich die Meister damit,
als Vorbild zu dienen,
ohne ihren Willen aufzuzwingen.
Sie sind unmissverständlich, ohne zu verletzen
freimütig, ohne zu drängen,
strahlend, ohne zu blenden.


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59

Für die Führung eines Landes,
gibt es nichts Besseres als Mäßigung.

Die Maßvollen kennzeichnet,
dass sie frei sind von eigenen Ideen.
Duldsam wie der Himmel,
alles durchdringend wie das Sonnenlicht,
fest wie ein Berg,
biegsam wie ein Baum im Wind,
haben sie keinen Endzweck im Auge
und machen sich alles zunutze,
was ihnen auf dem Weg begegnet.

Nichts ist für sie undurchführbar.
Weil sie losgelassen haben,
können sie für das Wohl des Volkes sorgen,
wie eine Mutter für ihr Kind sorgt.


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60

Einen großen Staat regiert man so,
wie man kleine Fische brät -
mit zu viel Gestocher ruiniert man sie.

Lenk das Land im Einklang mit dem Tao,
und das Böse wird keine Macht haben.
Nicht, dass es nicht vorhanden ist,
aber man wird ihm aus dem Weg gehen können.

Reize das Böse nicht,
und es wird von selbst verschwinden.


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61

Wenn ein Land große Macht erlangt,
wird es wie das Meer:
Alle Flüsse fließen stromabwärts hinein.
Je mächtiger es wird,
desto dringender ist Bescheidenheit geboten.
Bescheidenheit bedeutet, dem Tao zu vertrauen
und sich deshalb nie verteidigen zu müssen.

Ein großer Staat gleicht einem großen Menschen:
Wenn der einen Fehler begeht, erkennt er ihn.
Nachdem er ihn erkannt hat, gibt er ihn zu.
Nachdem er ihn zugegeben hat, berichtigt er ihn.
Er betrachtet diejenigen, die seine Fehler aufzeigen,
als seine wohlwollendsten Lehrer.
Seine Gegner hält er
für den Schatten, den er selbst wirft.

Wenn ein Staat mit dem Tao im Einklang ist,
wenn er sein eigenes Volk ernährt
und sich nicht in die Angelegenheiten anderer einmischt,
wird er ein Lichtsein für alle Staaten der Welt.


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62

Das Tao ist der Mittelpunkt des Universums,
der Schatz des guten Menschen,
die Zuflucht des schlechten Menschen.

Ansehen kann man mit schönen Worten kaufen,
Achtung kann man mit guten Taten gewinnen;
aber das Tao übersteigt jeden Wert,
und niemand kann es erlangen.

Demgemäß: Wenn ein neuer Führer gewählt wurde,
dann biete ihm nicht deinen Reichtum oder dein Fachwissen an.
Biete ihm stattdessen an,
ihn über das Tao zu unterrichten.

Warum schätzten die Meister aus alter Zeit das Tao so sehr?
Weil man, eins mit dem Tao,
findet, wenn man sucht;
und man Vergebung erlangt, wenn man einen Fehler begeht.
Ebendarum liebt es jeder.


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63

Handle ohne Tun;
sei tätig ohne Mühe.
Halte das Kleine für groß
und das Wenige für viel.
Stell dich dem Schwierigen,
solange es noch leicht ist;
Vollbringe das große Werk
durch eine Reihe kleiner Schritte.

Die Meister greifen nie nach dem Großen;
Folglich erlangen sie Größe.
Wenn sie auf eine Schwierigkeit stoßen,
machen sie Halt und widmen sich ihr.
Sie hängen nicht an ihrem eigenen Wohlergehen;
folglich sind Probleme für sie kein Problem.


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64

Tief Verwurzeltes ist leicht zu nähren.
Gerade Begonnenes ist leicht zu verbessern.
Sprödes ist leicht zu brechen.
Feines ist leicht zu zerstreuen.

Verhüte Ärger, bevor er sich zeigt.
Bringe Dinge in Ordnung, bevor sie ein Fakt sind.
Die riesige Kiefer
Erwächst aus einem winzigen Spross.
Die Reise von tausend Meilen
beginnt zu deinen Füßen.

Du stürzt dich ins Handeln - und scheiterst so.
Du versuchst, Dinge an dich zu reißen - und verlierst sie so.
Du erzwingst den Abschluss eines Projekts -
und machst so zunichte, was fast vollendet war.

Daher handeln die Meister,
indem sie den Dingen freien Lauf lassen.
Sie bleiben am Ende so ruhig
wie am Anfang.
Sie haben eben nichts,
somit haben sie nichts zu verlieren.
Was sie begehren, ist das Nichtbegehren;
was sie lernen, ist das Verlernen.
Sie erinnern die Menschen einfach daran,
wer sie schon immer sind
Sie sorgen sich um nichts als um das Tao.
So können sie für alles sorgen.


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65

Die Meister aus alter Zeit
versuchten nicht, das Volk zu bilden,
sondern brachten ihm großmütig das Nichtwissen bei.

Wenn sie glauben, dass sie die Lösungen wissen,
sind die Menschen schwer zu lenken.
Wenn sie wissen, dass sie nicht wissen,
können die Menschen ihren eigenen Weg finden.

Willst du regieren lernen,
dann vermeide es, schlau oder reich zu sein.
Das einfachste Vorbild ist das deutlichste.
Zufrieden mit einem gewöhnlichen Leben,
kannst du allen Menschen den Weg zeigen,
der zu ihrem eigenen wahren Wesen zurückführt.


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66

Alle Ströme fließen zum Meer,
weil es tiefer liegt als sie.
Die Niedrigkeit verleiht ihm seine Macht.

Willst du das Volk regieren,
dann musst du dich unter es stellen.
Willst du das Volk führen,
dann musst du lernen, ihm zu folgen.

Die Meister stehen über dem Volk,
und niemand fühlt sich unterdrückt.
Sie gehen dem Volk voran,
und niemand fühlt sich manipuliert.
Die ganze Welt ist ihnen dankbar.
Da sie mit niemandem in Wettstreit treten,
kann niemand mit ihnen wettstreiten.


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67

Manche sagen, meine Lehre sei Unsinn.
Andere nennen sie: erhaben, aber nicht praktikabel.
Aber für jene, die ihr Innerstes ergründet haben,
ergibt dieser Unsinn durchaus Sinn.
Und für jene, die sie in die Praxis umsetzen,
hat diese Erhabenheit tief reichende Wurzeln.

Ich habe bloß drei Dinge zu lehren:
Einfachheit, Nachsicht und Mitgefühl.
Diese drei sind deine größten Schätze.
Sei einfach im Handeln und Denken -
und du kehrst zur Quelle des Seins zurück.
Sei nachsichtig gegen Freunde und Feinde-
und du stimmst mit der Natur der Dinge überein.
Sei mitfühlend gegenüber dir selbst-
und du bringst alle Wesen auf der Welt in Einklang.


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68

Der beste Athlet
möchte, dass sein Gegner in Bestform ist.
Der beste General
versetzt sich in seinen Feind hinein.
Der beste Geschäftsmann
dient demgemeinsamen Wohl.
Der beste Führer
folgt dem Willen des Volkes.

Sie alle verkörpern
die Tugend des Nichtstreitens.
Nicht, dass sie den Streit nicht mögen,
aber sie streiten nur in spielerischer Gesinnung.
Eben darin gleichen sie Kindern
und harmonieren mit dem Tao.


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69

Die Generäle haben einen Spruch:
»Statt den ersten Schritt zu tun,
sollte man lieber abwarten.
Statt ein paar Zentimeter vorzurücken,
sollte man lieber einen Meter zurückweichen.«

Das nennt man:
Vorwärts gehen, ohne vorzurücken,
sich wehren, ohne Waffen zu gebrauchen.

Es gibt kein größeres Unglück,
als seinen Feind zu unterschätzen.
Seinen Feind zu unterschätzen
bedeutet, ihn für böse zu halten.
So zerstörst du deine drei Schätze
und wirst selbst ein Feind.

Wenn zwei große Streitkräfte gegeneinander kämpfen,
wird diejenige siegen,
die nachgeben kann.


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70

Meine Lehren sind leicht zu verstehen
und leicht in die Praxis umzusetzen.
Doch dein Verstand wird sie nie erfassen,
und bemühst du dich, sie anzuwenden, dann wird dir
dies misslingen.

Meine Lehren sind älter als die Welt.
Wie könntest du ihren Sinn logisch erfassen?

Willst du mich kennen,
dann schau in dein Herz hinein.


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71

Nichtwissen ist wahres Wissen.
Anzunehmen, man wisse, ist eine Krankheit.
Sieh zunächst ein, dass du krank bist;
dann bist du auf dem Weg zur Gesundheit.

Ein Meister ist sein eigener Arzt.
Er hat sich von allem Wissen kuriert.
Folglich ist er wahrhaft ganz.


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72

Wenn sie ihre Ehrfurcht verlieren,
wenden sich Menschen der Religion zu.
Wenn sie sich selbst nicht mehr vertrauen,
beginnen sie, sich auf Autorität zu veranlassen.

Daher treten die Meister zurück,
damit die Menschen nicht in Verwirrung geraten.
Sie lehren ohne Lehre,
damit die Menschen nichts zu lernen brauchen.


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73

Das Tao ist immer in sich ruhend.
Es bezwingt, ohne zu kämpfen,
antwortet, ohne ein Wort zu sagen,
erscheint, ohne gerufen zu sein,
vollbringt, ohne zu planen.

Sein Netz umspannt das ganze Universum.
Und obwohl es grobmaschig ist,
schlüpft nichts hindurch.


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74

Erkennst du klar, dass sich alle Dinge verändern,
dann wirst du an nichts festhalten wollen.

Hast du keine Angst vor dem Sterben,
dann gibt es nichts, was du nicht erlangen kannst.

Der Versuch, die Zukunft zu kontrollieren,
gleicht dem Versuch, an die Stelle des Zimmermanns zu treten.

Wenn du mit den Werkzeugen des Zimmermann, hantierst,
wirst du dir wahrscheinlich die Hand verletzen.


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75

Wenn die Steuern zu hoch sind,
hungern die Menschen.
Wenn die Regierung sich zu sehr einmischt,
verlieren die Menschen den Mut.

Wirke im Interesse der Menschen.
Vertrau ihnen; lass sie in Ruhe.


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76

Die Menschen kommen weich und geschmeidig zur Welt;
tot sind sie steif und starr.
Die Pflanzen kommen zart und biegsam zur Welt;
tot sind sie spröde und dürr.

Demgemäß gilt:
Wer steif und starr ist,
ist ein Schüler des Todes.
Wer weich und nachgiebig ist,
ist ein Schüler des Lebens.

Das Starre und Steife wird zerbrechen.
Das Weiche und Geschmeidige wird sich durchsetzen.


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77

Bei seinem Wirken auf der Welt agiert das Tao so,
wie man einen Bogen spannt.
Das Obere zieht es nach unten;
Das Untere biegt nach oben.
Es gleicht Uberfluss und Mangel aus,
sodass vollkommene Ausgewogenheit herrscht.
Es nimmt von dem, was zu viel ist,
und gibt dem, was zu wenig ist.

Wer Kontrolle auszuüben versucht,
wer Gewalt anwendet, um seine Macht zu schützen,
handelt dem Tao zuwider.
Er nimmt von jenen, die zu wenig haben,
und gibt denen, die viel zu viel haben.

Die Meister können dauernd geben,
weil ihr Reichtum niemals versiegt.
Sie handeln ohne Erwartung,
haben Erfolg, ohne Anerkennung für sich zu beanspruchen,
und halten sich nicht für besser
als sonst jemanden.


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78

Nichts auf der Welt
ist so weich und nachgiebig wie Wasser.
Doch zum Auflösen des Harten und Unbeweglichen
ist nichts besser geeignet.

Das Weiche überwindet das Harte;
das Sanfte überwindet das Starre,
Jeder weiß, dass dies zutrifft,
aber nur wenige können danach handeln.

Daher bleiben die Meister
gelassen mitten im Leid.
Unheil kann nicht in ihr Herz eindringen.
Weil sie das Helfen aufgegeben haben,
sind sie für die Menschen die größte Hilfe.

Wahre Worte scheinen paradox zu sein.


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79

Versagen ist eine günstige Gelegenheit.
Gibst du jemand anderem die Schuld,
dann nimmt das Beschuldigen kein Ende.

Daher erfüllen die Meister
ihre eigenen Verpflichtungen
und berichtigen ihre eigenen Fehler.
Sie tun, was sie tun müssen,
und verlangen nichts von anderen.


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80

Wird ein Land weise regiert,
dann werden seine Einwohner zufrieden sein.
Sie genießen ihrer Hände Arbeit
und vergeuden die Zeit nicht mit dem Erfinden
arbeitssparende Maschinen.
Das sie ihr Zuhause innig lieben,
interessieren sie sich nicht fürs Reisen.
Es mag wohl ein paar Wagen und Boote geben,
aber die fahren nirgendwohin.
Es mag wohl ein Waffenarsenal geben,
aber niemand macht je Gebrauch davon.
Die Menschen genießen ihr Essen,
haben Freude daran, mit ihren Familien zusammen zu sein,
arbeiten gern an Wochenenden in ihren Gärten,
finden Vergnügen am Umgang mit der Nachbarschaft.
Und obwohl das nächste Land so nah ist,
dass die Leute seine Hähne krähen und seine Hunde bellen hören können,
sterben sie friedlich an Altersschwäche,
ohne je hingegangen zu sein, um es sich anzusehen.


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81

Wahre Worte sind nicht wohlgesetzt;
wohlgesetzte Worte sind nicht wahr.
Wer weise ist, hat es nicht nötig, seine Ansicht darzulegen;
wer es nötig hat, seine Ansicht darzulegen, ist nicht weise.

Der Meister hat keinen Besitz.
Je mehr er für andere tut,
desto glücklicher ist er.
Je mehr er anderen gibt,
desto reicher ist er.

Das Tao nährt, indem es nichts erzwingt.
Der Meister führt, indem er über niemanden herrscht.


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