Am Anfang war das Fleisch. Jede Menge davon, spärlich bekleidet und möglichst ansprechend für männliche Betrachter. Wikipedia, das enzyklopädische Großwerk, existiert nur, weil Männer schon immer gern nach nackter Haut suchten im Internet.
Der amerikanische Unternehmer Jimmy Wales, Jahrgang 1966, der mit Spekulationen an der Chicagoer Börse zu einigem Vermögen gekommen war, gründete 1996 die Internetfirma Bomis, eine Suchmaschine mit Autos, Prominententratsch, Sport und dem Spezialgebiet "Babes" als Schwerpunkten. Das Geld, das zu Zeiten des Dotcom-Booms mit Werbeeinnahmen bei Bomis verdient wurde, bildete den finanziellen Grundstock für Wikipedia.
Wales möchte heute nicht mehr so gern daran erinnert werden, dass das Startkapital für die 2001 von ihm ins Leben gerufene Internet-Enzyklopädie Wikipedia hauptsächlich aus der Schmuddelecke stammte. Um die Entstehungsgeschichte von Wikipedia zu kaschieren, brach Wales sogar eine der Verhaltensregeln, die er selbst mit aufgestellt hatte: Er veränderte den Lexikon-Eintrag über seine eigene Person.
Ausdrücklich gilt: Wer sich in der kollaborativen Enzyklopädie nicht fair und wahrheitsgemäß dargestellt findet, soll dies auf der angeschlossenen Diskussionsseite mitteilen und um Änderungen bitten, aber nicht selbst Hand an den Text legen, außer es handelt sich um offensichtliche und zweifelsfreie Fehler wie einen falsch geschriebenen Namen.
Denn einer der ehernen Grundsätze von Wikipedia ist das Prinzip des "neutral point of view", des neutralen Standpunkts, den die Verfasser der Beiträge zu ihrem jeweiligen Thema einnehmen sollen. Den eigenen Eintrag zu bearbeiten schickt sich daher nicht. Verstöße dagegen bleiben allerdings folgenlos, auch wenn sich die Wikipedia-Gemeinschaft noch so empört.
Jimmy Wales setzte sich souverän darüber hinweg. Dass der "Bomis Babe Report" mit dem Begriff "Softporno" zutreffend beschrieben war, mochte er nicht einsehen und änderte entsprechende Passagen im Eintrag. Außerdem versuchte Wales, den Anteil des Wikipedia-Mitbegründers Larry Sanger an der Erfolgsstory herunterzuspielen - ein Sakrileg.
"Wikipedia-Gründer redigiert sich selbst"
Ein Blogger machte die Politurbemühungen des damals von vielen Wikipedianern wie ein Halbgott verehrten Wales im Jahr 2005 publik und löste damit einen Eklat aus. Nicht nur die Internetpublikation "Wired" berichtete, auch die Online-Ausgabe der ehrwürdigen Londoner "Times" titelte: "Wikipedia-Gründer redigiert sich selbst".
Als der Streit um die wahren Anfänge der Online-Enzyklopädie öffentlich ausgetragen wurde, hatte Wikipedia längst eine Eigendynamik entwickelt, die es irrelevant machte, wer in welchem Ausmaß zum Siegeszug beigetragen hatte. Schon seit 2002, als nach dem Platzen der Dotcom-Blase auch Bomis beinahe unterging, wird Wikipedia nicht mehr von Wales' Unternehmen finanziert, sondern ausschließlich aus Spenden.
Inzwischen kann Wikipedia als eine der bedeutendsten Schöpfungen des Internet gelten - auch wenn längst nicht ausgemacht ist, ob das Modell einer freien, von jedem beliebigen Leser veränderbaren Enzyklopädie dauerhaft funktionieren wird.
Dass Wikipedia heute eine Weltmacht im Netz ist, wird bei jeder Nutzung einer Suchmaschine offenkundig. Egal ob man nach "Faust", "Forelle" oder "Federball" fahndet - der erste Treffer ist stets der entsprechende Wikipedia-Eintrag.
Wikipedia gehört zum Internet wie Google. Im vergangenen Jahr schlugen einer Studie von ARD und ZDF zufolge 65 Prozent der deutschen Internetnutzer zumindest gelegentlich etwas im Mitmach-Lexikon nach. Unter den 14- bis 19-Jährigen waren es 94 Prozent. Für die Kinder des digitalen Zeitalters ist die Netz-Enzyklopädie so selbstverständlich wie elektrisches Licht.
Die deutschsprachige Wikipedia ist die zweitgrößte im Weltverbund der Schwester-Enzyklopädien. Im Sommer 2010 besteht sie aus weit über einer Million Einträgen. Die englischsprachige Mutter hat etwa dreimal so viele.
Das Geschäft mit gedruckten Enzyklopädien lohnt sich kaum noch
Zum Vergleich: Die 32-bändige Ausgabe der "Encyclopædia Britannica" umfasst gut 700.000 Stichwörter. Sie kostet, in einer limitierten, ledergebundenen Luxusausgabe, umgerechnet knapp 2400 Euro. Davon werden aber ohnehin nur 500 Exemplare hergestellt. Vorrangig wird heute auch die "Encyclopædia Britannica" digital publiziert, der Zugang zur Online-Ausgabe kostet im Jahr 60 Euro. Wikipedia dagegen ist seit je gratis nutzbar. Das Geschäft mit gedruckten Enzyklopädien lohnt sich kaum noch. Die Brockhaus Enzyklopädie wurde Ende 2008 an den Mediengiganten Bertelsmann verkauft, nachdem Deutschlands bekanntestes Nachschlagewerk jahrelang Verluste gebracht hatte. Ein geplantes werbefinanziertes Online-Portal wurde vor dem Start sang- und klanglos eingestellt.
Gegen die Arbeitskraft der vielen freiwilligen Wikipedia-Helfer scheint kein kommerzielles Nachschlagewerk mehr bestehen zu können - trotz aller Fehler, die sich in Wikipedia-Einträgen nach wie vor finden. Allerdings begann der Niedergang der gedruckten Lexika schon vor der Erfindung von Wikipedia. Bereits in den neunziger Jahren gingen die Verkaufszahlen der "Britannica" zurück.
Einer der letzten schweren Schläge für die Profi-Enzyklopädisten alter Schule war eine bis heute umstrittene Vergleichsstudie, die 2005 im Wissenschaftsmagazin "Nature" erschien: Die Autoren konnten in ausgewählten Beiträgen zu wissenschaftlichen Themen in der Wikipedia auch nicht wesentlich mehr Fehler finden als in der teuren "Britannica".
Das Prinzip einer kollaborativ erstellten, jedermann zugänglichen Enzyklopädie scheint gerade im alten Europa besonders fleißige Anhänger zu finden. Auf den Plätzen drei und vier der umfangreichsten Wikipedia-Versionen liegen mit jeweils gut 700.000 Einträgen die polnische und die italienische Ausgabe.
Wikipedias gibt es inzwischen in über 260 Sprachversionen. Einige wirken eher exotisch: etwa die niedersorbische, einer westslawischen, in der Niederlausitz gesprochenen Sprache, mit knapp 900 Einträgen oder die aragonesische, die über 21.000 Einträge enthält und wohl nur von etwa 12.000 Menschen in einigen Tälern der spanischen Pyrenäen verstanden wird.
Das Wachstum seiner Schöpfung in bislang schwach repräsentierten Sprachen liegt Jimmy Wales derzeit besonders am Herzen. Beim Jahrestreffen "Wikimania" in Danzig erklärte er im Juli dieses Jahres, Ausgaben wie in Bengalisch oder Tamil müssten dringend erweitert werden. Die tamilische Ausgabe umfasse erst knapp 23.000 Artikel, dabei werde die Sprache von 66 Millionen Menschen gesprochen.
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© SPIEGEL Wissen 3/2010
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