28.03.2012 | Internet & Journalismus

Die Politik umgeht den Journalismus. Und Twitter und Facebook sind die Komplizen.

Lange waren Nachrichten ein Stück Natur. Ihr natürliches Vorkommen lag in Zeitungen, Hörfunkprogrammen oder Nachrichtensendungen im Fernsehen. Heute sind Nachrichten überall. Jeder kann sie produzieren, jeder kann sie publizieren. Das Netz und die Sozialen Medien machen es möglich. Welche Konsequenzen das für die Entstehung von Nachrichten und die Arbeit von Nachrichtenagenturen hat, zeigen Cord Dreyer und Daniel Bouhs in ihrem Text. Der eine ist Chefredakteur der Nachrichtenagentur dapd, der andere leitet dort die Netzwelt.

 

Die Politik umgeht den Journalismus. Und Twitter und Facebook sind die Komplizen von Cord Dreyer und Daniel Bouhs

Langsam, aber sicher macht sich in unserer Branche eine Erkenntnis breit: Protagonisten aus Politik, Wirtschaft, Sport und der bunten Welt der Film- und Musikindustrie platzieren ihre Neuigkeiten immer häufiger außerhalb von Zeitungen und Sendern, manchmal auch außerhalb von Nachrichtenagenturen. Sie „umgehen“ kritisch fragende Journalisten und versuchen, ihre „News“ ohne die klassischen Medien selbst in die Welt zu setzen und damit die Agenda zu bestimmen. Ihre Komplizen sind Twitter, Facebook und Google+. Das sogenannte Web 2.0, das Mitmach-Internet mit seinen sozialen Netzwerken, verändert den Informationsfluss – und das gewaltig.

Gerüchte und harte Fakten

Beispiele dafür gibt es viele – und die Einschläge kommen in immer kürzeren Abständen. Peter Altmaier etwa positioniert sich seit 2011 bewusst als Fan sozialer Netzwerke. Und Altmaier ist nicht irgendwer, sondern als parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestags-Fraktion von CDU und CSU Vertrauter der Regierenden. Es darf daher angenommen werden, dass Altmaiers andauernde Charmoffensive auf Twitter von Bundeskanzlerin Angela Merkel mindestens geduldet wird.

Dass auf Twitter nicht nur Gerüchte, sondern bisweilen harte Fakten erstmals an die breite Öffentlichkeit gelangen, demonstrierte Altmaier am 19. Februar 2012. An jenem Sonntagabend ging es hinter verschlossenen Türen bekanntlich hoch her: Merkels Koalitionspartner, die FDP, drängte auf Joachim Gauck als künftigen Bundespräsidenten. Die Union lehnte lange hartnäckig ab. Die Koalition, hieß es sogleich, stünde vor dem Bruch. Die Entscheidung ließ auf sich warten. Agenturen zitierten aus Verhandlungskreisen: Gauck wird es. Altmaier aber kam als erster aus der Deckung.

Die neue politische Kraft in Deutschland

Der Saarländer legte noch hinter verschlossenen Türen die Maske der Anonymität ab und tippte diesen Tweet in seinen BlackBerry: „Gauck ist der Beweis, dass es uns ernst war mit gemeinsamem Kandidat.“ Merkel trat erst gut eine halbe Stunde später vor die Presse. Altmaiers Kurznachricht war bis dahin also das einzige öffentliche Dokument, dass das „Einknicken“ der Kanzlerin verlässlich mit sicherer Quellenlage dokumentierte.

Wer die neue politische Kraft in Deutschland, die Piratenpartei, konsequent im Blick behalten möchte, der kommt ohnehin nicht an Twitter, Facebook & Co. vorbei. Für die Piraten ist das Absetzen von Statusmeldungen und Blog-Einträgen die erlernte und gelebte Kommunikation. Das Ausformulieren von Pressemitteilungen und Auftreten in Pressekonferenzen müssen sie sich erst mühsam aneignen. Oder geht es auch ohne und ganz anders?

Kampfansage an den Journalismus

Bei der SPD wiederum positioniert sich Parteichef Sigmar Gabriel als netzaffine Antwort auf den Mitteilungsdrang der Piraten. „Natürlich verändert Facebook den Journalismus“, notierte er dort im Januar 2012 zu nachtschlafender Zeit. Gabriel jubilierte über die neuen Kommunikationskanäle, aus denen inzwischen sogar die „Tagesschau“ zitiere. „Das freut den betreffenden Politiker, denn es schafft Aufmerksamkeit für seinen Kommunikationskanal“, schrieb Gabriel. Es ärgere aber „möglicherweise das Musterstädter Kreisblatt, das sonst in der Tagesschau erwähnt worden wäre“.

Gabriel schloss seinen Eintrag mit einer Art Kampfansage an den Journalismus. „Wir Politiker haben auf einmal ein Interesse daran, unser eigenes ,Medium‘ nach vorne zu schieben“, hieß es in seinem Profil, was übersetzt nichts anderes heißt als: An dieser Stelle darf mit exklusiven Äußerungen gerechnet werden. All das gehe laut Gabriel „im Zweifelsfall auch auf Kosten der klassischen Medien“.

Teil des Nachrichtenflusses

Gut 10.000 Nutzer lassen sich inzwischen von Facebook automatisch über neue Einträge des SPD-Chefs informieren. Seine Originaläußerungen sind Teil des Nachrichtenflusses, den sich in sozialen Netzwerken Nutzer individuell zusammenstellen. Altmaier „folgen“ auf Twitter etwa 9.000 Nutzer. Mit der Möglichkeit, Nachrichten mit anderen zu „teilen“ (Facebook, Google+) oder zu „retweeten“ (Twitter), erreicht eine Nachricht schlagartig ein Vielfaches der ursprünglich adressierten Nutzer.

Angesichts dieser Entwicklung füllen Papier und Bleistift, das nächtelange Ausharren vor Sitzungssälen und das Abklappern eigener Informanten die journalistischen Werkzeugkisten nicht mehr aus. Neue Hilfsmittel sind dazugekommen, die Werkzeugkisten insgesamt größer geworden. Das verändert die Rolle von Journalisten, nicht zuletzt aber auch die Arbeitsabläufe in den Redaktionen. Viele prominente Botschaften kommen unerwartet. Nachrichtenredaktionen müssen also ständig „ins Netz“ blicken. Fahrlässig handelt, wer die Entwicklung ignoriert oder als Randerscheinung abtut.