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Kritische Verbraucher und Rituale der modernen Naturreligion

Ein Gastbeitrag von Ulf Scheuschner

Die Stiftung Warentest hat sich selbst das Urteil „sehr gut“ ausgestellt: Die Publikationen sind anzeigefrei, dies „garantiert die absolute Objektivität ihrer Urteile“. Das Ziel sei „der informierte und kritische Verbraucher – von Anfang an“, dazu gibt es Veranstaltungen für Jugendliche und Schulen.

Ein absolut objektives Urteil ist ein Widerspruch in sich, jede Bewertung ist zu einem gewissen Grad subjektiv. Allein die Entscheidung über Testkriterien und Gewichtung hat zweifellos Einfluss auf das Testergebnis. Neutralität durch Verzicht auf Sponsoring und Werbung sollte selbstverständlich sein, wenngleich die Stiftung sich durchaus über ihre Leserschaft finanzieren muss und dabei in Konkurrenz zu vergleichbaren Anbietern steht.

Objektive Feststellungen lassen sich im Idealfall durchaus treffen, z.B. der Nachweis des Stoffes X in der Konzentration Y. In einem aktuellen Fall zeigt sich aber, dass auch eindeutige Ergebnisse Schwierigkeiten mit sich bringen. So beschuldigt die Stiftung Warentest den Ritter Sport Konzern des Etikettenschwindels und der Verbrauchertäuschung, das Produkt ist entsprechend mit „mangelhaft“ abgestraft. Der Aromazusatz der Schokolade Voll-Nuss sei widerrechtlich als natürliches Aroma deklariert. Der Aktienkurs des Zulieferanten Symrise geriet darauf kurzzeitig ins Wanken. Der Ritter Sport Konzern hat die Vorwürfe zurückgewiesen. Die Stiftung Warentest hält jedoch in einer weiteren Erklärung an ihrem Testurteil fest, das Gerichtsverfahren findet derzeit statt.

Schon jetzt lässt sich feststellen, dass die Vorwürfe der Stiftung Warentest nicht begründet sind und Zweifel an der Kompetenz aufkommen lassen. Die schlichtweg falsche Aussage findet sich in der aktuellen Erklärung erneut: „Die Tester haben den chemisch hergestellten Aromastoff Piperonal nachgewiesen“. Korrekt ist: Die Tester haben den Aromastoff Piperonal nachgewiesen. Hinweise auf einen nicht-natürlichen Ursprung wurden nicht geliefert. Da der Stoff sich nicht wirtschaftlich aus Naturprodukten isolieren lässt, ist damit die chemische Herkunft für die Tester belegt. Eine Wikipedia-Recherche offenbart leicht, dass es neben der Isolation andere Herstellungsverfahren gibt, welche per Gesetz die Deklaration als natürliches Aroma zulassen.

Dazu zählen auch enzymatische oder biotechnologische Verfahren unter Verwendung natürlicher Ausgangsstoffe. Der nah verwandte Aromastoff Vanillin lässt sich zum Beispiel mittels verschiedener Bakterien aus Eugenol (Aroma der Nelke) herstellen. Das reine, kristalline Produkt unterscheidet sich nicht von künstlich hergestelltem Vanillin, darf aber als natürliches Aroma deklariert werden. Auch wenn das genaue Verfahren Sache des Lieferanten Symrise ist, ergibt eine weiterführende Suche, dass biotechnologische Herstellungsverfahren für den Aromastoff publiziert sind.

Bedingt durch die Verwandschaft zum Vanillin kann in einem abgewandelten Prozess beispielsweise das Öl des Sassafrasbaums als natürlicher Ausgangsstoff diesen.  Der Vorwurf der Irreführung unter expliziter Berufung auf §11 des LFGB ist offensichtlich leichtfertig getroffen worden.

Immerhin: Alle Beteiligten betonen die Unbedenklichkeit der Produkte, einzig die Deklaration ist Grund zu Beanstandung. Dennoch wird nun ein auf gleiche Art gescholtenes Kaufland-Produkt aus den Regalen genommen, währenddessen in Berlin die Hälfte aller vorgesehenen staatlichen Lebensmittelkontrollen aufgrund von Personalmangel ausbleiben.

Fernab der Gesetze kann man sich fragen, ob derartige Aromen als natürlich zu betrachten sind. Die Antwort steckt bereits in der Frage, es bleibt stets eine Betrachtung, es gibt keine objektiven Kriterien. Gesetzliche Regelungen sind auch hier Interpretationen des aktuellen Zeitgeists. Dieser lässt sich momentan so formulieren: Je unberührter durch den Menschen, desto natürlicher.

Eine wohlwollend milde Gewichtung erhalten dabei traditionsbehaftete Verfahren mit romantischen Assoziationen: Alkoholische Gärung mittels Hefen (Backwaren, Bier, Wein) oder Milchsäuregärung (Gurken etc.), allesamt ebenfalls biotechnologische Prozesse, die zweifelos besser davonkommen als das skandalöse „Erdbeeraroma aus Holzspänen“, über welches in regelmäßigen Abständen journalistisch aufgeklärt wird.

Bei der Frage, ob ein Aromastoff koscher oder halal ist, sind die Verhältnisse klarer geregelt. Es zählt die Unterschrift des beauftragen Rabbiners oder Halal Administrators. Der Produzent hat die Wahl: z.B. Vanillin, mit Kosher-Zertifikat. Oder wünscht der Verbraucher natürliches Vanillin? Zum gut 50-fachen Preis, dafür mit Natürlichkeitszertifikat und – natürlich - auch koscher.

Während bei Bio-Produkten eine Diskussion über reale Vor- und Nachteile geführt werden kann, ist im Fall eines chemisch einheitlichen Stoffes wie Vanillin der Nicht-Unterschied des Endproduktes gnadenlos entlarvt. Wie in einem magischen Ritual tritt das eigentliche Ziel in den Hintergrund und die Handlung – natürlicher Prozess - wird entscheidend. Als sinnvolle Alternative ist die Verwendung echter Vanilleschoten naheliegend, stellt global gesehen jedoch ein Privileg dar. Die Nachfrage an Aromen ist allein durch Landwirtschaft nicht zu decken. Durch die partialsynthetische Herstellung von Menthol aus Kiefernöl kann auf fruchtbarem Boden z.B. nahrhafter Reis anstelle von Pfefferminze angebaut werden (Verfahren nach Noyori, Nobelpreis 2001).

Die Auswahl an Aromastoffen ist gewaltig. Es wäre kein Problem aus koscheren, künstlichen Bestandteilen ein Schweinefleischaroma nachzubilden. Bestätigt dies nicht die schlimmsten Befürchtungen? Der Verbraucher wird mit Aromen manipuliert und Geschmacksverstärker erzeugen künstliches Verlangen. „Die Industrie“ ist bisweilen eine einzige Verschwörung und Soylent Green lässt grüßen.

Um solchen Aussagen Glauben zu schenken, muss man das Vertrauen in seine Sinnesorgane verloren haben. Selbstverständlich manipulieren Aromen. Dazu dienen sie auch den Pflanzen. Es gibt keine naturgegebene, direkte Korrelation zwischen Aroma und Nahrhaftigkeit. Knollenblätterpilze sollen übrigens sehr wohlschmeckend sein. Und jeder Koch weiß um Nutzen und Grenzen des wichtigsten Geschmacksverstärkers: Kochsalz.

In einer Verbraucherstudie wurde potentiellen Käufern eine Reihe von Lavendeldüften präsentiert. Reiner Lavendelduft und solche mit zunehmender Beimengung blumig-süßer Vanillenoten. Die Befragten gaben an sich einen möglichst natürlichen Duft zu wünschen. Der reine Lavendelduft wurde am schlechtesten bewertet. Ähnlich wie in anderen Bereichen geht das Verlangen nach mehr Natur scheinbar mit einer Entfremdung einher.

Die wahre Rückbesinnung zur Natur besteht darin, die eigenen Sinne bewusster zu verwenden. Ignorieren Sie die Versprechungen der Hersteller auf den Verpackungen und die Aufmerksamkeitsrufe der Verbraucherorganisationen. Mögen die Chromatographen nach Toxinen Ausschau halten, den sensorischen Test der Schokolade führen Sie selbst durch! Am besten jetzt gleich. Haben Sie Vertrauen in die hochentwickelte Kombination aus Geschmacksknopsen und Geruchssinn: Trotz größter Anstrengungen der Lebensmittelchemiker gelingt es nicht mit Light-Produkten den Gaumen um die Kalorien zu betrügen…

Aus meinem Thailand-Tagebuch

2.8.2012 (Bangkok)

Die Reise war anstrengend. Über sechs (unbequeme) Stunden nach Abu Dhabi, zwei Stunden Pause und nochmal sechs (immerhin komfortablere) Stunden nach Bangkok.

Das erste was mir auffiel, als wir den Flughafen verließen, war die Luft – zum Schneiden dick. Und hier scheint es früh dunkel zu werden. Mit einem Taxi fuhren wir über die überfüllten Autobahnen - alles ist voll mit Menschen, Autos und Motorollern.

Beim Anblick der dicht gefüllten Straßen Bangkoks drängt sich mir die Erinnerung an die widerwärtigen und menschenverachtenden Asien-Beschreibungen von Paul Ehrlich (Club of Rome) auf. Dort hieß es, bla bla, oh wie schlimm, alles voller Menschen hier, „sie sind überall“. Platz(ur)angst als rhetorischer Vorschlaghammer. Zugegeben, das Dichte, Überfüllte ist nicht immer (und auch nicht jedem) angenehm. Aber wenn ich mir Dynamik, Kreativität und Zukunft vorstellen soll, sehe ich sie eher im Gewühl als in ruhigen, saturierten und wohlgeordneten Bahnen…

4.8.2012 (Bangkok)

Das Einkaufszentrum Pinklao war eine faszinierende Erfahrung. Wir sind hier im Noi-Bezirk, keine besonders ausländerreiche Gegend. Bei Tesco war alles wie daheim im Westen, aber eben auch nur fast. Ein Aquarium voller Hummer mitten im Supermarkt sowie Hundefutter mit Erdbeer- und Bananengeschmack gehörten zu meinen persönlichen Highlights im Laden. Achja, und seichte Popmusik und eiskalte süße Getränke, immer und überall.

Auch das Treiben der Menschen war wieder spannend zu beobachten. Es gibt Thailänder mit dunkler, fast „afrikanischer“ Hautfarbe sowie äußerst hellhäutige Leute. Und alles dazwischen, eine multiethnische Gesellschaft also.

Am Ende war ich jedenfalls um Bettzeug, Handtücher, kleine Teppiche und allerhand Kleinkram, der mein Zimmer wohnlicher gestalten soll, sowie einige neue Eindrücke reicher.

10.8.2012 (Koh Chang)

Lektion des Tages: Für so manch einen „Farang“, also einen Weißen, ist Thailand der Lebenstraum. Eine Art südostasiatisches Freiheitsversprechen. Auf eine sinnliche, abenteuerliche und verheißungsvolle Weise - die ich noch nicht so ganz verstehe. Doch „die Bar am Strand“ übt auf unzählige Westler eine unbändige Anziehungskraft aus, für die sie ihre reichen Heimatländer verlassen und Reibereien mit der hiesigen Polizei, einheimischer Konkurrenz und teilweise sogar mit Kriminellen in Kauf nehmen. Nun gut, etwas halbseiden wirkten die holländischen Barbesitzer, mit denen ich eben mich kurz unterhalten habe, auch selbst. Schon vertrauenerweckendere Gesichter gesehen, ein paar tausend Mal sogar.

Dafür war das Strandstück hier das wundervollste solche, das ich je gesehen habe. Weißer Sand, türkisfarbenes Wasser und ein kleines, dicht bewachsenes Eiland etwa fünfzig Meter vor der Hauptinsel. Und es ist so ruhig hier, das totale Gegenteil zu Bangkok. Dass hier im Dorf trotzdem so viele Unterkünfte sind, liegt an einem Boom, der auf Koh Chang jedoch nur just so lange anhielt, wie Pukhet vom Tsunami verwüstet war. Das Fehlen eines Flughafens und Naturschutzregelungen tun ihren Teil dazu, dass sich die Touristenströme inzwischen wieder auf andere Inseln konzentrieren.

16.9.2012 (Bangkok)

Am Morgen ging ich, wie bereits letzte Woche, zur Deutschen Kirche im Christlichen Viertel. Einen Sonntag im Monat fährt der Priester auch nach Pattaya. Sicher gibt es dort viele Beichten abzunehmen.

Die Gemeinde besteht im Kern aus Rentnern und einigen Leuten, die hier bei Unternehmen tätig sind. Nach der Messe setzte sich der Pater mit den verbleibenden Gemeindemitgliedern, also einem älteren Schweizer, einem herumreisenden Pärchen, einem Au-Pair-Mädchen und mir zusammen und zündete sich erst einmal eine Kippe an.

„Das Christentum“, so sagte er, während er an der Zigarette zog, „hätte nie in Thailand entstehen können“. Hier sei nämlich das Wetter immer gleich. Um die Idee der Wiederauferstehung greifbar zu machen, habe Gott seinen Sohn nach Israel geschickt, wo es Jahreszeiten gab und die Menschen bereits an den Widerspruch gewöhnt waren, dass Dinge sterben und dann doch wiederkehren.

Das gab mir den ganzen Tag zu denken.

26.9.2012 (Bangkok)

Gestern auf dem Heimweg hielt der Bus am Democracy Monument, beziehungsweise wie auf dem Bus stand, dem „Democasi Monument“, mir nichts dir nichts an. Endstation. Die Rothemden hatten gerade eine Kundgebung an dem Denkmal. Alles war voll mir Menschen aller Altersgruppen, alle rot gekleidet, manche mit roten Flaggen. Ein Redner sprach auf Großbildschirmen zum Volk, energisch und laut, und immer wieder fiel derselbe Name: Thaksin Shinawat. Applaus. Insgesamt sah das ganze ziemlich geordnet und friedlich aus.

Nachdem ich ein Pärchen, das mit mir im Bus gesessen hatte, nach dem Weg zum Sanam Luang, von wo ich meinen Anschlussbus nehmen würde, gefragt hatte, liefen wir die Strecke kurzerhand gemeinsam, nachdem sie in rudimentärem Englisch zu verstehen gegeben hatten, dass sie den selben Weg hätten.

Er sah aus wie ein Normalo, nur hielt er seine Tasche etwas merkwürdig. Sie hingegen war außerordentlich hübsch und grazil. Nur ihre Stimme war etwas rau, aber das störte ihre Erscheinung nicht besonders.

„My girlfriend very beautiful, yes?“, fragte mich der Typ. Ich bejahte dies, äußerst konsterniert über eine derart direkte Frage. „She is a ladyboy. We are gay“, sagte er.

Anstelle eines Nachrufs

„Lasst Theorien sterben, nicht Menschen“, so formulierte der große Karl Popper seine Vorstellung von einer zivilisierten und offenen Gesellschaft, in der es allein die Weltanschauungen sind, welche miteinander im Wettstreit stehen, während körperliche Integrität und persönliche Würde des politischen Gegners nie in Abrede gestellt werden.

Sicher würde sich der Freiheitsphilosoph im Grabe herumdrehen, müsste er mit ansehen, wie unwürdig und unreif viele seiner britischen Landsleute derzeit mit der Nachricht vom Tode der ehemaligen Premierministerin Margaret Thatcher umgehen.

Gewerkschaftsfunktionäre, die „absolut erfreut“ sind über den Tod der älteren Dame. Eine schon nicht mal mehr als kleinkariert zu beschreibende Debatte über ein Staatsbegräbnis, welches der „Eisernen Lady“ natürlich sowieso nicht zu Teil wird (warum eigentlich nicht?). Ein zynischer Anti-Thatcher-„Protestsong“ in den Charts (“Die Hexe ist tot”). Ein Künstler, der bisher vor allem wegen seiner Alkoholexzesse und seiner gescheiterten Ehe Schlagzeilen machte, und der Margaret Thatcher nun postum moralische Vorträge darüber hält, wie man sein Privatleben gestalten sollte. Dann der obligatorische Internet-„Shitstorm“, der seiner vulgären Bezeichnung auch diesmal wieder alle Ehre macht.

Und zuletzt auch noch „Straßenfeste“, auf denen junge Menschen das Andenken der verstorbenen Politikerin durch den Schmutz ziehen. Ihre heiteren Gesichter erweisen sich dabei als die hässliche Fratze eines Mobs, der den Tod feiert, und nicht das Leben. Ein entwürdigendes Spektakel, das eine kritische Debatte über das politische Erbe Margaret Thatchers überschattet.

Post-religiös und post-imperialistisch wirkt ein bedeutender Teil der britischen Öffentlichkeit im Jahre 2013 weniger wie ein Leuchtfeuer eines aufgeklärten Humanismus, denn als nihilistische, und leider auch konformistische Meute.

Eine verwöhnte und narzisstische Gemeinschaft, welche gerade stark genug ist, eine Verstorbene zu verunglimpfen, die aber zugleich mit auffälliger Regelmäßigkeit vor den realen Feinden der offenen Gesellschaft wegknickt.

Für Margaret Thatcher, die Anarchistin mit Handtasche, galt hingegen Zeit ihres Lebens ein anderes Motto: “The lady’s not for turning”.

Kugeln aus Marzipan

Der Deutschrapper „Bushido“ ist seit jeher weniger für poetischen Sprechgesang als für die Vertonung seiner angsteinflößenden Gewaltphantasien bekannt.

Umso mehr verwundert es, dass sein neuster Streich, das Hochladen einer Karte vom Nahen Osten, auf der Israel von einem palästinensischen Überstaat verdrängt ist, nun für Aufruhr sorgt.

Bushido – ein Antisemit: und was ist daran jetzt die Überraschung?, gähn. Überraschend wäre allein das Gegenteil gewesen. Hat der werte Herr Ferchichi, wie „Bushido“ mit bürgerlichem Namen heißt, denn je einen Hehl aus seinem faschistoiden Weltbild gemacht?

Sprechen skurril-aggressive Textzeilen wie “Ich bin ein Taliban, ihr Missgeburten habt nur Kugeln aus Marzipan“, “Ich habe ein Osama-Poster an der Wand” oder „Salutiert, steht stramm, ich bin der Leader wie A“ denn nicht abschließend für sich, so dass sich jede weitere Diskussion erübrigt?

Nebenbei bemerkt lässt die steile Karriere des musikalischen Gesellen aus der Hauptstadt natürlich tief blicken, was Sittenverfall und Mittelstandsverwahrlosung anbetrifft. Aber ein Land, in dem Berlin als kulturelles Zentrum gelten darf, hat ohnehin ein Problem, und das soll Gegenstand dieser Betrachtung nicht sein.

Ins Feld geführt werden sollte aber unbedingt der Klassenzimmer-Effekt. Waren es nicht schon immer die Rowdys, die Junior-Diktatoren und Schulhoftyrannen, die sich vor Aufmerksamkeit, vor Mitgefühl und ja, vor der innigen Liebe der paternalistischen Lehrkräfte kaum retten konnten, während die Bedrängten ins Hintertreffen gerieten?

Nur am Nachwuchstäter kann der Pädagoge schließlich sein therapeutisches Hirtenwerk vollbringen und ein „gutes Herz“ zum Vorschein bringen, während die tatsächlichen Opfer (im Falle von Bushido sind das Frauen, Homosexuelle, Behinderte, Journalisten und und und) bisweilen unangenehm kompliziert sind, und aus der Warte des Pädagogen auch wenig hergeben, da sie ja das große Glück haben, moralisch bereits auf der richtigen Seite zu stehen. Beziehungsweise von einem brutalen Zeitgenossen dorthin gedrängt worden zu sein.

So und nicht anders muss dann auch die klamme Kuscheloffensive des CSU-Innenministers sowie  die Verleihung des Integrationspreises an Bushido verstanden werden: als später Versöhnungswunsch sensibler Eliten mit den Quälgeistern ihrer eigenen Kindheit. Wenn im bösen Buben Bushido ein lieblich scheues Bambi schlummert, das nur darauf wartet, von den Verständigen aus der talkenden Klasse ans Licht (der Scheinwerfer) geführt zu werden, ist die Welt am Ende womöglich doch ein guter Ort.

Bushido ist der Gossen-Günter-Grass. Einen Integrationspreis hat der Gangster-Rapper allemal verdient, da er endgültig bewiesen hat, dass man auch mit Migrationshintergrund hoffnungslos rechtsradikal sein kann.