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Marburg "an der Lahn": Die Beinamen der Stadt Marburg
Wer Marburg mit dem Auto über die Schnellstraße erreicht, wird am Ortseingang mit dem Schild "Universitätsstadt Marburg" empfangen.
Kommt er in einem Ortsteil an, heißt das Schild "Marburg-Bauerbach", ohne Universitätsstadt. Wer mit dem Zug anreist, hört die Ansage: "In wenigen Minuten erreichen wir Marburg an der Lahn". Die Bahnhofsschilder lauten "Marburg Lahn", wobei der Fluß in kleinerer Schrift gesetzt ist.
Der zweite Bahnhof in Marburg heißt "Marburg Süd", nicht "Marburg-Lahn-Süd". In gedruckten Fahrplänen, auf Fahrscheinen und im Internet steht Lahn in Klammern. Das Postleitzahlenverzeichnis und die Telefonbücher der Telekom nennen unsere Stadt ohne jeden weiteren Zusatz.
Bei den benachbarten Städten sieht es nicht anders aus. Wer im Hauptbahnhof Anschlußzüge sucht, findet Verbindungen nach "Kirchhain (Bz. Kassel)", obwohl diese Stadt im Regierungsbezirk Mittelhessen liegt, nach "Neustadt (Kr. Marburg)", obwohl der Landkreis seit der Gebietsreform "Marburg-Biedenkopf" heißt, und nach "Wetter (Hessen-Nassau)". Die preußische Provinz Hessen-Nassau wurde noch von den Nationalsozialisten 1944 aufgelöst, existiert also seit 66 Jahren nicht mehr.
Ist die Namensgebung von Städten eigentlich geregelt?
Gibt es einen amtlichen Namen von Marburg?
Hier kann der Historiker auf eine Quelle zurückgreifen, die mindestens so solide ist wie eine Edition der Monumenta Germaniae historica, nämlich den Staatsanzeiger des Landes Hessen.
Zum Abschluß der Gebietsreform, in deren Verlauf Gemeinden zusammengelegt und die Namen geändert und zum Teil neu erfunden wurden, wurde die Schreibweise der Namenzusätze vereinheitlicht. Ein Beschluß des Hessischen Landtags, der am 1. Januar 1977 inkraft trat, änderte die amtliche Schreibweise zahlreicher Gemeinden, es wurden Unterscheidungsmerkmale beigefügt oder weggelassen. Statt wie bisher "Marburg (Lahn)" heißt es nunmehr und bis heute "Marburg".
Bestimmte Zusatzbezeichnungen, die auf der geschichtlichen Vergangenheit, der Eigenart oder der Bedeutung der Gemeinde beruhen, können weitergeführt werden. Hiervon ist Marburg mit dem Prädikat "Universitätsstadt" betroffen.
Durch das Landesgesetz wurde aus dem erwähnten "Neustadt" "Neustadt (Hessen)", aus dem ebenfalls erwähnten "Wetter" "Wetter (Hessen)" und aus "Limburg (Lahn)" "Limburg a. d. Lahn".
Marburg ist seinen Fluß im Namen also 1977 losgeworden. Der Landtag traf diese Entscheidung natürlich nicht ohne Mitwirkung der betroffenen Stadt. Und hier war es Oberbürgermeister Dr. Hanno Drechsler, der 1974 den Entschluß faßte, daß Marburg sein "an der Lahn" beseitigen müsse.
Er war sich zunächst nicht sicher, wie die amtliche Bezeichnung der Stadt lautete, gab aber nach dem Aktenstudium sofort neue Stempel und Briefbögen in Auftrag und ließ die Streichung des Beinamens beantragen. In seinem Schreiben an den Innenminister betonte der Oberbürgermeister, daß eine Verwechslungsmöglichkeit mit einer anderen Stadt gleichen Namens nicht bestehe. "Im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gibt es keine zweite Stadt mit dem Namen Marburg. Die frühere Stadt Marburg an der Drau liegt in Jugoslawien und trägt die amtliche Bezeichnung Maribor." Das war die offizielle und im übrigen zutreffende Begründung.
Inoffizieller Beweggrund, auf den Namenszusatz zu verzichten, war eine Folge der Gebietsreform.
Die Schaffung der Stadt Lahn aus den völlig unterschiedlich strukturierten Städten Gießen und Wetzlar samt den Dörfern auf einer Strecke von zwanzig Kilometern, die von den Betroffenen einhellig abgelehnt worden war und letztlich Ministerpräsident Osswald sein Amt kostete, hatte den Begriff "Lahn" auf einen Tiefpunkt des Ansehens gebracht.
"Universitätsstadt Marburg ohne Lahn", so überschrieb die "Oberhessische Presse" ihren Artikel zur Namenänderung. Er schärfte den Lesern ein, ab sofort den korrekten Stadtnamen zu verwenden - mit wenig Erfolg, wie es sich bis heute zeigt.
Die Verhältnisse bei der Bahn hatte ich eingangs erwähnt. Selbst eine Behörde wie das Amtsgericht, die ja wohl den Staatsanzeiger abonniert hat, gebrauchte noch bis mindestens 2004 in amtlichen Verlautbarungen den falschen Namen.
Wir wissen jetzt, wie die Stadt Marburg ihren Hinweis auf den Fluß 1976/77 abgelegt hat. Doch wie ist sie zu ihm gekommen?
Von Anfang an, seit der Stadtwerdung im frühen 13. Jahrhundert, wurde der Name Marburg ohne jeden Zusatz verwendet, geschrieben überwiegend mit dem harten Verschlußlaut "p", "Marpurg", aber auch schon im 13. Jahrhundert in der uns geläufigen Form "Marburg", die sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts durchsetzte. In den Titulaturen der Urkunden, in ausgehenden Schreiben wie in internen Schriftstücken, auf Siegeln und Drucken, die von der Stadtverwaltung ausgingen, stets findet sich der Name solo, und das über mehr als ein halbes Jahrtausend lang. Gleiches gilt für die Schreiben, die von auswärts eingingen, für Eintragungen auf Karten und für die Erwähnung in Literatur.
Die Landschaft um Marburg, das Lahntal, galt gegen Ende des 18. Jahrhunderts als schön. Die Stadt selbst wurde zu diesem Zeitpunkt als häßlich befunden, wegen der schiefen Häuser mit ihren lehmbraunen und rußgeschwärzten Fassaden, den krummen Gassen und der steilen Lage am Berg. Die bekanntesten Zeugen für diese Auffassung sind Wilhelm von Humboldt und Jacob Grimm.
Die Epoche der Romantik beförderte die Wertschätzung der Natur und der Umgebung der Stadt. Doch erstmals 1861, als die Romantik schon wieder zuende war, läßt sich "Marburg an der Lahn" nachweisen, vielleicht nicht zufällig in der schönen Literatur, in dem Roman "Die Straßensängerin von London" von Julius Rodenberg.
1877 verwendete die "Oberhessische Zeitung" "Marburg an der Lahn", 1888 dann ein Tourismusorgan von außerhalb, aus Berlin. In der Folgezeit erscheint der Begriff dann öfter. Die gedruckte Reinzeichnung des Stadtwappens aus dem Jahre 1895 erhielt den Titel "Wappen der Stadt Marburg an der Lahn".
Doch zur gleichen Zeit kam auch ein anderer Name auf: "Marburg Bezirk Kassel". Der Verweis auf den Regierungsbezirk ist sicherlich die langweiligste aller denkbaren Zusatzbezeichnungen.
Da sie Marburg der Stadt Kassel unterordnet, ist sie zudem nicht sehr schmeichelhaft. Die Zuordnung nach Regierungsbezirken ist preußischer Herkunft und gegen Ende des 19. Jahrhunderts sehr oft zu beobachten, insbesondere bei Gemeindenamen, die häufig vorkommen. Bei einem singulären Namen allerdings, wo keine Verwechselungsgefahr besteht, ist der Verweis auf eine Verwaltungseinheit im Prinzip überflüssig. "Marburg Bezirk Kassel" galt als amtlich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, wobei der genaue Zeitpunkt und der Antragsteller nicht ermittelt werden konnte. Der Magistrat schaffte entsprechende Kopfbögen und Stempel an.
Der Siegeszug der Lahn verdrängte den Bezirk Kassel immer mehr, und so war es die Stadt Marburg selbst, die im Jahre 1914 bei der Reichspostverwaltung eine Änderung der amtlichen Bezeichnung in "Marburg (Lahn)" beantragte, was auch genehmigt wurde.
Man wollte die geographische Lage der Stadt gegenüber "Marburg a. d. Drau" besser herausgestellt wissen. In der Hauptsache bezweckte man einen Hinweis auf die schöne Lage Marburgs, "da das Lahntal als landschaftlich hervorragend schöne Gegend allgemein bekannt ist".
Auf eine landespolizeiliche Festlegung wurde damals verzichtet. Die Bahn zog nach, mit einer gewissen Verzögerung auch die städtischen Dienststellen. Zu Beginn der Weimarer Republik hieß es überall, auch bei Firmen, "Marburg (Lahn)" oder "Marburg an der Lahn", wobei die ausgeschriebene wie die abgekürzte Form zu beobachten ist und Klammern, Schräg- und Gedankenstriche nach Belieben verwendet wurden.
Der Magistrat beschloß im Jahre 1929, die landespolizeiliche Genehmigung für den Zusatz "a. d. Lahn" einzuholen, also den Stadtnamen offiziell zu ändern.
Der Regierungspräsident in Kassel als die Aufsichtsbehörde ließ sich den Antrag näher begründen, denn: "In Deutschland gibt es keine andere Gemeinde mit dem Namen Marburg. Auch andere an der Lahn gelegene Städte führen nicht die Bezeichnung 'a. d. Lahn', z. B. Wetzlar, Weilburg. Irgend eine Unklarheit über die amtliche Bezeichnung der Stadt Marburg herrscht nicht."
Oberbürgermeister Johannes Müller präzisierte den Wunsch der Stadt zum einen nach einer einheitlichen Benennung, die im Post- und Telegrafenverkehr "Marburg (Lahn)", sonst aber "Marburg, Bezirk Kassel" laute, und zum anderen aus Verkehrs- und wirtschaftlichen Gründen den Hinweis auf "eines der schönsten und reizvollsten Flusstäler Deutschlands".
Der Regierungspräsident genehmigte durch Verfügung vom 21. Juni 1929, dem Ortsnamen Marburg die Bezeichnung "a. d. Lahn" hinzuzufügen. So trug die Stadt Marburg für ein knappes halbes Jahrhundert den Fluß offiziell im Beinamen, bis sie seiner während der Gebietsreform überdrüssig wurde.
Im späten Mittelalter wurden die landgräflich hessischen Gebiete an der Lahn, im Unterschied zum eigentlichen Hessen, die Landschaft an der Lahn genannt. In einer Urkunde aus dem Jahre 1410 erklärt Eckhard Riedesel, von Landgraf Hermann zu seinem obersten Amtmann "zu Martpurg an der Loyne" angenommen zu sein.
So gibt es also doch noch eine frühe Nennung von "Marburg an der Lahn", fast auf den Tag genau vor sechshundert Jahren. Allerdings ist das "an der Lahn" an den Amtmann geknüpft und nicht eine Eigenschaft der Stadt: Riedesel war Amtmann an der Lahn und saß in Marburg.
Auch im folgenden Jahrhundert ist der Begriff "an der Lahn" immer wieder in Urkunden zu finden. Einmal noch, im Jahre 1513, ist die Ortsangabe "Marburg an der Lahn" zu lesen. Drei kaiserliche Kommissare, alle ortsfremd, stellten in unserer Stadt eine Urkunde aus. Der Bearbeiter der Edition, Karl Ernst Demandt, fügte dieser Ortsangabe ein Ausrufezeichen hinzu.
Es gab nicht nur ein Land an der Lahn, sondern auch ein Land an der Werra, im 17. Jahrhundert auch ein Land an der Diemel und ein Land an der Eder.
Die Benennung dieser Ämter nach Flüssen springt ins Auge. Auch die Landtagswahlkreise der Landgrafschaft Hessen-Kassel wurden nach Flüssen, den sogenannten Strömen, benannt. Mehr noch als Gebirge scheinen Flüsse die Landschaft zu gliedern, nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland, etwa abzulesen an der Benennung der französischen Departements.
Spätestens seit dem 17. Jahrhundert gibt es kein Land an der Lahn mehr, es ist unter Hessen subsumiert und Marburg unter Hessen-Kassel. Irgend eine Erinnerung an die Landschaft an der Lahn gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur noch in gelehrten Kreisen. Einen Einfluß auf das Bedürfnis, Marburg nach seinem Fluß zu benennen, hatte das nicht. In der Zeit, als die Landschaft an der Lahn allmählich zu Hessen wurde, ist auch der Name "Marburg in Hessen" zu finden, sehr selten und ausschließlich als Angabe des Verlagsorts auf Titelblättern von Büchern, aber immerhin. Jahrhunderte später, zu Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, kam "Marburg in Hessen" erneut auf.
Das ist bemerkenswert, weil nach der Annexion Kurhessens Marburg im Staat Preußen lag, Hessen als Staatswesen nur noch durch das Großherzogtum Hessen repräsentiert war. In Preußen überlebte der Traditionsname nur als Teil der Bindestrichprovinz "Hessen-Nassau".
"Marburg in Hessen" bekommt nach 1866 wenigstens der Tendenz nach einen antipreußischen Anstrich. Vielleicht soll es auch nur einen Gegenpol zu "Bezirk Kassel" bilden. "Marburg in Hessen" findet sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf Titelblättern von Büchern, auf Ansichtspostkarten, aber nie im Schriftverkehr von Behörden.
Eine Steigerung zu "Marburg in Hessen" ist "Marburg, Hauptstadt Hessens".
Das meint nicht etwa einen Anspruch oder ein Ziel, sondern eine Tatsachenbeschreibung. Zu finden ist dieser Begriff in den zahlreichen topographischen Beschreibungen des 17. und 18. Jahrhunderts.
Heute kann Hauptstadt nur eine einzige Stadt eines definierten Gebietes sein, damals wurde darunter eine wichtige, bedeutende Stadt verstanden, nicht nur die Residenz eines Fürsten, Grafen oder Bischofs. Schon wegen der zahllosen Herrschaftssitze gab es viele Hauptstädte in Deutschland. In Hessen wurden Kassel und Marburg, später auch Darmstadt zu dieser Kategorie gezählt. Die Französische Revolution reduzierte die Zahl der Hauptstädte stark und der Begriff wurde nur noch auf Regierungssitze angewendet, also nicht mehr auf Marburg.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Marburg beinahe noch einmal Hauptstadt von Hessen, und diesmal im modernen Sinn als Regierungssitz des neugegründeten Landes Hessen.
Dafür sprach, daß die Stadt von Bombenangriffen weitgehend verschont geblieben war, und die zentrale Lage, doch das ebenfalls unzerstörte, aber aus der Sicht Nord- und Osthessens entlegene Wiesbaden erhielt den Zuschlag.
Die Bezeichnung "Universitätsstadt" kommt Marburg nicht etwa seit 1527 zu, weil eine Universität in ihren Mauern den Sitz hat, sondern es ist ihr eigens verliehen worden.
Es tat dies der Innenminister des Landes Hessen am 12. August 1966. Die Anregung kam aus Kreisen der Stadtverordneten. Ausgangspunkt war der Antrag der Wahlblock-Marburg-Fraktion, einer Bürgerliste, der Magistrat möge die Zulassungsstempel für Kraftfahrzeuge und die Poststempel ändern in "Universitätsstadt Marburg a. d. Lahn".
Die Begründung: "Die vorgeschlagene Änderung entspricht der offiziellen Bezeichnung und ist gleichzeitig eine Werbung für die Universitätsstadt Marburg a. d. Lahn."
Oberbürgermeister Georg Gaßmann belehrte die Antragsteller über den offiziellen Namen von Marburg, zeigte sich aber bereit, einen Antrag beim Innenminister auf Namensänderung zu unterstützen. Alle Debattenteilnehmer unterstützten die Antragsteller bis auf den Stadtverordneten von Schwichow, der den langen Namen, der dann auf allen Schreiben firmieren müßte, nicht als Beitrag zur Vereinfachung der Verwaltungsarbeit wertete.
Dem offiziellen Antrag der Stadt wurde ohne weitere Rückfragen stattgegeben. Die Kosten für die Anschaffung neuer Stempel wurden ermittelt, Bahn und Post angeschrieben. Die Oberpostdirektion Frankfurt lehnte es ab, die gemeindeamtliche Bezeichnung auch bei der Post zu verwenden, "da im Post-, Telegraphen- und Fernsprechdienst Wert auf möglichst kurze prägnante Ortsbezeichnungen gelegt werden muß.
Auch würde eine Verwendung der neuen Bezeichnung die Lesbarkeit der im Postdienst gebräuchlichen Stempel erheblich beeinträchtigen." Auch im Falle von Wiesbaden und Gießen würden deren Attribute "Landeshauptstadt" und "Universitätsstadt" bei der Post nicht verwendet.
Die Bundesbahndirektion Kassel teilte mit, daß sie ihre Dienststellen anweisen werde, im Schriftverkehr mit Marburg den neuen Namen zu verwenden - also nicht auf Stationsschildern oder in Fahrplänen. Nur die Kraftfahrzeugzulassungsstelle verwendete den neuen Namen, so wie es von den Antragstellern in der Stadtverordnetenversammlung bezweckt worden war.
Der Vorstoß im Jahr 1966 war nicht der erste dieser Art. Einer der führenden Nationalsozialisten der Stadt, Oberbürgermeister Dr. Ernst Scheller, bat 1934 und erneut 1935 den Regierungspräsidenten, Marburg das Recht zu verleihen, künftig die Bezeichnung "Universitätsstadt Marburg a. d. Lahn" führen zu dürfen.
Der Regierungspräsident empfahl der Stadt Marburg, ihren Antrag wegen Aussichtslosigkeit zurückzuziehen. Zugleich fügte er Stellungnahmen der Reichsbahndirektion Kassel und der Reichspostdirektion Kassel bei.
Beide Behörden lehnten den Namen "Universitätsstadt an der Lahn" ab. Die Bahn befand "Marburg (Lahn)" für klar und ausreichend, den Langnamen dagegen für den Verkehr unbrauchbar. Die anderen deutschen Universitätsstädte könnten sonst gleiche Ansprüche anmelden.
Die Post bemängelte die Länge des vorgeschlagenen Namens und besonders den Zwang, Marburg nicht nur unter dem Buchstaben "M", sondern auch unter dem Buchstaben "U" führen zu müssen. Im Falle der Zulassung des Zusatzes würden zweifellos andere Städte aus Werbezwecken gleiche Anträge stellen.
Auch der Innenminister meldete sich und erklärte, daß eine Stellungnahme von ihm, wenn sie eingeholt würde, negativ ausfallen müßte: "Es gibt in Deutschland 23 Universitätsstädte; von diesen haben nicht wenige ebenso wie Marburg ihr Gepräge durch das Vorhandensein einer Universität erhalten und sind dadurch in weitesten Kreisen bekannt geworden."
Der Oberbürgermeister zog nach einigen Wochen Bedenkzeit im März 1936 den Antrag zurück.
Ob genehmigt oder nicht, die Stadtverwaltung verwendete den Begriff. "Dem 5. Hessentag der NSDAP entbietet die Universitätsstadt Marburg die herzlichsten Grüße", lautet ein gedruckter Text aus dem Jahre 1935. In der Todesanzeige Schellers heißt es 1942: "Oberbürgermeister der Universitätsstadt Marburg a. d. Lahn". Schellers Initiative kam nicht ohne Grund. Seine eigene Partei mit ihren antiintellektuellen Tendenzen schädigte durch ihre Hochschulpolitik die Stadt Marburg massiv, weil durch Zugangsbeschränkung und Kasernierung die Studentenzahl drastisch zurückging und viele Studentenzimmer der privaten Vermieter leerstanden. Scheller versuchte, wenigstens im Atmosphärischen dem entgegenzusteuern. Auch die südliche Nachbarstadt nannte sich 1940 "Universitätsstadt Gießen".
Eng verknüpft mit der Universität ist der merkwürdige Begriff "Marpurgi Cattorum". In Marburg im Chattenland, wie man frei übersetzen muß, eine Ortsangabe im alten Lokativ Genitiv Singular.
Der Begriff findet sich überwiegend bei Verlagsangaben auf Titelblättern in Büchern, daneben aber auch in studentischen Stammbüchern und in lateinischsprachigen akademischen Urkunden.
Alle diese Sphären gehören der Universität an, auch der Buchdruck, der sich in der frühen Zeit der Universität fast ausschließlich an deren Angehörige wandte. In den Matrikeln der Universität mit ihren Tausenden von Personennamen, die alle mit Herkunftsort oder Herkunftsland ("patria") verzeichnet sind, findet sich dieser Begriff nicht und übrigens auch nicht der Beiname der Lahn.
Die Bezeichnung "Marpurgi cattorum" kam im späten 16. Jahrhundert auf und erreichte ihren Höhepunkt gegen Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts.
Sie erscheint in Einzelfällen noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, etwa in dem gedruckten Formular der Immatrikulation, das Ludwig Bickell ausgehändigt wurde (1860). Noch einmal hundert Jahre später vermerkte die Kölner Universität in dem Doktordiplom von Eckhart Franz, dem späteren Marburger und Darmstädter Archivar, den Herkunftsnachweis "ex Marpurgo Cattorum".
Die Universität Marburg hieß so über Jahrhunderte. Der Name "Philipps-Universität" setzte sich erst im 20. Jahrhundert durch, gefördert durch das Jubiläum 1927.
Vorbereitet wurde er durch Begriffe wie "Alma mater Philippina" oder schlicht "Philippina", die schon länger zuvor geprägt wurden. Über studentische Stammbücher wurde der Begriff "Lahn-Athen" verbreitet, der bereits 1727 belegt ist. Leider hat er den Schönheitfehler, daß er auch in Gießen verwendet wurde; Flüsse bieten zuweilen nicht nur einer einzigen Universität Platz.
Auch andere Universitäten verknüpften ihren Fluß mit dem Sitz der platonischen Akademie: Jena und Halle mit der Saale, Leipzig mit der Pleiße und Göttingen mit der Leine. 1992, als "Lahn-Athen" in einem Buchtitel erschien, war der Vorbildcharakter der griechischen Antike stark verblaßt. An Leitbildern des Mittelmeerraums orientiert man sich heute nicht mehr, sondern ausschließlich an angelsächsischen Hochschulen.
Welche Beinamen tragen andere Städte?
Frankfurt am Main ist die gesamte Neuzeit hindurch mit dem Flußnamen aufgetreten (belegt seit dem 15. Jahrhundert), obwohl kaum mit der brandenburgischen kleinen Stadt an der Oder zu verwechseln, auch wenn diese lange vor der Stadt am Main eine Universität und damit eine Aufwertung erhielt.
Kandidaten für Unterscheidungsnamen sind vor allem solche, die Allerweltsnamen tragen, wie Neustadt, Rotenburg, Allendorf.
Nicht weit entfernt von Marburg bezeichnete sich die Stadt Allendorf in einer von ihr selbst ausgestellten Urkunde bereits im Jahre 1396 "an der Lomme", das heißt an der Lumda; Landgraf Hermann bestätigte diese Urkunde, wobei er die gleiche Worte verwendete. Treis an der Lumda, am gleichen bedeutungslosen Gewässer gelegen, ist um 1610 in einem Druck genannt.
So sind es vornehmlich kleine Städte, die Beinamen tragen, die sie unverwechselbar machen, wie Rotenburg an der Wümme, Neustadt am Rübenberge und Springe am Deister. Köln oder Hamburg, die nun wirklich an bedeutenden Flüssen liegen, haben es nicht nötig, sich nach diesen zu benennen.
Die ältesten Beinamen von Städten sind auf den Umschriften von Siegeln angebracht.
Im Rheinland, einer im Gegensatz zu Hessen alten Städtelandschaft, die zudem siegelkundlich sehr gut erforscht ist, sind Beinamen sehr selten.
Bei einigen wenigen königlichen Städten und in den Hochstiften Köln und Mainz lassen sie sich belegen. Doch es gibt noch eine weitere Stadt, ganz abseits von den traditionellen Städtelandschaften, die einen alten Beinamen besitzt.
Die Rede ist von dem anderen Marburg, dem heutigen Maribor in Slowenien, unserer Partnerstadt. Aus der Zeit um 1300 ist ein Siegelstempel im Original erhalten, auf dem die Umschrift eingraviert ist: Sigillum civitatis Marpurgensis in Stiria, Siegel der Stadt Marburg in der Steiermark.
Ein jüngeres Siegel mit der Jahreszahl 1520 enthält ebenfalls einen Hinweis auf die Steiermark. Die Steiermark meint aber nicht die Landschaft, sondern den Bereich der Herrschaft des Herzogs der Steiermark.
Es ist in der Siegelumschrift also der Landesherr genannt. Die Erwähnung des Landesherrn deutet auf eine starke Territorialherrschaft hin. Immerhin war der Stadtherr ein Herzog und nicht ein Landgraf wie in Hessen, der seine herzogsähnliche Stellung erst noch durchsetzen mußte.
Trotz der Umschrift im Siegel wurde Marburg meistens ohne Beinamen genannt.
Die Bezeichnung "Marburg an der Drau" kam erst im 19. Jahrhundert auf, wohl ähnlich wie in der Stadt an der Lahn aus romantisch-touristischen Gründen. Der Stadtname "Maribor" ist ebenfalls eine Bildung des 19. Jahrhunderts.
Bis ins 20. Jahrhundert gab es die Bezeichnung "Marburg in der Steiermark". Nach dem Untergang von Österreich-Ungarn und dem Anschluß der Untersteiermark an Jugoslawien wurde der Beiname obsolet. Das Maribor der Gegenwart verweist nicht auf den Fluß, an dem es liegt.
Der häufigste aller Beinamen ist "Bad" oder eine Ableitung davon wie "Heilbad" oder ähnlich.
Marburg beanspruchte in den dreißiger Jahren wenigstens für einen Teil des Stadtgebietes, nämlich das Ortenbergviertel, Kurort zu sein.
Normalerweise sind Neubaugebiete, und das war der Ortenberg in dieser Zeit, nicht prädestiniert zum Kurort. Eine Quelle mit Heilwasser war nicht angebohrt und die Luft östlich der Bahnlinie sicher nicht besser als westlich davon.
Doch es gelang im Mai 1935, durch den Bund Deutscher Verkehrsverbände und Bäder in Berlin als heilklimatischer Kurort anerkannt zu werden mit der Folge, daß Fremde ab sofort Kurtaxe zu zahlen hatten. Der Erbauer und Betreiber des Kurhotels Ortenberg dürfte Einfluß auf die Initiative ausgeübt haben. Das Kurhotel, 1929 vollendet, war in den dreißiger Jahren das führende Hotel in Marburg.
Zu "Bad Marburg" ist es nicht gekommen, aber wenigstens zu "Bad Marbach" am Beginn des 20. Jahrhunderts, also lange vor der Eingemeindung des Dorfes Marbach nach Marburg im Zuge der Gebietsreform.
Anspruch hätte Marburg auf den Beinamen "Kreisstadt", denn sie ist Sitz des Landratsamtes.
Doch Marburg hat nie davon Gebrauch gemacht. Auf einen solchen Titel greift eine Stadt nur dann zurück, wenn sie nichts besseres zur Verfügung hat.
"Marburg ist Märchenstadt", propagierte der Literaturwissenschaftler Wilhelm Solms im Jahre 1993.
Solms' Aufsätze waren Teil einer Initiative "Märchenstadt Marburg, märchenhaft", die vom Fremdenverkehrsamt ausging und von Wirtschaftsunternehmen unterstützt wurde.
Das rief den Ethnologen Martin Scharfe auf den Plan, der ganz grundsätzlich wurde und das Verhältnis der Märchen zur Wissenschaft thematisierte. Wenn Märchen erforscht werden, sind sie Stoff von Wissenschaft, beim Märchenerzählen aber nicht, erst recht nicht bei der Verwendung der Metapher "märchenhaft schön" in der Tourismusförderung und der Verbindung von "Märchen" mit "altehrwürdig".
Scharfe: "Hat man denn auch gründlich bedacht, welche Folgen die Benennung 'Märchenstadt' für Marburg haben könnte? Ist der Präsident der Universität gewarnt und vorbereitet für den Tag, an dem auf den Ortsschildern statt der ehrwürdigen Bezeichnung 'Universitätsstadt Marburg an der Lahn' stehen wird: 'Universitäts- und Märchenstadt'?"
Scharfe nahm den Begriff "Universitätsstadt" zum Maßstab, um den der "Märchenstadt" zu diskreditieren.
Kürzlich ist das Merkmal "Universitätsstadt" selbst in die Kritik geraten. Der Sprachkritiker Bastian Sick, der durch Zeitungskolumnen und die Buchreihe "Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod" bekannt geworden ist, nahm in der vierten Folge dieses Bestsellers die Namenszusätze von Städten aufs Korn.
Marburg wird nicht ausdrücklich genannt, ist aber mittelbar betroffen, wenn Sick attestiert, daß die Zahl der Universitätsstädte kaum noch zu überblicken sei. "Namenszusätze machen eine Stadt aber nicht unbedingt bedeutender," so Sick, "in der Fülle lassen sie sogar auf eine Profilneurose schließen.
Ein schlichtes 'Willkommen in Gießen' oder 'Willkommen in Tübingen' lässt dem Besucher noch ein paar Illusionen, es regt seine Fantasie an und macht ihn womöglich neugierig, diese Stadt zu entdecken, die sich so selbstbewusst und unprätentiös präsentiert.
Wenn er aber mit den Worten 'Willkommen in der Messe- und Universitätsstadt' empfangen wird, hat er bereits am Bahnhof die Gewissheit, in der Provinz angekommen zu sein."
Dem Prädikat "Universitätsstadt" droht noch von anderer Seite Gefahr.
Vor einigen Monaten wurde in der überregionalen Presse berichtet, daß ein Taxifahrer hinter dem Ortseingangsschild "Brüder-Grimm-Stadt Hanau" mit 80 Stundenkilometern geblitzt worden war und den Bußgeldbescheid erfolgreich vor dem Amtsgericht angefochten hatte.
Nach der Straßenverkehrsordnung ist das Ortseingangsschild ein Verkehrsschild, auf dem nur der Ortsname, gegebenenfalls Ortsteilzusätze und der Name des Kreises stehen dürfen. Mit anderen Zusätzen versehen verliert das Verkehrsschild seine Wirksamkeit. In der Praxis heißt das: Das Gebot der innerörtlichen Geschwindigkeit von 50 Kilometern in der Stunde ist in den Städten mit Namenszusatz im Ortsschild ungültig. So ganz unvorbereitet kam das Gerichtsurteil nicht.
Bereits vor drei Jahren hatte das hessische Verkehrsministerium die Regierungspräsidien darauf aufmerksam gemacht, daß Namenszusätze rechtliche Schwierigkeiten nach sich führen.
An den Schildern wurde aber nichts geändert. Bemühungen, das Bundesrecht zu ändern, hatten bislang keinen Erfolg.
Fazit: Es ist nicht ganz einfach mit den Beinamen der Stadt Marburg.
Dr. Ulrich Hussong, Stadtarchivar der Universitätsstadt Marburg