Flucht als Urlaub getarnt
Jutta Fleck ist 35 Jahre alt, als sie im August 1982 vom rumänischen Geheimdienst Securitate aufgegriffen wird. Gemeinsam mit ihren beiden Töchtern Claudia (11) und Beate (9) hat Jutta Gallus - wie sie damals noch heißt - versucht, mit falschen Papieren in die BRD zu fliehen. Doch der als Urlaubsreise ans Schwarze Meer getarnte Plan wird verraten.
Am 1. September 1982 wird die Familie auseinandergerissen. Jutta Gallus wird nach der Untersuchungshaft im Stasi-Gefängnis in Dresden im Januar 1983 wegen schwerer Republikflucht zu drei Jahren Haft im berüchtigten DDR-Frauengefängnis Hoheneck verurteilt. Sie muss sich eine Großraumzelle mit Schwerverbrecherinnen teilen, bekommt Hormone in ihr Essen gemischt - muss erniedrigende Verhöre und Zwangsarbeit über sich ergehen lassen. Claudia und Beate werden unterdessen in ein Heim für Schwererziehbare Kinder gebracht, bevor sie an ihren leiblichen Vater - einen linientreuen DDR-Bürger, wie Jutta Fleck später sagt - nach Dresden überstellt werden. Der Vater, von dem Jutta Gallus seit 1981 geschieden ist, beeinflusst die Kinder, erpresst sie. Beate und Claudia müssen den Briefkastenschlüssel abgeben. Die wenigen Briefe, die die Stasi-Zensur aus den Mauern der Haft herauslässt, fängt der Vater überwiegend ab. Die Kinder dürfen die Verwandten nicht besuchen, kein Wort über die Mutter verlieren, die sie so schmerzlich vermissen. Auch ihre Briefe erreichen die Mutter nur selten. Außerdem muss sie in der Haft ihr Gesicht aus gemeinsamen Familienfotos herausschneiden. Dennoch hat Jutta Gallus nie das Gefühl, dass es ein Abschied für immer ist. Auch dann nicht, als sie in der Abschiebehaft gezwungen wird, das Erziehungsrecht an den Vater abzutreten.
Vom Regime eingespannt
Jutta Gallus wird noch vor Haftende von der Bundesregierung freigekauft und kommt - wie viele andere, die den Repressalien des DDR-Regimes entfliehen konnten - im April 1984 in die Notaufnahmelager, eine Art Übergangslager, nach Gießen. Für Jutta Gallus tatsächlich nur ein Übergang. Denn sie will kämpfen. Für Gerechtigkeit - und für ihre Kinder. Die Kinder, die mittlerweile vom Staatsapparat der DDR eingespannt worden sind. Claudia spielt eine Hauptrolle in der DDR-Kinderserie "Geschichten übern Gartenzaun", Beate erhält Ballettunterricht, hat Auftritte im renommierten Kulturpalast in Dresden und im Fernsehen. Für Jutta Gallus ein Schlag ins Gesicht, wie sie später erzählt.
Aufgeben ist für sie keine Option
Doch Aufgeben ist für sie keine Option. Deswegen braucht sie eine öffentliche Plattform. Möglichst dort, wo sie der ganzen Welt das Unrecht in ihrer alten Heimat, die für sie im Regime nie eine war, vor Augen halten kann. Sie reist mit selbst gebastelten Transparenten nach West-Berlin, postiert sich dort ab dem 4. Oktober 1984 ein halbes Jahr lang jeden Tag am "Checkpoint Charlie", gibt Interviews und erzählt ihre Geschichte im Fernsehen. In Rom übergibt sie im April 1985 ein Schreiben an Papst Johannes Paul II., der zur gleichen Zeit Besuch vonErich Honecker bekommen soll. Der Papst verspricht ihr, sich beim Staatsoberhaupt der DDR für sie einzusetzen. Erfolglos, wie sich herausstellen wird. Im Juli 1985 fährt Jutta Gallus nach Helsinki, wo der zehnte Jahrestag der KSZE-Konferenz gefeiert werden soll.
Dort kettet sie sich an einem Geländer vor der Kongresshalle an und protestiert mit einem Plakat, das sie auf ihren Pullover genäht hatte gegen Menschenrechtsverletzungen in der DDR - und für die Freilassung ihrer Kinder. Sie spricht mit Außenminister Hans Dietrich Genscher, der sie aber auch nur vertrösten kann. "Uns sind die Hände gebunden", erklärt der Politiker und verweist auf die "stille Diplomatie"zwischen der BRD und der DDR.
Ruhe bewahren. Das ist es, was Jutta Gallus von offizieller Seite immer wieder zu hören bekommt. Und auch die DDR will Ruhe. Endgültig. Am Tag der geplanten Abreise aus Helsinki erhält Jutta Gallus einen Anruf. Auf keinen Fall solle sie heute das Hotel verlassen. Es sei geplant, sie auf einem Schiff, auf dem eine Pressekonferenz stattfinden soll, zu liquidieren. Die Frau vom Checkpoint Charlie sollte nie wieder demonstrieren, nie wieder die DDR diffamieren. Aber es kommt anders. Jutta Fleck gelangt aufgrund der Warnung sicher von Finnland nach Berlin, wo im August 1986 eine Gedenkfeier im Reichstag aus Anlass des Berliner Mauerbaus stattfinden soll.
Von Weizsäcker, Brandt, Kohl - die Aufmerksamkeit könnte nicht größer sein. Sie kommt Bundeskanzler Helmut Kohl auf seinem Weg zum Rednerpult zuvor und kann ihre Botschaft vor laufender Kamera verkünden. Aber wieder wird sie nur vertröstet. Ihr bleibt nichts anderes übrig als weiterzukämpfen. Weiter bei Wind und Wetter ihre Plakate vor die Augen der Öffentlichkeit zu tragen. Bis es dann - ganz plötzlich - soweit ist. Am 5. Juli 1988 erhält sie einTelegramm vom Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen: "Ihre Kinder kommen!" Am 25. August - auf den Tag genau sechs Jahre nach ihrer Festnahme - erleben Mutter und Kinder ihren persönlichen Mauerfall, ihre eigene Wiedervereinigung.
Jutta Fleck im Interview
Frau Fleck, welche Gefühle haben Sie, wenn sie an den Tag des Mauerfalls denken?
Meine persönliche Wiedervereinigung war ja schon ein Jahr vorher, als ich 1988 meine Töchter in West-Berlin in die Arme schließen konnte. Aber wenn ich die Bilder vom Mauerfall sehe, bekomme ich immer noch Gänsehaut. Man muss diesen Tag in Erinnerung halten, auch wenn ich das Gefühl habe, dass die Euphorie des Mauerfalls in der Bevölkerung verloren gegangen ist.
In unserem Nachbarland Thüringen sieht es so aus, als ob 25 Jahre nach Öffnung der Grenzen die SED-Nachfolgepartei den Ministerpräsidenten stellen wird. Wie bewerten Sie den Ausgang dieser Wahl?
Ich finde das zutiefst beunruhigend. Diese Partei hat da überhaupt nichts zu suchen. Dafür sind die Menschen doch damals nicht auf die Straße gegangen, nur um 25 Jahre später wieder von diesen Leuten regiert zu werden. Aber wenn die Thüringer das so wollen, sind sie selbst schuld.
Wie erklären Sie sich die Wahlergebnisse der Linken?
Die Bevölkerung ist schon immer sehr blauäugig gewesen. Gerade die sozial schwächeren Schichten sind leicht zu steuern. Das Grundübel ist meiner Meinung nach, dass dort das Interesse nicht vorhanden ist, sich über gesellschaftliche und politische Probleme zu informieren.
Also wieder die Politikverdrossenheit?
Ich finde schon. Die Politiker müssten mehr menscheln, nicht nur Versprechen im Wahlkampf geben. Oft habe ich den Eindruck, dass diese Leute den Bezug zur Realität verloren haben.
Können Sie das näher erklären?
Nun ja, gerade in der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit werden oft beide Augen zugedrückt. An diesem Thema will man parteiübergreifend nicht rühren. Aber die Realität ist, dass es fünf Millionen Flüchtlinge gab, die unter dem Unrecht der DDR gelitten haben. Für die ist beispielsweise das Wahlergebnis aus Thüringen ein Schlag ins Gesicht. Aber diese Menschen werden sowieso viel zu oft einfach unter den Teppich gekehrt, während ehemalige DDR-Funktionäre und Stasi-Mitarbeiter im Fernsehen hofiert werden.
Ihr erster Fluchtversuch ist aufgeflogen, weil Sie verraten wurden. Können Sie überhaupt noch Vertrauen fassen?
Das fällt mir tatsächlich sehr schwer. Ich würde gerne Vertrauen fassen, aber ich werde immer noch zu oft enttäuscht. Das hängt sicher mit meiner Geschichte zusammen, zumal es in meinem persönlichen Umfeld, aber auch in der Kirche damals viele Verräter gab, die mit der Stasi zusammengearbeitet haben.
Aber Sie haben dennoch nicht aufgehört, für Ihre Familie und für die Freiheit zu kämpfen. Gibt es Ihrer Meinung heute noch gute Gründe, für etwas einzutreten, oder sehen Sie auch hier eine gewisse Verdrossenheit?
Es gibt immer Dinge, für die es sich lohnt zu kämpfen. Man muss immer den Finger in die Wunde legen, denn es gibt auch Unrecht in der Demokratie. Etwa im Gesundheitswesen. Da herrschen teilweise katastrophale Zustände. Aber wir Deutschen sind da wohl ein bisschen träge. Vielleicht geht es uns aber auch einfach noch zu gut, um für unsere Rechte einzutreten. Aber wenn die Politik nicht in der Lage ist, dieses Unrecht zu unterbinden, dann müssen die Bürger aktiv werden. Man muss sich ständig dem Unrecht stellen, und nicht nur an der Oberfläche kratzen.
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