Nicht das Schlimmste, nicht das Beste, aber Novorossia läuft die Zeit davon

Sie flattern dir nach, deine möglichen Vergangenheiten
helläugig und irre die einen, andere furchtsam und verloren
Eine Warnung für jeden, der noch das Kommando hat
sich um die mögliche Zukunft zu sorgen
Roger Waters

Am 1.Juli schrieb ich einen kurzen Text mit dem Titel “Novorossia – Hoffe das Beste, bereite Dich auf das Schlimmste vor, und erwarte irgend etwas in der Mitte”, in dem ich verschiedene mögliche Ergebnisse von dem ausführte, was ein unmittelbar bevorstehender, massiver Angriff der Ukies auf Novorossia zu sein schien. Ich glaube, jetzt ist ein guter Zeitpunkt, zurückzublicken auf das, was in den vergangenen 40 Tagen geschehen ist, und es mit den möglichen Ergebnissen zu vergleichen.

Das Leben irgendwo dazwischen

Zuerst, das beste mögliche Ergebnis, das ich wie folgt zusammenfasste: Die Hoffnung für das Beste ist einfach: der Widerstand Novorossias schlägt die Nazitruppen zurück. Das ist offensichtlich nicht geschehen, und, offen gesagt, das war auch unwahrscheinlich. Ich muss hier jedoch anmerken, dass die Zerstörung des “Südlichen Kessels” ein ungeheurer Erfolg für den Widerstand darstellt, der die meisten, glaube ich, überrascht hat.

Hier nun, wie ich das schlimmste mögliche Ergebnis beschrieben habe:

Aber was ist das Schlimmste, das geschehen kann?

Das Schlimmste, das geschehen kann, ist, dass eine Menge von Novorossias Verteidigern getötet werden, dass die Städte Slawjansk, Kramatorsk, Krasnij Liman und andere regelrecht dem Erdboden gleichgemacht und die meisten der Einwohner umgebracht werden, dass die Straße zwischen Donezk und Lugansk von den Ukies abgeschnitten wird und die Ukie-Truppen tief in diese beiden Städte eindringen. Wenn ich ehrlich bin, es gibt eine ziemlich gute Chance, dass all das oben erwähnte in den nächsten 24 Stunden geschieht.

Es mag oberflächlich so aussehen, als wäre das nahe an dem, was tatsächlich geschehen ist. Natürlich abgesehen davon, dass es nicht in 24 Stunden geschah, sondern die Ukies 40 Tage brauchten, um dieses Ergebnis zu erzielen. Man sollte aber folgende “Details” betrachten:

1. Die Straße zwischen Donezk und Lugansk ist noch nicht unterbrochen, aber sie ist bedroht, daran besteht kein Zweifel. Aber die Ukies fürchten, in eine Falle zu geraten und zum Aufgeben gezwungen zu werden. Daher mussten sie sich, obwohl ihre Kräfte in einige Städte auf dieser Achse eingedrungen sind, sich auf ihre Stellungen zurückziehen.

2. Alle Kämpfe finden in den Vorstädten dieser Städte statt und keine Truppen der Ukies sind in Lugansk oder Donezk selbst eingedrungen. Ja, diese Städte werden erbarmungslos beschossen, aber das geschieht aus Frustration, weil es ihnen offenbar unmöglich ist, tatsächlich die Verteidigungslinien des Widerstands zu durchbrechen.

3. Die Zerstörung des südlichen Kessels hat 165 km der Grenze zwischen Novorossia und Russland geöffnet und das heisst, dass die Junta, weit davon entfernt, den Widerstand von Russland abschneiden zu können, jetzt weniger der wichtigen Grenzübergänge kontrolliert als zuvor.

Tatsächlich sind das nicht Details, sondern entscheidende Elemente des strategischen Gesamtbilds. Natürlich, die Zivilbevölkerung zahlt einen furchtbaren Preis für das Fehlen wirklicher militärischer Erfolge auf Seiten der Junta, und dieser Schrecken wird sich so lange fortsetzen, wie der Westen völlig hinter Poroschenkos Krieg steht. Die Ukies haben willkürlich Gebäude, Kindergärten, Kirchen und sogar Krankenhäuser mit Granaten beschossen. Traurigerweise entspricht das dem üblichen Verfahren, das ist, was die USA in Serbien und Montenegro gemacht haben, das machten die Israelis 2006 mit dem Libanon und genau das machen sie jetzt mit Gaza. Dennoch, so schrecklich diese Schandtaten sind, wir sollten sie nicht für irgeneinen militärischen Erfolg der Junta halten, ganz im Gegenteil.

Im Juli befasste ich mich auch mit der sehr realen Möglichkeit, dass die Todesschwadronen der Junta tatsächlich nach Donezk und Lugansk eindringen. Ich schrieb:

Selbst wenn Poroschenko verkündet, Donezk und Lugansk seien “gefallen”, so ist dies nur eine leere Behauptung, vergleichbar mit Dubyas “Mission erfüllt”. Was “wirklich” geschehen wird, ist, dass sich die Art der Kriegsführung ändert. Sie wird sich nicht nur ändern, sondern die neue (städtische) Art der Kriegsführung wird die gegenwärtigen enormen Vorteile der Ukies in der Luft, bei Artillerie und Rüstung fast völlig aufheben. Also, sollten diese Städte “fallen” – bitte verzweifelt nicht.

Offensichtlich musste der Widerstand die Verteidigung in dem, was das Militär “gemischtes Gelände” nennt (Bewuchs, kleine Orte, natürliche Hindernisse), nicht aufgeben, noch musste er sich tief in die städtischen Gebiete zurückziehen, um die enormen Vorteile der Junta an Gerät und Truppenstärke zu negieren. Also selbst wenn diese Art von “das Schlimmste ist nicht geschehen” nicht wirklich gute Schlagzeilen hergibt, ist es sehr wichtig, insbesondere, wenn wir das größere Bild betrachten.

Der Wettlauf mit der Zeit

Der Krieg in der Ukraine hat sich nun in einen reinen Wettlauf mit der Zeit verwandelt. Wenn wir annehmen, dass die Junta unbegrenzte Zeit zur Verfügung hat, um den Widerstand zu zerschlagen, dann können wir nur zu dem Schluss kommen, dass der Widerstand vollständig ausgelöscht werden wird. Gleichgültig, wie viel verdeckte Hilfe aus Russland kommt, die Junta sitzt auf einem enormen Lager von alten, aber noch verwendbaren, Waffensystemen. Die Junta hat ebenfalls ein ungeheures Truppenreservoir. Also gleich, wie heldenhaft und geschickt der Widerstand kämpft, kann er auf lange Sicht einfach nicht gewinnen. Selbst wenn wir annehmen, dass die Ukie-Truppen im Donbass durch den Widerstand völlig zum Stehen gebracht werden, ist es eine Sache, sich gegen einen Angreifer zu verteidigen, und eine völlig andere, eine erfolgreiche Offensive einzuleiten. Selbst wenn die Ukies um Donezk zurückgeschlagen werden, heisst das daher noch lange nicht, dass Strelkow einen Gegenangriff auf Kiew starten kann. Gleich, wie man es aufteilt, auf lange Sicht gewinnen die Ukies.

Mehr noch, viele Quellen legen nahe, dass die Ukies zu kämpfen gelernt haben, selbst wenn sie dafür einen hohen Preis an Menschenleben bezahlt haben. Vor einem oder zwei Monaten sahen wir einen Krieg ahnungsloser Eingezogener gegen ältere, aber kampferfahrene Truppen des Widerstands. Das ist nun anders. Natürlich haben die Ukies schreckliche Verluste erlitten, und tun es noch, aber die Zeichen nehmen zu, dass die, die überlebt haben, ihre Lektion auf die harte Art gelernt haben und nun viel schwerer zu schlagen sind als in der Vergangenheit.

Dennoch gibt es viele Gründe, warum die Ukies nicht so viel Zeit haben.

Die erste winterliche Kälte wird in einem Monat oder so eintreffen, gefolgt vom Winter selbst.

Die Wirtschaft der Ukies nähert sich dem völligen Stillstand (zu erwarten zwischen September und Oktober)

Die EU hat gerade bemerkt, dass die Gegensanktionen, die Russland verhängt hat, sowohl extrem teuer als auch politisch spaltend sind

Die wahre Geschichte der MH17 wird weiter auf die eine oder andere Art aus den Ritzen fliessen

Die Ukie-Eliten kämpfen schon ziemlich offen miteinander

Die fortgesetzten Massaker durch die Ukie-Todesschwadronen sind immer schwerer zu verbergen

Aus all diesen Gründen brauchen Poroschenko und seine Sponsoren dringend einen schnellen Sieg, etwas, um zu zeigen, dass das Regime nicht ahnungslos ist und dass der Wille Onkel Sams “im Himmel wie auf Erden” geschieht. Im Gegenzug macht jeder verstreichende Tag ein (unwahrscheinliches, aber immer mögliches) militärisches Eingreifen Russlands politisch weniger teuer. Die Quintessenz daraus: die Zeit ist auf der Seite Russlands, aber nicht auf der von Novorossia. Für dessen Einwohner ist die Krise schwer, der Schrecken ein Teil des täglichen Lebens, und die Not drückender und drückender. Doch der Widerstand Novorossias hat sich besser, sogar viel besser gehalten, als ich gefürchtet hatte, und das muss man anerkennen.

Russlands Optionen unterhalb eines militärischen Eingreifens

Da wir nicht wissen wie nah hier jede der Seiten daran ist, zu zerbrechen, scheint die Lage dennoch sehr wechselhaft, sehr instabil und sehr gefährlich zu sein. Ich denke noch immer, dass Russland mehr tun muss um sicherzustellen, dass die Novorossier nicht überrannt werden (besonders angesichts ihres Mangels an Tiefe im Raum könnte dies, wörtlich, innerhalb von 24 Stunden geschehen).

Zuerst sollte Russland seine verdeckte militärische, finanzielle und technische Hilfe erhöhen, und es sollte vermutlich auch seine offizielle Haltung von “erklärter Nichteinmischung” auf “begrenztes Eingreifen aus humanitären Gründen” umstellen. Zumindest sollte Russland, wenn die USA und ihre Kolonien eine Konferenz sogenannter “Freunde Syriens” versammeln konnten, politische Schritte erwägen, um den Druck auf Novorossia zu vermindern. Die BRICS-Länder und die Mitglieder der SCO könnten einen Notfall auf Grund der humanitären Lage in der Region Rostow erklären. Und wenn die USA eine humanitäre Mission als “Intervention” betrachten wollen, dann sei es so! Wen kümmert, was die USA sagen würden? Mittlerweile haben die USA alles schon gesagt und vorzugeben, dass eine nächste Äußerung von den “Irren” irgend etwas in der wirklichen Welt ändern würde, ist sinnlos, meine ich.

Zweitens sollte Russland, nun, da es wirtschaftliche Sanktionen gegen die EU verhängt hat, den “Partnern aus der EU” gegenüber klar aussprechen, dass diese Sanktionen so lange in Kraft bleiben, wie sich die EU als “Onkel Sams Hure” verhält. Während offiziell diese Sanktionen eine Erwiderung auf die US/EU-Sanktionen sind, bin ich davon überzeugt, dass ihr wirkliches Ziel nicht in einer Antwort auf die eher lahmen US/EU-Sanktionen besteht, sondern die EU strafen sollen und genutzt werden, um die völlige Unterwürfigkeit der EU den USA gegenüber zu brechen. Darum hat Russland Teilsanktionen gewählt, Sanktionen, die ziemlich genau die unterwürfigsten US-Kolonien (Polen und Litauen) und gleichzeitig die rebellischsten (Griechenland, Frankreich, Spanien) treffen. Des weiteren wird Russland jetzt Milliarden seiner Dollar/Rubel von jenen Ländern, die Onkel Sam unterstützen, in jene umlenken, die es nicht tun. Argentinien, Brasilien, China und andere feiern nun offen die Unterzeichnung riesiger Verträge mit Russland. Das wird im Gegenzug bedeuten, dass diese Länder schrittweise ein immer größeres eigenes Interesse an der Aufrechterhaltung bester Beziehungen mit Russland haben, was wiederum Russland eine zunehmend größere politische Schlagkraft verleiht. Die BBC hat heute berichtet, dass “der Vorsitzende der Europäischen Kommission, Jose Manuel Barroso, Russlands Wladimir Putin ermahnte, unter keinem Vorwand eine einseitige militärische Aktion in der Ostukraine durchzuführen”. Das ist ein perfektes Beispiel für das, was Nikolai Starikow eine “rüpelhafte Haltung Russland gegenüber, als sei es ein schuldiges Kind, das bestraft und erzogen werden müsse” genannt hat. Wer zum Teufel glaubt Barroso zu sein? Dort gibt es einen ausgewachsenen Krieg und eine massive humanitäre Katastrophe, gleich auf Russlands Schwelle, und dieser portugiesische Bürokrat glaubt, er kann Russland erklären, was es tun könne und was nicht?! Die russischen Sanktionen müssen Barroso und seinesgleichen eine gute, schmerzhafte Lektion erteilen, damit sie verstehen, dass ein kleiner Köter wie sie besser keinen Bären anbellt. Der EU müssen grundlegendste Manieren beigebracht werden, und das ist, da bin ich mir sicher, ein zentrales Element der russischen Sanktionspolitik.

Die nächsten entscheidenden Monate

In den nächsten Monaten wird sich also das alles entscheiden. Zuerst muss Novorossia unbedingt halten. Weder Donezk noch Lugansk darf fallen. Wenn das erreicht ist, dann beginnt die “Jahreszeit des Schmerzes” ernsthaft für Banderastan und die EU, und keiner von beiden kann sich leisten, was auf sie zukommt. Sobald dieser Prozess beginnt, kann sich Russland zurücklehnen und zuschauen, wie die Exkremente von Wiederkäuern den sprichwörtlichen Ventilator treffen, in Kiew und Brüssel. Dann werden wir sehen, woraus diese Europatrioten wirklich gemacht sind.

Aber zuerst, und vor allem, muss Novorossia sich halten.

Der Saker