Was, wenn es keinen Krieg gibt, oder: das zweite Referendum in Donezk

Rostislaw Ischtschenko

What if there won’t be any war, or the second referendum in Donetsk, übersetzt von Riema

Ein vernünftiger Politiker wird seinen Opponenten immer respektieren und wird annehmen, dass, sollte etwas für ihn selbst (den vernünftigen Politiker) offensichtlich sein, sein Gegner diese Möglichkeit in Betracht zieht, und wenn jenem (dem Gegner) diese Option nicht recht sein sollte, er nach einer alternativen, nicht-offensichtlichen Lösung suchen wird (falls er sie nicht schon gefunden hat). Die Amerikaner haben mehrere geopolitische Runden gegen Russland aus dem einfachen Grund verloren, dass sie glaubten, alle möglichen Optionen in Betracht gezogen zu haben und Moskau gezwungen haben, sich zwischen schlecht und sehr schlecht zu entscheiden, Putin es aber schaffte, einen dritten Weg zu finden, auf den Washington nicht vorbereitet war.

Die russische Führung, die sich der Tatsache bewusst ist, dass das Schicksal des Landes auf dem Spiel steht, neigt dazu, alle möglichen Entwicklungen in Betracht zu ziehen und besonnen zu handeln und auf jeden möglichen Zug des Gegners eine Antwort vorbereitet zu haben. Mehr noch, Moskau plant mehrere Spielzüge voraus und deshalb kommt Washington oft in Zugzwang und ist genötigt, auf eine gut vorbereitete Strategie seiner Gegner blind improvisiert zu antworten.

Einheimische Schwarzmaler erklären, ehrgeizig und überfordert, wie sie nun mal sind, ihren Kummer mit der Regierung sehr schlicht – ich verstehe nicht, was sie machen, das heißt, sie haben unrecht. Trotzdem, selbst Defätisten stellen manchmal berechtigte Fragen. Hier ist eine: “Angenommen, Moskau und Donezk glauben, sie hätten Kiew mit dem Minsker Abkommen in eine Falle gelockt und jetzt warten sie darauf, wann die Junta angreift, die sich damit in den Augen Europas diskreditiert und die Fähigkeit der USA untergräbt, die Unterstützung der EU für ihre Ukraine-Politik zu mobilisieren. Gleichwohl müssen Kiew und Washington dieses Szenario erwartet haben. Was passiert, wenn sie nicht angreifen, sondern in ihren Stellungen bleiben und weiterhin Städte im Donbass beschießen, so wie sie es seit fast einem Jahr tun?”

Die Schwarzmaler überzeugt das Argument nicht, dass weder Kiew noch Washington die Zeit und die Ressourcen haben (besonders angesichts der bevorstehenden neuen Welle der weltweiten systemischen Krise, die die alte Weltordnung auslöschen kann, zusammen mit dem geschwächten Hegemon), die Lage, die kein günstiges Ergebnis zeitigt, endlos zu verlängern. Der Standpunkt der Schwarzseher ist einleuchtend: empirisch kann dieses Modell nur überprüft werden, während sich die Situation entwickelt, während es keine Grenzen für die Entwicklung theoretisch konstruierter Modelle gibt. Abgesehen davon, dass eine Abweichung um ein Jahr in der Geschichte geradezu üblich ist (einige Ereignisse, wie der Putsch in der Ukraine, sollten eigentlich später stattfinden, während andere Ereignisse früher stattfinden sollten, es aber gar nicht taten).

Sollte Washington also beschließen, alles noch weiter in die Länge zu ziehen, und seinen Marschbefehl an Kiew widerruft, braucht es einen Alternativplan, der es Russland ermöglicht, das politische Spiel im Grabenkampf zu gewinnen.

Ich glaube, wir können die Hauptelemente dieses Plans erraten. Zumindest legt der Ablauf der Ereignisse in den letzten sechs Monaten nahe, dass es sich nicht um eine Reihe von Reaktionen handelt, sondern um eine geplante Strategie. Oder dass, selbst wenn die ersten Reaktionen durch die Lage erzwungen wurden, sich bis Ende des Sommers 2014 ein gewisses System herauskristallisierte. Auf die eine oder andere Weise sehen wir heute nicht mehr bloß Reaktionen der russischen Behörden auf Ereignisse, sondern vielmehr die Bildung von Mechanismen, um diese Ereignisse zu lenken.

Was meine ich damit?

Erstens wurden, als Ergebnis der ukrainischen Blockade des Donbass, die Wirtschaftsverbindungen der LNR/DNR wieder zurück auf Russland ausgerichtet (wenn auch technisch gesehen über Süd Ossetien).

Zweitens haben die Republiken infolge der ukrainischen Finanzblockade ein Multi-Währungssystem (Hryvnia/Rubel/US Dollar) eingeführt und so die Gebiete, die nicht von Kiew kontrolliert werden, in das Gebiet des Rubels gebracht, mit dem mehr als 80% aller Bargeldgeschäfte abgewickelt werden.

Drittens haben die Republiken aufgrund der Verwaltungsblockade der Ukraine versucht, ihre eigenen Personalausweise auszugeben. Da die LNR/DNR international nicht anerkannt sind, sind diese Ausweise selbst in Russland nicht gültig. Danach entstand der Plan, den Menschen im Donbass russische Pässe auszustellen.
Viertens haben die russischen Medien in den letzten Augusttagen damit begonnen, die Möglichkeit eines Referendums im Donbass zur Vereinigung mit Russland bereits im kommenden Herbst zu diskutieren.

Während die zwei ersten Punkte eine durch die Lage erzwungene Reaktion sein könnten, ist das Angebot russischer Pässe eine politische Entscheidung. Indem die Bewohner der LNR/DNR als russische Bürger anerkannt werden, übernehmen die Behörden eine ernstzunehmende Verantwortung. Russland hat die Pflicht, seine Bürger zu schützen, gleich, wo sie ihren Wohnsitz haben und gleich, wie und wann sie Bürger geworden sind, sei es durch Geburt vor 20 Jahren oder erst gestern, durch Aufgabe der ukrainischen Staatsbürgerschaft. Es ist klar, dass Millionen von Donbass Einwohnern nicht nach Russland gehen werden. Die Hälfte ist bereits weggezogen; damit dürfte die Grenze erreicht sein. Außerdem planen viele zurückzukehren und einige tun es bereits. Russland wird daher seine Bürger dort beschützen müssen, wo sie leben, in der LNR/DNR.

Da der russische Pass für die Meisten das einzige Papier sein dürfte, das es ihnen erlaubt, sich über die kleinen Gebiete, die von den Milizen des Donbass kontrolliert werden, hinauszubewegen, kann man leicht erraten, dass die Mehrheit der Bewohner des Donbass sich russische Pässe holen dürfte. Mehr noch, laut russischer Einwanderungsbehörde sind bereits mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine (hauptsächlich aus dem Donbass) nach Russland ausgewandert. Viele davon werden die Möglichkeit nutzen, im Donbass russische Pässe zu erhalten. Innerhalb kürzester Zeit könnte der Donbass mehr russische Staatsbürger haben als Abchasien, Südossetien oder Transnistrien. An diesem Punkt wird ein neues Problem auftauchen. Wenn das Kiewer Regime seine eigenen Bürger ermordet, dann mag das nicht gut sein, aber es bleibt ihre innere Angelegenheit (zumindest sehen die USA das so, anders als im Falle Libyens), aber wenn sie anfangen, russische Bürger zu ermorden, dann verlangt die Verfassung, dass die russischen Behörden sie schützen. Es gibt einen riesigen Unterschied zwischen gutem Willen und dem Gesetz.

Zuletzt der wichtigste Aspekt. Noch ehe russische Pässe en mass genehmigt werden, lassen LNR/DNR die Information durchsickern, (woher sonst könnten die Medien diese Geschichte haben?) dass sie gleich nach den Wahlen im Oktober (z.B. im November-Dezember diesen Jahres) ein Referendum bezüglich der Vereinigung von LNR/DNR mit Russland planen.

Was ist daran so wichtig? Die Informationen über diese Pläne tauchten auf und wurden verbreitet, ehe diese Pläne umgesetzt wurden. Folglich wollte der Kreml, dass “unsere Freunde und Partner“ davon erführen und dies in ihren Plänen berücksichtigten. Im Grunde wird ihnen gesagt:”Wenn ihr bis Ende September nicht angreift, dann geben wir den Menschen russische Pässe, dann halten wir ein Referendum ab, bei dem russische Bürger für einen Beitritt zu Russland stimmen werden. Dann werden wir in einer ganz anderen politischen Lage mit euch reden.”

Wichtig, Kiew wie auch Washington wissen, dass die Pässe ausgestellt werden und ein Referendum abgehalten wird. Dann wird Russland, wie auch in Abchasien und der Krim,sich auf das Vorbild des Kosovo und den Willen des Volkes berufen. Und niemand wäre in der Lage, einen Schuss abzufeuern, weil sie auf ein Gebiet schießen müssten, das eine Nuklearmacht zu dem ihren erklärte. Und auf deren Bürger. Und das wird ernste Folgen haben. Einige mögen sagen, die USA und die Ukraine seien bereit, den Donbass aufzugeben und wären sogar glücklich darüber. In Wirklichkeit ist das nicht so. Die USA brauchen Krieg und nicht Frieden, aber nur einen Krieg, in dem Russland der Aggressor ist. Deshalb würden die USA es Kiew nicht erlauben den Donbass durch friedliche Verhandlungen abzutreten, sondern würden versuchen, Kiew dazu zu bringen, Russland zu provozieren.

Trotzdem, nehmen wir mal an, dass jene recht behalten, die an die Möglichkeit glauben, dass die Ukraine den Donbass aufgibt.

Nun – sie wird nicht in der Lage sein, ihn aufzugeben.
Erstens wird das Referendum für Russland nicht bindend sein. Moskau kann “nachdenken’ so lange wie es will, das Referendum nutzen, um seine Verhandlungsposition zu stärken, das offizielle Mantra von der territorialen Integrität der Ukraine wiederholen, aber darauf hinweisen, dass sich die Lage seit März 2014 gewaltig zu Ungunsten Kiews geändert hat, so dass die Forderungen an Kiew größer wurden (tatsächlich konnte Kiew schon zuvor seinen Verpflichtungen nicht nachkommen).

Zweitens, die Behörden der LNR/DNR haben die Grenzen ihres Herrschaftsgebiets nicht bestimmt. In einigen Fällen wurde von den gesamten Bezirken Donezk und Lugansk gesprochen.Gleichzeitig gibt es im Donbass immer noch das “Parlament von Noworossija” und die Führer der LNR/DNR sprechen manchmal von der Befreiung von ganz Noworossija als Endziel. Was ist Noworossija? Die meisten sprechen dabei von den acht Bezirken der Süd- und Ost-Ukraine (Odessa, Nikolajew, Kherson, Saporoschje, Dnjepropetrowsk, Kharkow, Donezk und Lugansk). Einige zählen den Bezirk Kirowgrad dazu. Einige bezeichnen die Bezirke Kharkow und Sumi als Sloboschantschina und betrachten den Donbass als separate Region. Das Fazit ist, die Grenzen von Noworossija sind ungenau und können nach Belieben erweitert oder verkleinert werden.

Drittens, Sachartschenko hat mehrmals versprochen, dass die Freiheitskämpfer bis Kiew und Lwow vordringen würden. Das ist im Übrigen ein vernünftiges Versprechen, da der Krieg nicht beendet werden kann, bis die Faschisten in ihrer Heimat besiegt sind.

Somit ist ungeklärt, wie weit die Befugnisse der Regierungen der LNR/DNR und des „Parlaments von Noworossija“ reichen, und sie können sowohl „bestimmte Teile der Bezirke Lugansk und Donezk“, wie Kiew das formuliert, als auch die ganze Ukraine umfassen. Die Macht der Beteiligten am Bürgerkrieg wird, schlicht gesagt, durch die Fähigkeiten ihrer Armeen bestimmt.

Kiew könnte folglich außerstande sein, die jetzige Frontlinien zur Grenze zu erklären. Die Anerkennung der Unabhängigkeit des Donbass durch Kiew eröffnet die Aussicht auf eine Vereinigung des Donbass mit Russland. Dadurch erhält der eineinhalb Jahren dauernde Kampf eine Bedeutung. In der Folge könnte der Widerstand  gegen die Junta in Kharkow, Odessa und anderen Städten Neurusslands stärker werden. Kiew wird nicht in der Lage sein, eine neue Armee aufzustellen und gegen diese Regionen vorzugehen. Mögliche Truppen werden sich daran erinnern, dass sie eineinhalb Jahre gegen LNR/DNR gekämpft haben und dass Kiew dann einen Friedensvertrag zu schlechteren Bedingungen unterzeichnet hat, als im März 2014 angeboten wurden, als der Donbass lediglich eine Föderalisierung der Ukraine anstrebte.
Also kann Kiew den Donbass nicht freiwillig aufgeben, ohne sein eigenes Überleben zu gefährden.

Alles in allem zeigt Moskau Washington, dass es zu einer neuen Eskalation im Donbass bereit ist und dass es beabsichtigt, Kiew etwas Furchtbares anzutun (die Drohungen waren derart deutlich, dass Merkel und Hollande alarmiert waren und Poroschenko nach Berlin beorderten, um ihn zu überzeugen, dieses Risiko nicht einzugehen). Russland zeigt auch, dass es selbst in der Lage “kein Krieg, kein Frieden” bereit ist, Kiew zum Frieden mit Konzessionen zu zwingen, deren ganzes Ausmaß noch unklar ist.
Nun muss sich Washington zwischen zwei Übeln entscheiden. Es kann auf Risiko setzen und trotz des Grollens seiner europäischen Verbündeten, das außer Kontrolle geraten kann, eine Aggression Kiews in Donbass auslösen, die Minsk beerdigen und die EU in ihrem Dialog mit Moskau der Argumente berauben würde. Es kann auch sitzen und abwarten, während Moskau unter dem Deckmantel des Minsker Abkommens ohne Hast, mit sichtlichem Vergnügen und nach dem Zeitplan, der ihm gelegen kommt, die Ukraine verdaut (angefangen mit Donbass, aber damit nicht genug). Währenddessen müsste Washington solange für die Kosten eines völlig nutzlosen Regimes in Kiew aufkommen, bis Moskau bereit ist, ihm ein Ende zu setzen.

Schon die Information über den Wunsch der LNR/DNR, ein Referendum über die Vereinigung mit Russland abzuhalten, erweitert auf jeden Fall den politischen und diplomatischen Bewegungsspielraum Russlands. Sollte das Referendum stattfinden, würden die russischen Positionen in der Ukrainekrise unangreifbar. Zusammengefasst legen die jetzt erfolgten und geplanten Maßnahmen im Donbass nahe, dass der Donbass, verspätet und mit größeren Verlusten, der Krim folgen wird, was wiederum für andere vorübergehend ukrainische Regionen die Bedingungen schafft, dem Beispiel in Bälde zu folgen. Da dieses Szenario jedoch für Russland zu gut wäre und ihm gewährte, die Ukraine auf jede ihm genehme Art aufzuteilen und zu formen, glaube ich, dass die USA auf Krieg setzen. Dies würde den USA unter Anderem erlauben, eine aktivere Position einzunehmen und zu versuchen, Russland das Heft des Handelns aus der Hand zu nehmen. Es ist noch nicht klar, ob die USA gerade im Donbass einen Krieg beginnen werden. Washington kann sich für eine dritte Option entscheiden und auf dem vom Kiewer Regime kontrollierten Gebiet einen allumfassenden Krieg auslösen.

Natürlich wird diese Option zum Untergang der Junta, zur Zersplitterung der Ukraine und zu einer Annäherung zwischen Russland und der EU führen, um das gemeinsame Problem zu lösen, die ukrainischen Nazis zu befrieden. Es würde Washington allerdings ermöglichen, in der Ukraine gebundene Ressourcen freizusetzen und anderswo einzusetzen. Und Washington würde sichergehen, dass die Moskauer und zum Teil die Brüsseler Ressourcen gebunden wären, um für den Wiederaufbau der ukrainischen Wirtschaft zu zahlen, die Kontrolle des Gebiets und die Versuche, eine Art von Konsens zwischen der EU und Russland zu erreichen, was das Schicksal der Überreste der Ukraine angeht.