Donezk: Hölle aus geschmolzenem Blei

Dies ist eine Reportage aus Donezk, geschrieben von einem Frewilligen der Milz. Sie erschien vor etwas über einer Woche unter dem Titel Донецк: Ад расплавленного свинца auf voicesevas.ru. Es ist, bei allem beschriebenen Schrecken, ein wunderbarer Text, weshalb man ihn auch in Deutschland lesen können sollte.
Wenn man ihn mit dem vergleicht, was in den vergangenen Monaten zum Thema in Deutschland geschrieben wurde, ist der Unterschied mehr als deutlich. In diesen Texten hat man das Gefühl, die Menschen darin dienten nur als Staffage, um die propagandistisch gewünschten Aussagen zu liefern. Dabei gab es auch hier einmal eine Tradition großer Reportagen. Sie begann mit Egon Erwin Kisch. Aber der war Kommunist. Kein Trommler für imperialistische Kriegspläne, niemand, dem der Dünkel der besseren Stände aus den Knopflöchern trieft (ein abschreckendes Beispiel dafür hat Katrin Eigendorf hier  geliefert). Seine humanistische Haltung wurde dem Berufsstand im letzten Vierteljahrhundert erfolgreich ausgegauckt.
Diese Reportage lässt einen nicht nur fühlen, was Donezk und seinen Bewohnern täglich angetan wird. Sie zeigt auch, was hier verlorengegangen ist. An Menschlichkeit, an Ehrlichkeit, an Standpunkt. Vielen Dank dafür an den Mann mit dem Rufzeichen “Shakespeare” in Donezk.

Willkommen, Kollegen. Ich setzte den Zyklus der “Memoiren eines internationalen Terroristen” mit einer Geschichte über eine weitere Stadt des heldenhaften russischen Donbass fort. Über die Stadt, in der ich mich gerade befinde. Über die Stadt, in deren Garnison ich jetzt diene. Über die Stadt, in die ich mich bereits diesen Winter von ganzem Herzen verliebt habe, als sie sich als erste im Südosten erhob, um die bösen Geister der tobenden Ukrainisierung zu bekämpfen. Was geschieht dort? Wie ist die Wirklichkeit in der belagerten Stadt? Ich werde Euch von einem Tag in der Hauptstadt des russischen Frühlings erzählen. Es ist nur ein Tag. Aber für die Stadt und ihre Bewohner gibt es sieben solcher Tage in der Woche. Und vermutlich 365 pro Jahr. Hier ist meine Geschichte.

Donezk

Ein sonniger Morgen. Der Himmel klar, keine Wolken. Dennoch hat der Herbst die Stadt eingenommen: In Donezk ist es deutlich kälter geworden. Die halbe Baracke hustet. Die große Packung “Tera-Flu”, die der Kommandeur gekauft und für alle hingestellt hatte, war nach nur drei Tagen leer, nur noch der Boden zu sehen. Dennoch sind alle gesund. Niemand gibt zu, krank zu sein. Und alle nehmen “Tera-Flu”. Und jeder gibt vor, nichts davon zu bemerken. Ich trinke mit. Und auch ich bemerke nichts.
Grelle Sonne und kalter Steppenwind – das sind die Zeichen dieser Zeit. Die Leute tragen dunkle Sonnenbrillen und wickeln sich in warme Kleidung. Eine Kombination, die den glamourösen Modepäpsten von Moskau bis Kiew wild erscheinen mag, die aber für die aus dem Süden völlig natürlich ist. Sie ist praktisch. So hält man es auch in meiner Geburtsstadt Rostow. Diese Städte sind einander alle sehr ähnlich, in ihrem Anblick wie in ihrer Mentalität. Drei oder vier Stunden mit dem Auto – das ist keine Entfernung. Und der kulturelle Graben, der den Ausbruch dieses Krieges verursacht hat, liegt nicht hier. Der ist weit im Westen.
Montag Morgen. Die Leute sind mental noch nicht ganz aus dem Wochenende zurück. Das ist hier heilig. Es gibt nicht einmal größere Kämpfe am Wochenende. Das gilt für beide Seiten gleichermaßen. Das Wochenende ist vorüber, aber alle sind noch entspannt. Aus Gewohnheit. Besonders, weil der erste Tag der Woche ruhig anfing. Am Morgen gab es keinen Beschuss der Stadt. Am Morgen…
Es geschah um 12:15 Uhr Ortszeit. Wir saßen in der erst jüngst eingerichteten Kantine der Kaserne bei einem späten Frühstück. Das war erst der zweite Tag, nachdem wir die Verpflegung der Einheit “Warjag” geregelt hatten und die Zubereitung zog sich hin. Das Geplauder in den Baracken – ein ganz besonderes kulturelles Phänomen, in dem die Erwägungen aus der Welt der Philosophie aufs engste mit der ziemlich krachledernen Soldatenfolklore verwoben werden. So ein Gespräch wurde geführt, als alles passierte. Worüber wir geredet haben? Ich weiß es nicht mehr. Es spielt auch keine Rolle.
Ein Donnern. Laut, scharf, kurz. Die Fenster wurden aufgerissen, gequält ächzten die Scharniere. Die Türen flogen auf, schlugen gegen die Wände. Geschirr, Bücher, Bürokram – alles, was fallen konnte, flog von den Regalen. Die Tassen auf dem Tisch sprangen fast einen Zentimeter hoch, kamen mit einem Klappern wieder auf, Spritzer heißen Tees spritzten auf die Tischdecke. Wir erstarrten, stierten einander an. Meine Ohren klingelten. In den Augen jedes einzelnen dieselbe Frage: Kommt noch mehr? Eine Frage, die schnell der Erkenntnis wich, nein, es kommt nicht. Denn es war sie. Und sie kommt immer in glanzvoller Einsamkeit.
Sie… “Totschka-U”.
So sind wir uns persönlich begegnet.
Eine ballistische Rakete, entwickelt, um ein befestigtes Schlachtfeld zu zerstören. Die Schöpfer dieses Wunders des sowjetischen militärisch-industriellen Komplexes konnten sich nicht einmal vorstellen, dass dieser fliegende Alptraum gegen Millionenstädte eingesetzt werden könnte. So wurde es nie gebraucht. Bis jetzt.
Und sie hat unseren Bereich getroffen. Unsere Stadt. Unser Leben. Das spürt man schlagartig und durchdringend.
Im Treppenhaus steht Lena, die Bürokraft unserer Einheit. Bleich. Mit zitternden Händen. Tränen in den Augen. Sie versucht, Mutter und Schwester zu erreichen. Ich biete ihr eine Zigarette an. Sie lehnt ab. Versucht es nochmal. Kein Netz. Es ist einfach verschwunden. Nein, die Sendestation ist intakt. Es ist nur das Netz zusammengebrochen. Aus einem einfachen Grund: In der ganzen Millionenstadt versuchen alle gleichzeitig, ihre Familien, die, an denen ihr Herz hängt, zu erreichen. Alle vom selben Gefühl beseelt: der Mischung aus Zorn und Furcht. Nicht der Furcht eines Feiglings. Das ist die Furcht von jemandem, dessen geliebte Menschen alle dort sind, wo der Tod vom Himmel gefallen ist. Er hat keine Angst um die eigene Haut. Er hat Angst um sie. Und mit der Furcht ballt er seine Fäuste in grenzenlosem, unvorstellbarem Zorn.
Unmöglich, zu beschreiben, wenn die ganze Stadt die Fäuste ballt. Wenn die ganze Stadt einen Kloß im Hals hat aus Leid und Hass. Davon knistert die Luft. Eine schwarze Wolke, die am Himmel hängt und Blitze schleudert. Der Gott der Zerstörung und Auslöschung, Fleisch geworden. Ein Element brodelnder Finsternis.
Hinter dem Fenster wächst das Donnern. Die Stadt wird aus allen Rohren getroffen: “Grad”, Mörser, Haubitzen. Das Handynetz geht endlich wieder. Wir finden heraus, wo der Einschlag ungefähr war.
Ich wende mich an den Kommandeur der Einheit. Bitte ihn, mir ein Auto mit einem Fahrer von hier zu geben. Ich möchte Bilder davon machen, was in der Stadt geschieht. Die Leute müssen das wissen. Jeder sollte wissen, was hier jetzt geschieht. Warjag schaut mich fragend an:
“Ist dir klar, dass es Oktjabrski ist?”
“Ja”
Ich weiß schon, was das bedeutet. Der Donezker Stadtbezirk Oktjabrski. Flughafen… Das sagt alles. Totes Gebiet, bewohnt von Geistern. Die meistgequälte Region der Stadt, wo man leicht in einen feindlichen Spähtrupp laufen oder unter Feuer jeglicher Stärke geraten kann. Dort herrscht niemand, nicht Novorossija, nicht Bandera. Denn es ist eine andere Welt. Eine Welt der Schatten.
Warjag bestellt jemanden per Handy. Eine Minute später betritt ein gedrungener Mann den Raum, der wie ein Arbeiter oder Automechaniker aussieht. Nur in Uniform. So sind hier die meisten. Leute, die zum ersten Mal in ihrem Leben Waffen tragen. Und die trotzdem die Berufsarmee der Strafbataillone zurückgeschlagen haben. Sein Frontname ist “Subr”. Wir reichen uns die Hände.
Die Straßen der Stadt sind leer. Die Stadt ist ausgestorben. Ihre Bürger wissen schon alles. Man muss ihnen nicht mehr zeigen, was bei Beschuss zu tun ist. Die wenigen Fußgänger bewegen sich schnell und zielgerichtet. Keine Autos. Kein Stau. Wir brauchen 20 Minuten bis zu den äußeren Checkpoints. Sie sind in einem Wohngebiet. Und wurden heute schon getroffen. Die Häuser ringsum sind durch Raketensalven zerschlagen. In denen, die noch ganz sind, sind keine Bewohner, sie sind verlassen.

Die Bewohner wussten ganz genau, dass sie sterben, wenn sie bleiben.
Subr hält das Auto an und redet kurz mit der Bürgerwehr. Stellt mich als Korrespondenten vor. Ich bin es schon gewohnt, scharf hinzuzufügen:
“Ich bin kein Korrespondent. Ich bin ein Kämpfer der Einheit “Warjag”, der zusätzliche Aufgaben hat”.
Die Jungs verstehen. Der Einschlagsort der “Totschka-U” ist irgendwo hinter den Abraumbergen. An einer der Kurven der gewundenen Straße dieses Bergarbeiter-Viertels. Wo genau, weiß niemand. In der Stadt herrscht Durcheinander, und die Bürgerwehr hat weit dringendere Aufgaben als den Einschlagsort des fliegenden Todes zu untersuchen.
“Shakespeare”
Subr schaut nachdenklich nach vorn.
“Da kann etwas geflogen kommen. Hält dich das nicht ab?”
“Nein”
Es ist mir wirklich egal. Ein seltsames Gefühl. Ich zögere, dann frage ich:
“Und dich?”
Subr schüttelt den Kopf. Wir fahren. Subr lenkt stumm. Dieser Mann ist nicht zu erschrecken. Nicht mehr zu erschrecken, er kommt aus dem Ort Kommunar. Der, wo sich das Bataillon “Ajdar” hervorgetan hat. Wo die Ermittler der DNR jetzt die Massengräber gefolterter Zivilisten freilegen. Liegt dort jemand aus seiner Familie? Solche Fragen stellt man hier nicht.
Und da ist sie wieder. Die Grenze zwischen Leben und Tod. Ich bin ihre Gegenwart bereits gewohnt. Hier ist sie unglaublich nah. Ich habe sie in Spartak überquert. Aber ich wusste nicht, dass es sie auch hier in Donezk gibt. Die Welt ändert sich erneut. Scharf. Der Übergang wird wie durch einen Grenzpfahl durch ein Schild markiert, mit der Flagge der DNR und der Losung “Wohlstand. Demokratie. Gleichheit”.

Dahinter verstummt die Welt. Vögel verschwinden. Schatten werden dunkler und schärfer. Sogar die Blätter an den Bäumen wirken wie von einem grauen Staub überzogen. Hinter den Fenstern geschieht nichts. Weder Schüsse noch Explosionen. Nur die klingende Stille. Und Tod, der in die Luft gegossen ist. Hier ist sein Gebiet.

Was ich durch die Fensterscheiben sehe, ähnelt Tschernobyl. Oder der “Zone” aus dem Film “Stalker”. Genauso leer, düster und tödlich. Leere Bushaltestellen. Leere Verkaufsstände. Leere Häuser. Viele nicht einmal beschädigt. Aber niemand ist dort.

Subr deutet auf eine unauffällige Abzweigung nach rechts. Das ist die Straße zum Donezker Flughafen. Nach etwa 500 Metern beginnt die Zone, die die Ukies direkt unter Feuer nehmen. Die Sorglosigkeit dieses Ortes ist erschütternd. Still. Ruhig. Bewegungslos. Nur einen halben Kilometer vom Inferno. „Hölle aus geschmolzenem Blei.“ Bei den Buddhisten gibt es sie. Scheint, die Buddhisten haben recht – es gibt sie tatsächlich. Aber sie ist nicht irgendwo hinter dem Horizont der Wirklichkeit. Sie ist hier.

Oktjabrski sieht aus wie Spartak. Nur viel schrecklicher. Spartak besteht aus Einfamilienhäusern. Oktjabrski – eine vollwertige Trabantenstadt, bebaut mit fünfstöckigen Standardbauten aus Chrustschows Zeit. Sie erinnert mich an den Westdistrikt meiner Heimat Rostow am Don. Das ist das Gebiet, in dem ich geboren bin. Sie ähneln einander wie Zwillinge… Von denen einer tot ist.

Alles ist gleich. Nur die Fassaden sind von Schrapnellen durchsiebt. Nur die Asphaltstraßen sind durch Minenkrater verstümmelt. Nur die Fensterrahmen sind durch Druckwellen herausgerissen. Und Passanten sind selten. Wie Geister. Vielleicht auch nicht nur “wie”…

Und dazu abgebrannte Schulen und Kindergärten. Sie werden zuerst anvisiert. Das ist ihre Visitenkarte. Ihr Hauptziel – russische Kinder. Die nächste Generation vernichten – das erste Ziel in jedem Genozid.

Wir verlassen das Auto. Sehen uns um. Wir müssen hinter den hohen Abraumhügel gelangen, hinter einem weiten Feld. An dessen Rändern ehemalige Häuser stehen.

“Bleib auf der Straße. Hier kann es Sprengfallen mit Stolperdraht geben”
Ich bleibe. Ich kenne das schon.
Vor uns ein Hindernis: Quer über der Straße liegt ein Betonpfosten, von einem direkten Treffer gefällt. Wir müssen wenden…
Bumm… Unerwartet schlägt eine Granate ein, ziemlich nah.
Bumm… Wieder. Näher.
Bumm… Und noch näher.

Sie schießen nicht einfach so. Sie schießen auf uns.
Wir wurden bemerkt. Oder vielleicht hat irgendein örtlicher Judas den Schützen unseren Standort verraten. Was am wahrscheinlichsten ist. Sie sind wirklich Anwohner von hier. Anwohner, die ihre Nachbarn und Bekannten umgebracht haben. Ich kann mir nicht vorstellen, was mit der menschlichen Seele geschehen sein muss, dass sie dazu fähig ist. Obwohl jeder hier die Antwort kennt: Dafür muss man ein „Ukrainer“ sein.

Die “Ukrainer“… Sie wissen nicht, warum ich hier bin. Aber für sie bin ich der Todfeind. Wie jeder, der eine Kamera oder einen Camcorder benutzt. Am meisten fürchten sie jene, die ihre Verbrechen aufzeichnen, sie ans Licht bringen. Sie wissen nicht, warum ich hier bin… Aber offensichtlich können sie es riechen, mit animalischem Instinkt.
Subr schaut mich fragend an. Ich nicke kurz. Wir fahren ab. Gott sei mit ihr, der „Totschka-U“. Ich weiß, ich kann hier auch unter Feuer bleiben. Ich fürchte mich nicht. Gar nicht. Dieser Teil von mir ist tot. Subr ebenfalls. Er ist ein sehr mutiger Mann. Aber ich weiß, dass er Familie hat. Wer bin ich, eine solche Entscheidung zu treffen?

Wir verlassen die Gegend schnell.

“Wenn wir über Ukies stolpern, weiß ich eigentlich, was zu tun ist”, Subr dreht übermütig am Lenker und sieht sich aufmerksam um. “Es macht keinen Sinn, in unsere Richtung davonzulaufen. Dann eröffnen sie das Feuer aus allem, was sie haben, und wir sind geriebener Meerrettich. Wir müssten in ihren Rücken kommen und von dort auf die sichere Straße wenden. Nur dass das jetzt nicht funktionieren wird. Wir sind beide in Uniform, und du redest außerdem nicht wie einer von hier”
“Aber wenn wir sowieso enttarnt sind, wieso haben wir dann nicht zu den Waffen gegriffen?”
Subr denkt eine Sekunde lang nach und zischt einen mehrstöckigen Fluch durch die Zähne. Wir fahren noch schneller. Einige Minuten später ist die Welt hinter dem Fenster eine andere. Wir sind zurück im Reich der Lebenden.
Der Beschuss von Donezk hat etwas nachgelassen. Nicht für lange, wie sich später herausstellt. Aber vor uns lagen einige relativ ruhige Stunden. Zu uns ins Auto hat sich ein weiterer Kämpfer gesetzt. Sphinx. Ein fünfzigjähriger Soldat, der mir beigebracht hat, wie man mit Waffen umgeht. Warjag hat ihm eine Erledigung in der Stadt aufgetragen, solange nicht geschossen wird.

“Shakespeare, hast du Lust, eine Runde durch Donezk zu drehen? Anschauen, was sie (was er jetzt ausstößt, ist die schlimmste Beleidigung in der russischen Sprache, dessen nicht literarischer Teil passive Homosexuelle bezeichnet) mit dieser Stadt gemacht haben?”

Natürlich will ich das sehen. Besonders, weil ich dazu bisher wenig Gelegenheit hatte. Donezk ist im Moment nicht der beste Ort für nachdenkliche und gemütliche Spaziergänge.
“Passe ich denn in deine Route?”
Sphinx lächelt schief.
“Hier ist es gleich, welche Strecke wir nehmen, Pascha”
Wir fahren in die Stadtmitte. Heute wurde die „Donbass-Arena“ mit “Grad” beschossen – eines der größten Fußballstadien Europas. Ein Koloss aus Stahl und kugelsicherem Glas, der einem ernsten Erdbeben standhalten kann. Eine Rakete hat ein Stück von der Größe eines Hauses aus seiner Wand gerissen.


Sphinx ist von hier. Er ist geborener Donezker. Er kennt hier jedes Haus. Und er weiß alles, was in jedem Haus passiert ist. Vorbeifliegende Bilder kommentiert er nüchtern wie ein Fußballkommentator. Hier hat eine Granate ein Auto getroffen. Eine Familie ist darin verbrannt. Hier traf eine Rakete ein fünfstöckiges Haus und verbrannte alles darin. Das Haus steht wie eine Eins, aber drinnen herrscht Leere. Und hier sind zum ersten Mal Bomben auf die Stadt gefallen.

Sphinx ist ruhig. Er war Berufsoffizier der sowjetischen Armee. Ein Major, der seinerzeit auch im Auslandseinsatz war. In seinem Leben vor der Volkswehr hatte er alles, wovon viele nur träumen können: Mercedes Geländewagen, BMW Cabrio (womit er sogar einmal in die Kaserne kam), ein nettes Heim, Familie, sozialen Status. Es wird gemunkelt, Rinat Achmetow hätte ihn mit Handschlag begrüßt. Sphinx kam zur Gruppe „Warjag“ als einfacher Soldat. Warum? Darum.

“Verstehst du, Shakespeare”, sagt er zu mir, “was sie da an Gerät zur Stadt ranschaffen, das ist im Großen und Ganzen Müll. Um Donezk zu stürmen, müssten ihre Truppen zwanzigfach überlegen sein. Eben die Truppen. Weil das Gerät ohne Deckung herrlich brennt, wie ein Weihnachtsbaum. Bei denen ist aber nur ein jämmerlicher Haufen übrig. Kein Kampfgeist. Die, die welchen hatten, haben wir noch vor dem Waffenstillstand erwischt. Vielleicht versuchen sie ja durchzukommen, aber es wird dabei nur ein feuchter Dreck rauskommen. Aber wie viele Zivilisten sie dabei töten – das ist die Frage”

Der Anblick hinter dem Fenster wechselt ständig.
Das Haus der Kultur. Darin waren Menschen.

Der Palast der Jugend. Darin waren Menschen.

Das Landeskundemuseum. Darin waren Menschen.

Ruinen. Asche.
Und die Anwohner. Die daran nicht zerbrochen sind. Und die niemals gebrochen werden.

Ich erinnerte mich an eine alte Frau vom sozialen Dienst, mit der wir ins Plaudern gekommen sind, während wir die Ausgabe der Unterstützung für Rentner und Behinderte in einer Gegend der Stadt überwachten, die von der Einheit “Warjag” beaufsichtigt wurde. Sie sagte, wenn die Bastarde nach Donezk kommen, öffnet sie das Gas und jagt sie mitsamt ihrem Haus in die Luft. Sagte es ruhig. Fast ohne Gefühl. Hier sind alle ruhig. Nur der Blick verrät es. Alle haben ihn hier. Ich bin keine Ausnahme.

Der Beschuss war deutlich stärker geworden. Es krachte um uns herum.
“Die Ukies sind fertig mit ihrem Mittagessen”, lachte Subr missmutig.
Wir waren auf dem Rückweg in die Kaserne.
Die Stadt wurde 18 Stunden hintereinander beschossen. Ununterbrochen. Mehrere Artilleriedepots wurden auf sie abgefeuert. Wir kennen die Zahl der Opfer immer noch nicht. Aber die Stadt wirkt, als hätte sie nichts bemerkt. Bereits am nächsten Morgen fuhren wieder Autos auf den Straßen. Auf dem Bürgersteig gab es wieder Fußgänger. Donezk hat nicht vor zu sterben. Gleich, wie wütend man es vernichten will.

Am nächsten Tag warten wir auf die Offensive. Aber sie wagen es nicht. Um nach einem solchen Artilleriebeschuss nicht anzugreifen, muss man schon „Ukrainer“ sein. Obwohl, auch sie haben ihre eigene Logik. Eine hässliche, pervertierte Bastardlogik, aber es gibt sie. Zuerst, das Prinzip des „was ich nicht bekomme, soll kein anderer haben“ wurde nicht widerrufen. Sie verstehen, dass sie die Stadt nicht brechen können. Sie wissen, dass wir sie früher oder später weit von hier forttreiben werden. Deswegen sind sie bösartig. Als Abschiedsgeschenk. Zerstören alles, das zerstört werden kann. Und tötet jeden, den sie töten können. Und zweitens, die ukrainischen Diebe mit den Schulterstücken können so die Munition abschreiben. Es ist so gut wie unmöglich, zu überprüfen, wie viele Runden sie geschossen haben, 10 oder 15. Wohin sie sie dann verkaufen? Oh, das ist ein schreckliches Geheimnis, das im Dunklen liegt. Und doch hätte es einen gewissen Charme, wenn nicht Menschen dafür sterben würden.
Obwohl, für sie sind wir ja keine Menschen.
PS: Als diese Sätze geschrieben wurden, erhielten wir die Nachricht, die Bandera-Armee hätte Stellung bezogen. Nun… Das haben sie schon einige Male gemacht. Und haben sich jedes Mal entweder nicht getraut oder wollten uns nur einschüchtern. Diesmal könnten sie sich trauen. Wenn das so ist, willkommen, Schweinehunde. Wir warten auf euch. Und ich warte auf euch. Diesmal habe ich Waffen.