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Meinung

Modina aus Afghanistan Integration eines Flüchtlingskindes als Pfingstwunder

Von Eva Quistorp | Stand: 15.05.2016 | Lesedauer: 9 Minuten
Seit dem vergangenen Oktober kümmert sich Eva Quistorp um das afghanische Flüchtlingskind Modina Seit dem vergangenen Oktober kümmert sich Eva Quistorp um das afghanische Flüchtlingskind Modina

Seit dem vergangenen Oktober kümmert sich Eva Quistorp um das afghanische Flüchtlingskind Modina

Seit dem vergangenen Oktober kümmert sich Eva Quistorp um das afghanische Flüchtlingskind Modina

Quelle: Amin Akhtar

Seit Oktober 2015 kümmere ich mich ehrenamtlich um die kleine Modina aus Afghanistan. Ich bringe ihr Deutsch bei und damit auch unsere Kultur und Gepflogenheiten. Ein Glück ist das für uns beide.
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Pfingsten war in meiner Kindheit immer eines meiner Lieblingsfeste – außer natürlich dem Geburtstag und Weihnachten – und eng verbunden mit dem Erntedankfest. Alle Feste waren ein Ausdruck von Fülle des Lebens, von Sehnsucht nach Erfüllung und Verbundensein mit Familie und Nachbarschaft, Schule, Freunden, Kirche.

Die Geschichte von Pfingsten scheint ja vielen, die an den zwei Festtagen mit dem Auto verreisen oder mit dem Zug ins Grüne fahren oder ihre Wochenendhäuser und Kleingärten pflegen, kaum mehr bekannt oder innerlich vertraut zu sein.

Neulich fragte mich ein Fernsehteam aus Berlin vor dem Berliner Dom, ob ich wüsste, was Pfingsten sei: Ja, das Fest des Heiligen Geistes, der Geburtstag der Kirche, antwortete ich. Die Journalisten waren erstaunt, keiner vorher hatte die Frage beantworten können. Eine seelische Verbundenheit mit dem Fest scheint es für die wenigsten zu geben.

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Quelle: Die Welt

So bin ich etwas allein und manchmal einsam in Berlin mit meiner Faszination über das Wirken des Heiligen Geistes und der Pfingstgeschichte, die an die Geschichte vom Turmbau zu Babel erinnert im Alten Testament, wo sich wegen des Größenwahns eines großtechnologischen Zukunftsprojektes alle nicht mehr verständigen können und doch plötzlich alle in verschiedenen Sprachen verstehen und mit Herz und Sinnen ergriffen sind, nachdem Karfreitag mit dem grauenvollen Sterben Jesu am Kreuz und dem Ostern der Auferstehung, das auch Zweifel hinterließ, nun ein Neubeginn von Gemeinde, von hoffnungsvollem friedlichem, begeistertem Zusammenleben, sich Verstehen möglich scheint. Ein großes Wunder.

Ein Wunder, mit welchen Worten und Gesten wir uns verständigen

Als ich vor einigen Tagen auf meine Abenteuer, Anstrengungen, Enttäuschungen und Überraschungen in meiner Beziehung zu Modina, dem afghanischen Flüchtlingsmädchen, das ich seit letzten Oktober betreue, weil seine Mutter im Iran umgekommen ist, zurückblickte, musste ich doch unwillkürlich an Pfingsten denken. Denn es ist ein Wunder, mit welchen Worten, mit welchen Gesten wir beide, zwei weibliche Wesen so verschiedener Herkunft und Leben, uns verständigen können.

„Irgendwann sagte sie zu mir: ,Guck mal, Eva!’ Genau in meiner Tonlage. Ich war entzückt!“

„Irgendwann sagte sie zu mir: ,Guck mal, Eva!’ Genau in meiner Tonlage. Ich war entzückt!“

„Irgendwann sagte sie zu mir: ,Guck mal, Eva!’ Genau in meiner Tonlage. Ich war entzückt!“

Quelle: Amin Akhtar

Mal wie zwei Freundinnen, mal wie Lehrerin und Schülerin, mal wie zwei Cousinen, mal wie Mutter und Tochter, mal wie eine Deutsche und eine Afghanin, mal wie eine ältere Frau und ein kleines Mädchen, mal wie eine Europäerin mit einer Fremden, mal wie zwei Menschen, die sich über viele Gräben und Unkenntnisse hinweg, über Sprachlosigkeit und Angst und Trotz und Ungeduld hinaus angenähert haben. Die gemeinsame Worte und Gesten gefunden haben, die sich zuzwinkern können, verschmitzt und vor Freude lachen, aber auch gemeinsam trauern können.

Am Anfang sagte ich zu Modina, wenn ich mit ihr in den Park und auf den Spielplatz ging, immer nur „Guck mal“, zeigte auf Bäume, auf den Sand, auf eine Wandmalerei, auf einen Hund, auf einen Käfer, auf den Himmel, auf eine Pfütze und wie wir uns darin spiegelten. Es war wie eine Litanei, aber auch wie eine Zauberformel: „Wir gehen in den Park“, „Es ist grün“ – „Es ist rot“ an der Ampel, wochenlang dieses „Guck mal“. Irgendwann kam dann plötzlich: „Guck mal, Eva“, genau in meiner Tonlage.

Ich war entzückt, hatte ich doch so lange gewartet, war stolz als Lehrerin und fühlte mich zugleich ertappt. Sie konnte mich nun nachahmen. Inzwischen sagt sie: „Warte mal, siehst du, komm mal, ich komme gleich, nicht so schnell, langsam, ich möchte ein Joghurt, kommst du mit, nicht so laut, leise, hast du gesehen, weißt du ...“ „Ich bin stark“ war einer ihrer ersten Sätze, mit dramatischer Gestik vorgetragen, fast eine Aufforderung zum Kampf.

Plötzlich lernt sie den harten Kita-Sprech

Ich hatte Angst, dass jemand sie missverstehen könnte. Als ich wieder einmal ihren viel zu schweren Kinderwagen die S-Bahn-Treppe hochschleppte, sagte sie in bestem Hochdeutsch: „Eva, du bist stark!“ Da hätte ich heulen können vor Rührung und Freude, dass sie Anerkennung aussprechen konnte in wenigen klaren Worten auf Deutsch. Erst nach Monaten fanden die Worte „lieb“ und „böse“, „richtig“ und „falsch“ Eingang in ihren Wortschatz.

Dazu hat die Zeit in der Kita, die wir nach langem Suchen gefunden haben, beigetragen. Die Kinder wissen ja wie überall auf der Welt recht rabiat zwischen lieb und böse, richtig und falsch in ihren Anerkennungskämpfen untereinander zu unterscheiden. Und so kam es, dass mir Modina androhte, „nicht mehr meine Freundin zu sein, wenn ich ...“ Aha, das war Kindergartensprech im modernen Berlin. Ich bin froh, dass sie den inzwischen unter Zehnjährigen üblichen Spruch „Ich hasse dich!“ noch nicht auf mich schleudert.

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Quelle: Die Welt

Wohl deswegen halte ich sie vom Fernsehen und Handy fern und von Kindergruppen, in denen es zu hart zugeht. Doch sie ist neugierig genug, dass sie rechts und links alles Mögliche aufzuschnappen versucht, bei mir zu Hause mal Karneval in Köln mit guckte oder einen Tierfilm, wo sie wie eine Ureinwohnerin, die noch nie einen Fernseher gesehen hat, sich dem Bild näherte und es staunend abtastete. So steht sie auch vor den großen Werbetafeln mit bewegten Bildern im Kaufhaus oder in der U-Bahn, und ich warte dann immer, bis sie sich losreißen kann. „Jetzt bin ich dran“, hat sie nicht bei mir gelernt, das kommt auch aus der Kita so wie „Wir machen einen Kreis“.

Die Hände anzufassen und sich vor dem Essen einen guten Appetit zu wünschen, egal wo, ob im Heim, in der Kita, auf dem Spielplatz, ist eines unserer wichtigen Rituale geworden. So wie „Gute Nacht“ sagen und Versteckenspielen, egal, wo wir gerade sind. Auch das Wort „Überraschung“ gehört dazu, sich kleine Überraschungen ohne Geld zu bereiten. Die Augen zumachen und dann zu raten: „Was siehst du da?“ „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist grün, blau, rot, gelb, rosa, schwarz ... weiß...“

Als sie „der große Mohammed“ sagte, war ich irritiert

Oder Zahlen lernen beim Versteckenspielen und Treppengehen. Sie kommt schon bis 20, doch das Wort „Achtung“ in der U-Bahn bringt sie durcheinander. Auch Bär und Beere sind schwer auseinanderzuhalten. Doch der Affe und die Giraffe und der Löwe im Zoo haben deutsche Namen. Neulich sagte sie: „Mohammed ist mein Freund.“ Ich war irritiert, weil ich dachte, sie hätte jetzt doch eine religiöse Erziehung genossen, die Trennung zwischen Muslim und Christ würde sich zwischen uns drängen und die großen Mediendebatten auch unsere Zuneigung beeinträchtigen.

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Quelle: Die Welt

Doch als sie mein ungläubiges Gesicht sah, sagte sie, „der große Mohammed“. Das verwirrte mich noch mehr, wollte sie mich jetzt schon bekehren? Zu Hause fiel mir erst ein, dass sie im Heim mit dem Nachbarkind Mohammed, dem Baby von Soraya und Ali, Analphabeten aus Afghanistan, eng zusammengelebt hatte, beim Stillen zugeschaut und ihn getragen hatte. Im neuen Heim in Ost-Berlin gab es einen Mohammed von 14 Jahren, der ihr imponierte. Tja, das sind die Irrungen und Wirrungen beim Sprachelernen zwischen den Kulturen.

Als ich mich einige Tage später aufregte, weil am wunderschönen Maiensonntag unter blühenden Apfelbäumen ein Nachbar ständig sein Motorrad laut aufdrehte, schimpfte ich unbedacht vor mich hin: „Mein Gott, der soll mal aufhören mit dem Krach.“ Da plapperte sie gleich nach. „Mein Gott!“ und „Krach“ gehören seitdem auch zu ihrem Wortschatz, ein Wort, das sie fast so eindrucksvoll findet wie „Blitz“ und „Donner“.

Sie lacht darüber, dass ich „alemany“ bin

Modina ist mit ihrer Sprachentwicklung im Deutschen dem Vater weit voraus und wird langsam zur Übersetzerin. Vor zwei Wochen guckte sie mich, als ich sie von der Kita abgeholt hatte, verschmitzt an, zeigte auf mich mit dem Finger und sagte, du „alemany“. Aha, ich bin eine Deutsche, und sie lachte mich fast frech aus. Ich war also die Fremde, die andere, ich hatte eine Identität jenseits meines Namens Eva, der für sie viele Bedeutungen hat.

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Quelle: Die Welt

Es war wie ein geistiger Durchbruch, dass sie nun um die beiden Sprachen wusste und anfing, sich in beiden auszukennen. Sie begann, mir Worte auf Farsi beibringen zu wollen. Ihr Lachen darüber, dass ich alemany bin, war ein Lachen über alle angestrengten oder verkrampften Identitäts- und Integrationsdebatten und Essays über das Anderssein, die auf zig Konferenzen und Kulturevents in Berlin stattfinden, während wir beide uns mit wenigen Worten und vielen Gesten, vielen gemeinsamen Spielerfahrungen und Gefühlsausbrüchen, Missverständnissen, Momenten des Sprachversagens einander annähern.

Egal, wo ich bin, immer höre ich mit Modinas Ohren zu. Was hat das mit ihren Lebenserfahrungen, mit ihren Lernchancen hier zu tun und mit denen all der Kinder, die ich auf dem Spielplatz im Heim treffe. Was mit den Depressionen und der Naivität, dem schlechten Bildungsstand der meisten Eltern von ihnen, die nicht gelernt haben, mit ihren Kindern zu spielen, ihnen etwas vorzulesen, sie zu loben, sie anzuregen, sie mit deutschen Kindern gemeinsam soziales Lernen üben zu lassen, sie nicht zu schlagen, sie nicht zu würgen, ihnen nicht zu drohen, sie nicht mit Süßigkeiten vollzustopfen, sie nicht vorm Fernseher rumhängen zu lassen allein.

Viele Probleme, die ich nun beobachte, gleichen denen, die auch Kinder aus sozial schwachen Familien hierzulande erleben. Ich habe kaum Eltern auf den Spielplätzen getroffen, die ihren Kindern beibringen, mit anderen Kindern zu spielen. Lieber gucken sie ständig auf ihr Handy.

Ihr steht noch so mancher Kulturschock bevor

„Ich wollte ihr die Liebe zum Buch beibringen, bevor der Sog der Handywelt sie voll erwischt.“

„Ich wollte ihr die Liebe zum Buch beibringen, bevor der Sog der Handywelt sie voll erwischt.“

„Ich wollte ihr die Liebe zum Buch beibringen, bevor der Sog der Handywelt sie voll erwischt.“

Quelle: Amin Akhtar

Alles, was wir tun und sagen, geht in Modina auf. Das ist das Geheimnis des Sprachgeistes. Plötzlich sagt sie: „Die Blumen riechen gut. Papa ist böse. Eva ist lieb. Im Mai habe ich gegessen. Ich habe vergessen. Wo bleibt Papa? Bei Eva zu Hause habe ich auch eine Glocke und ein Klavier. Ich habe ein Buch, ich habe zwei Bücher.“ Das sagt sie Mitfahrern im Bus ganz stolz, und ich könnte heulen. Denn die Liebe zum Buch, die Neugier aufs Lesen, genau das wollte ich ihr beibringen, bevor der Sog der Handy- und Fernsehwelt sie voll erwischt.

Bei jeder Kirche zieht sie mich am Ärmel und sagt: „Guck mal, eine Kirche.“ Die Weihnachtsmusik, zu der ich sie mitgenommen hatte, ist in ihrem Inneren angekommen. Sie mag den Klang der Kirchenglocken. Zur Bachpassion Aleppo habe ich sie mitgenommen in die erste Reihe jener Kirche, in der einst Dietrich Bonhoeffer konfirmiert wurde. Sie hat auch schon Synagogengesang kennengelernt und das Trommeln auf Tischen und Bänken.

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Unser Pfingstgottesdienst wird wohl wie der vieler Berliner beim Karneval der Kulturen zelebriert, wo sie einige Kulturschocks erleben könnte. Aber den Sinn für Rhythmus hat sie schon bei mir mit Flöte, Gitarre und am Klavier geübt. So freue ich mich auf unser gemeinsames erstes Pfingstfest, wo hoffentlich der Heilige Geist viele in Europa und im Nahen Osten ergreift und das Feuer des Hasses und Unfriedens löschen hilft.

Eva Quistorp, 70, ist eine Gründungs-Grüne. Die leidenschaftliche Pazifistin und Feministin ist heute enorm engagiert in der Flüchtlingsfrage.

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Quelle: Die Welt

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