Schlaganfall, Störungen der Körperwahrnehmung

Ein Schlaganfall kann zu bleibenden Hirnschäden und dauerhaften Funktionseinschränkungen führen. Da jedes Hirnareal für bestimmte Aufgaben zuständig ist, lässt sich bei einem diagnostizierten Schlaganfall vorhersagen, welche Fähigkeiten der Patient zu verlieren droht.

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Hirnschäden infolge eines Schlaganfalls

Ein Schlaganfall kann zu bleibenden Hirnschäden und dauerhaften Funktionseinschränkungen führen. Da jedes Hirnareal für bestimmte Aufgaben zuständig ist, lässt sich bei einem diagnostizierten Schlaganfall vorhersagen, welche Fähigkeiten der Patient zu verlieren droht. Schäden in der rechten Hirnhälfte wirken sich auf die linke Körperseite aus, Schäden in der linken Hirnhälfte haben entsprechend Einfluss auf die Funktionsweise der rechten Körperseite. Ist die linke Hirnhälfte betroffen, so kann dies zu Sprach- und Sprachverständnisstörungen führen.

Viele Menschen denken beim Schlaganfall vor allem an einen Verlust der Muskelkraft (Lähmung). Der Betroffene kann halbseitig oder nur in einem Arm oder Bein gelähmt sein. Einigen fällt das Sprechen oder Verstehen schwer. Sind die Hirnareale betroffen, die für unser Denken, Wissen und Können verantwortlich sind, kann dies zur Einschränkung der geistigen (kognitiven) Fähigkeiten des Patienten führen.

Viele Betroffene leiden auch unter einer gestörten Körperwahrnehmung, was bei Außenstehenden einen eigenartigen Eindruck erwecken kann. Es ist daher wichtig, die mitunter recht ungewöhnlichen Auswirkungen eines Schlaganfalls zu kennen, da sich ansonsten der Gedanke aufdrängen könnte, es handele sich um eine Art „Spiel“ seitens des Patienten. Dieser kann seine Handlungen in dem Fall allerdings nicht mehr bewusst steuern. Der Bereich des Gehirns, der für unsere Körperwahrnehmung verantwortlich ist, funktioniert schlichtweg nicht mehr. Nachfolgend werden einige der relativ üblichen Funktionseinschränkungen der höheren Hirnfunktionen vorgestellt, die infolge eines Schlaganfalls auftreten können.

Apraxie

Herr A hat vor zwei Monaten einen Schlaganfall erlitten. Seitdem leidet er unter einer leichten Lähmung im rechten Bein, einer mäßigen Lähmung im rechten Arm sowie unter gewissen Wortfindungsschwierigkeiten. Selbst die einfachsten alltäglichen Handlungen fallen ihm schwer. Wenn er Kaffee kochen möchte, steht er vor der Kaffeemaschine, setzt den Kaffeefilter ein und nimmt ihn wieder heraus, füllt aber kein Kaffeepulver ein. Obwohl seine linke Hand nicht gelähmt ist, hält er das Besteck mit beiden Händen wie ein Dreijähriger, der gerade das Essen mit Messer und Gabel erlernt.

Dieses Phänomen wird als Apraxie bezeichnet. Die Ursache ist weder eine Lähmung, noch sind Taubheitsgefühle oder motorische Veränderungen dafür verantwortlich – der Patient hat schlichtweg die Fähigkeit verloren, Handlungen willentlich und zielgerichtet auszuführen. Bei alltäglichen Tätigkeiten hat er Probleme mit der Reihenfolge, oder es fällt ihm schwer, bestimmte Teilaufgaben einer Handlungsfolge auszuführen. Er hat möglicherweise Schwierigkeiten dabei, etwas anzufangen, hält oftmals inne und wiederholt mehrmals dieselbe Bewegung oder hat Probleme mit der Benutzung alltäglicher Gegenstände. Solche Funktionsstörungen sind bei Schäden in der linken Hirnhälfte nicht ungewöhnlich und treten häufig zusammen mit Sprach- und Sprachverständnisstörungen (Aphasie) auf.

Eine Apraxie lässt sich nachweisen, indem man den Patient bittet, eine alltägliche Handlung wie Haarekämmen oder Zähneputzen auszuführen. Man kann dem Patienten den richtigen Bewegungsablauf vorführen und schauen, ob ihm das Nachahmen gelingt.

Räumliche Orientierungsstörungen

Frau B hat vor einem halben Jahr einen Schlaganfall erlitten. In der akuten Phase war ihr linke Körperseite gelähmt, die motorischen Fähigkeiten konnte sie später größtenteils wiedererlangen und benötigt nun lediglich einen Spazierstock beim Gehen. Allerdings fällt es ihr schwer, sich anzuziehen. Es scheint, als hätte sie Probleme dabei, „den Weg zu finden“, wenn sie einen Pullover oder eine Jacke anzieht: Sie schafft es nicht, die Arme und den Kopf in die richtigen Kleideröffnungen zu stecken. Wenn es ihr überhaupt gelingt, das Kleidungsstück anzuziehen, so ist es oftmals auf links gedreht oder falsch herum angezogen. Sie hat sich auch schon des Öfteren an Orten verlaufen, die sie eigentlich sehr gut kennt, obwohl sie weder vergesslich noch desorientiert ist.

Wer unter räumlichen Orientierungsstörungen leidet, hat Schwierigkeiten dabei, Teile zu einem Ganzen zusammenzusetzen und visuell-räumliche Handlungen auszuführen. Dem Patienten fällt es möglicherweise schwer, das Verhältnis seines eigenen Körpers im dreidimensionalen Raum aufzufassen, er hat Probleme mit dem Verhältnis der Körperteile zueinander sowie der Unterscheidung zwischen rechts und links. Die visuell-räumliche Auffassung ist gestört, was sich dadurch bemerkbar machen kann, dass der Betroffene ein auf dem Tisch stehendes Glas nicht greifen kann oder beim Kaffee einschenken neben die Tasse gießt. Beim Hinsetzen wird der Stuhl teilweise oder ganz verfehlt, die Orientierung im eigenen Wohnviertel fällt schwer oder ein Kleidungsstück wird nicht als eine dreidimensionale Struktur wahrgenommen. Der Zusammenhang zwischen Objekten fällt möglicherweise schwer, so dass die betroffene Person z. B. nicht in der Lage ist, die Teile einer Kaffeemaschine korrekt zusammenzusetzen, obwohl sie dies schon unzählige Male zuvor getan hat.

Neglect

Frau C wurde nach einem Schlaganfall mit halbseitiger Lähmung auf der linken Seite ins Krankenhaus eingeliefert. Die ersten Tage lag sie nur im Bett und schaute nach rechts – es schien, als würde sie Personen, die sich dem Krankenbett von links näherten, ignorieren. Später, als sie im Rollstuhl sitzen und den Krankenhausflur entlang fahren konnte, fuhr sie ständig in Möbel (Schirmwände, Krankenbetten oder dergleichen), die links von ihr standen, hinein. Oftmals vergaß sie auch, den linken Arm in den Blusenärmel zu stecken.

Beim sogenannten Neglect ist die eigene Körperwahrnehmung oder die räumliche Wahrnehmung auf einer (in der Regel der linken) Seite gestört. Häufig unterscheidet man zwischen Körperneglect (die eigene Körperwahrnehmung betreffend) und visuellem Neglect (das räumliche Sehen betreffend). Oftmals treten beide Varianten zugleich auf. Bei Schäden in der rechten Hälfte kommt es fast immer zu irgendeiner Form des Neglects. Patienten mit visuellem Neglect finden beim Lesen eines Textes oftmals nicht den Anfang der Zeile. Bei besonders starker Ausprägung kann der Neglect dazu führen, dass ausschließlich die Hälfte der Mahlzeit auf der rechten Tellerseite verspeist wird. Leidet ein Patient unter einem Körperneglect, so vergisst er oftmals, seine linke Seite des Körpers ordentlich zu bekleiden, Männer rasieren mitunter nur das halbe Gesicht. Die Unfallgefahr ist enorm, es kann vorkommen, dass der Betroffene seinen herabhängenden, gelähmten Arm nicht wahrnimmt und dieser z. B. ins Rad des Rollstuhls gerät.

Uhr
Kreuz

Ein Neglect kann auf verschiedene Arten nachgewiesen werden. Der Patient kann gebeten werden, die Mitte einer waagerechten Linie auf einem Papier zu markieren (Patienten mit visuellem Neglect gelingt dies nicht) und eine einfache Figur (ein Kreuz, s. Abb.) zu zeichnen oder wie bei einer Uhr Ziffern in einen Kreis einzuzeichnen (s. Abb.).

Anosognosie

Bei der Anosognosie handelt es sich um eine Wahrnehmungsstörung. Der Patient nimmt seine halbseitige Körperlähmung nicht wahr und erkennt die kranken Körperteile nicht als seine eigenen. Bei besonders starker Ausprägung kann dies zu erschrockenen Ausrufen seitens des Patienten führen wie: „Herr Doktor, jemand hat einen Arm in mein Bett gelegt!“

Persönlichkeitsveränderungen

Schäden in den vorderen Hirnarealen können zu besonders stark ausgeprägten Persönlichkeitsveränderungen führen. Die Betroffenen leiden möglicherweise unter Antriebslosigkeit, Planungsschwierigkeiten oder zeigen ein unkritisches oder unhöfliches Verhalten. Sie sind uneinsichtig, was ihre persönliche Situation betrifft, und deutlich weniger stressresistent. Einige weisen auffällige Veränderungen in der Sprachproduktion auf, sie sprechen ungewöhnlich viel oder drücken sich umständlicher aus. Diese Symptome sind besonders belastend für die Angehörigen des Patienten, weshalb es umso wichtiger ist, sich der Ursache stets bewusst zu sein.

Verlust der Gefühlskontrolle

Haben Patienten nach einem Schlaganfall Probleme mit der Gefühlskontrolle, so kann sich dies in Form von emotionaler Labilität („emotionale Inkontinenz“) oder Weinen und Lachen in unpassenden Situationen äußern. Neutrale oder geringfügig emotionale Geschehnisse können zu heftigen Tränenausbrüchen führen, selbst wenn der Patient gar nicht traurig ist. Hier bedarf es einer klaren Abgrenzung zur Depression. Seltener kommt es zu positiv geladenen Gefühlsausbrüchen wie ungehemmtem Gelächter, das in der jeweiligen Situation unangemessen erscheint. Solche Symptome können als enorme Belastung empfunden werden und zu sozialer Isolation führen. In stark ausgeprägten Fällen kann eine Behandlung mit Antidepressiva versucht werden.

Therapie

Die größte Herausforderung bei Störungen in der Körperwahrnehmung ist es, den Patienten dazu zu bewegen, seine Funktionsstörungen zu verstehen und zu akzeptieren. Liegt ein ausschließlich motorischer Ausfall vor, so bereitet es dem Patienten in der Regel keine Probleme zu verstehen, dass bspw. sein Arm gelähmt ist. Patienten, bei denen die Körperwahrnehmung gestört ist, haben hingegen oftmals Schwierigkeiten, ihre eigene Situation wahrzunehmen und zu verstehen – dieses Verständnis ist allerdings zwingend notwendig, um die entsprechenden Funktionen trainieren und damit zu verbessern können. Dies gilt besonders für Patienten mit einem Hirnschaden in der rechten Hemisphäre. Häufig müssen dem Patienten gezielt Aufgaben gestellt werden, so dass er über bekannte alltägliche Handlungen zu der Einsicht gelangt, dass sein Körper nicht normal funktioniert. Diese Einsicht kann sehr bedrückend sein, weshalb sehr viel Feingefühl und Vorsicht beim Vorgehen geboten ist. Dennoch bleibt stets die Hoffnung, dass das regelmäßige Trainieren gewohnter Alltagshandlungen letztendlich dazu führt, dass der Patient die verloren gegangenen Fähigkeiten zumindest teilweise wiedererlangt – oder dass er lernt, die entsprechenden Aufgaben auf eine andere Weise auszuführen.

Prognose

Wie auch bei anderen Symptomen, die infolge eines Schlaganfalls auftreten können, ist im Falle der gestörten Körperwahrnehmung eine spontane Besserung nicht ausgeschlossen. Eine solche Spontanremission ist in den ersten Monaten nach einem Schlaganfall am wahrscheinlichsten, später nimmt die Fähigkeit zur Regeneration schrittweise ab. So hatten gemäß einer Forschungsstudie rund 40 % der beobachteten Patienten eine Woche nach ihrem Schlaganfall erhebliche Probleme damit, eine simple Figur nachzuzeichnen. Ein halbes Jahr später gelang es den meisten Betroffenen allerdings, diese Aufgabe zu lösen. Dennoch lässt sich leider nicht von der Hand weisen, dass ein erheblicher Anteil an Patienten (etwa 15–20 %) nach einem Schlaganfall für den Rest seines Lebens mit bleibenden, nicht-sprachlichen Funktionsstörungen bei der Körperwahrnehmung zu kämpfen hat.

Weiterführende Informationen

Autoren

  • Philipp Ollenschläger, Medizinjournalist, Köln

Literatur

Dieser Artikel basiert auf dem Fachartikel Schlaganfall, kognitive Symptome. Nachfolgend finden Sie die Literaturliste aus diesem Dokument.

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