14. Januar 2011, 08:30 Uhr

AIG meldet sich zurück

Einst war AIG der größte Versicherer der Welt. Vor zwei Jahren wurde er der größte Sprengsatz im Weltfinanzsystem - und mit 180 Mrd. Dollar gerettet. Seitdem hat AIG versucht, sich umzubauen und neu zu erfinden. Es gibt tatsächlich Erfolge.

Robert Benmosche ist schwer krank, die Nachricht darüber kursiert seit Wochen. Und sie versetzt viele in Schrecken, seine Familie ohnehin, aber auch die Mitarbeiter von AIG. So viel hängt von Benmosche ab. Das weiß er genau, und um allen etwas die Sorge zu nehmen, präsentierte sich der 66-Jährige der Welt.

Ende Dezember gab er der "New York Times" ein Videointerview. Er saß zurückgelehnt in einem üppig gepolsterten Armsessel, auf seinen Lippen lag ein Lächeln. Die Ruhe, die er ausstrahlte, schien unerschütterlich, beinahe wie die eines buddhistischen Mönches. "Ich würde gern noch 2011 bleiben", sagte er. Aber 2012, da müsse ein anderer ran, ein CEO, "der einen Horizont von fünf bis sieben Jahren hat".

Eine erstaunliche Botschaft, nicht nur weil Benmosche schwer krebskrank ist und trotzdem weitermacht. Er redet von der Zukunft, von vielen Jahren. Für einen Konzern mag das nach einer Selbstverständlichkeit klingen. Aber Benmosche ist Chef der American International Group, kurt AIG.

Einst war der Versicherungsgigant eine Art römisches Imperium der Versicherungsbranche. Drei Buchstaben, die fast überall drinsteckten oder darüberstanden. Dann kam die Finanzkrise.

AIG wankte, bald wurde Politikern, Bankern und anderen Finanzmagiern klar, dass der Konzern das Potenzial hatte, das Weltfinanzsystem zu sprengen. AIG war eine Bombe, größer und explosiver als die US-Investmentbank Lehman Brothers. Der "Spiegel" nannte sie die "gefährlichste Firma der Welt".

Wenige Tage nach der Lehman-Pleite musste die US-Regierung den Versicherer retten, zunächst mit 85 Mrd. Dollar, aus denen inzwischen gut 182 Mrd. geworden sind. Der Verlust im letzten Quartal 2008 betrug fast 62 Mrd. Dollar - es war der höchste Quartalsverlust der Wirtschaftsgeschichte. Nie zuvor hat ein Staat so viel Geld eingesetzt, um ein privates Unternehmen zu retten. AIG war "too big too fail". Der Gigant, das war klar, würde nie mehr zur alten Größe finden - und auf viele Jahre eine große Gefahr und ein noch größerer Trümmerhaufen bleiben.

Heute, 18 Monate später, hat sich das Bild ziemlich gewandelt. AIG ist noch längst kein pulsierender Vorzeigekonzern - hat aber riesige Schritte unternommen, um überhaupt wieder ein normales Unternehmen mit einem Geschäftsmodell zu sein.

Teil 2: AIG hat den Komplettumbau absolviert

Der Aktienkurs - hat sich verdoppelt. Die Kredite der Notenbank Fed - wurden abbezahlt. Staatshilfen - wurden teilweise erstattet. AIG hat sich gesundgeschrumpft, Töchter verkauft und ist in Europa unter dem Namen Chartis neu gestartet. "AIG kommt zurück", sagt Jon Wright, Versicherungsexperte bei SNL Financial, "als unabhängiges Unternehmen. Aber es wird nicht aussehen wie zuvor."

Der Kopf hinter dem Umbau ist Benmosche, der im August 2009 die Führung übernahm. Die Rückzahlung der Schulden hatte für ihn von Anfang an oberste Priorität. Nur auf diesem Wege, so war ihm klar, konnte er das desaströse Image des Unternehmens nach und nach verbessern.

Er ist ans Eingemachte gegangen, um dieses Ziel zu erreichen: AIG musste schlanker werden, sehr viel schlanker. 116.000 Mitarbeiter hatte der Versicherer einst, mehr als 4000 Töchter in 130 Ländern, über 100 Mrd. Umsatz. Von Dutzenden Bereichen hat sich der Versicherer inzwischen getrennt.

Erst am Mittwoch verkaufte AIG die taiwanische Tochter Nan Shan für 2,16 Mrd. Dollar an das Konglomerat Ruentex. Die asiatische Tochter AIA platzierten die Amerikaner an der Börse, was noch mal 18 Mrd. Dollar in die Kasse spülte. Die Verkäufe der 30 Bereiche haben insgesamt rund 50 Mrd. Dollar eingebracht. Zusätzlich konnte sich AIG über Kredite bei Banken und am Kapitalmarkt frisches Geld beschaffen - vor zwei Jahren noch undenkbar.

Ebenso lange Zeit undenkbar: Es ist Payback-Time. In dieser Woche will das Unternehmen seine Rekapitalisierung abschließen und die letzten direkten Schulden in Höhe von mehr als 40 Mrd. Dollar zurückzahlen. Zudem bereitet die US-Regierung ihren Ausstieg vor. In drei Auktionen will der Staat dieses und nächstes Jahr 92 Prozent seiner Aktien, die er im Zuge der Zwangsverstaatlichung bekam, an der Börse platzieren.

Natürlich birgt der Schritt, die Platzierung solcher Jumbopakete, große Risiken: Gibt es überhaupt genügend Käufer? Sollten sich die AIG-Papiere aber zu einem Wert von etwa 45 Dollar je Aktie verkaufen, hat das "Wall Street Journal" errechnet, könnte für den US-Steuerzahler ein Gewinn von 20 Mrd. Dollar dabei herausspringen. Man könnte sagen: Benmosche hätte dann seine Mission erfüllt.

Dabei ist er ein Mann, dessen Leben kaum noch Wünsche offen ließ. Hinter ihm lag ein erfolgreiches Leben und vor ihm ein angenehmer Ruhestand. Bis 2006 war er Chef des US-Versicherungsriesen Metlife. Er hatte sich gerade eine Villa in Kroatien gekauft, stellte sich auf ein ruhiges Leben ein. Dann kam das Angebot von AIG. "Ich habe im Sommer 2009 auf die Adria hinausgeschaut und dachte mir: Warum soll ich das hier alles aufgeben?", gestand Benmosche. Und doch entschied er sich, den Mammutjob zu übernehmen. "AIG war einfach zu groß, zu wichtig, um abzulehnen", sagt er.

Teil 3: Ein Unternehmen, dass alle hassten

Illusionen, was ihn dort erwarten würde, hatte er keine. Er kennt die Geschichten von Kindern, die in der Schule verprügelt wurden, weil ihre Eltern bei AIG arbeiten. Von Mitarbeitern, denen Passanten den Regenschirm zerbrachen, weil das Logo der Firma darauf prangte. AIG war ein Name, der eigentlich aus der Welt verschwinden sollte.

Und natürlich kennt Benmosche die Geschichten seiner Vorgänger. Es war Maurice Greenberg, der das Unternehmen formte, es groß und größer machte. 38 Jahre lang hat er das Unternehmen geführt. Doch unter ihm begann, was das Unternehmen fast in den Ruin getrieben hätte: AIG verkaufte Ausfallversicherungen auf Hypotheken und Kredite, unter ihm begann das große Spiel, das zur Finanzkrise führte - die Verbriefung, die Bündelung von Kreditrisiken in großen Paketen mit komischen Kürzeln, die kaum einer mehr durchschaute. Greenbergs Nachfolger Martin Sullivan beendete die Geschäfte 2005 zwar, aber die Risiken blieben im Bestand.

Benmosche war klar, in welchem Bereich er gründlich aufräumen musste, um AIG wieder zum Leben zu erwecken: bei der Tochter AIG Financial Products, kurz AIG FP, die in London ansässig ist. Sie hatte mit ihren Versicherungen für Kreditderivate das Desaster maßgeblich verursacht. Hier steckten die ganzen toxischen Papiere.

Nach eigenen Angaben führte die Sparte im September 2008 Derivatekontrakte mit einem Nominalwert von 2000 Mrd. Dollar in ihren Büchern. Als die Ratingagenturen die stets gute Note von AIG senkten, konnten Banken wie Goldman Sachs Milliardensummen in bar als Sicherheiten fordern. Das höhlte die Kapitalbasis des Konzerns aus.

Erst mit dem Geld der US-Steuerzahler war AIG wieder in der Lage, die laufenden Kontrakte abzuzahlen. Schritt für Schritt reduzierte AIG den Bereich Financial Products in den vergangenen anderthalb Jahren. Laut eigener Statistik betrug der Wert der laufenden Kontrakte im September 2010 noch 506 Mrd. Dollar. Viele Analysten sehen das Unternehmen bei dieser Herkulesaufgabe auf dem richtigen Weg. "Die konsequente Minimierung dieser Risiken hat die Investoren zuversichtlich gestimmt", sagt Versicherungsexperte Wright.

Teil 4: Zweifel an der Goldgräberstimmung

Vorangetrieben hat Benmosche zwei Kernbereiche: im weltweiten Markt die Eigentumsversicherung Chartis und im US-Markt für Lebensversicherungen die Tochter Sun America Financial. Chartis meldete für das dritte Quartal im November einen Zuwachs des Betriebsergebnisses um knapp 50 Prozent auf 1,1 Mrd. Dollar.

"Für mich sind sie damit auf der richtigen Spur", sagt Ron Shelp, ein ehemaliger AIG-Mitarbeiter, der ein Buch über den Versicherer geschrieben hat. "Immerhin zählt Chartis bei den Eigentumsversicherungen weltweit zu den größten Anbietern." Sun America Financial konnte sich im hart umkämpften Segment im vergangenen Jahr allerdings weniger gut behaupten als die internationale Schwester. Die Branche insgesamt litt unter sinkenden Einnahmen.

Auch deshalb können nicht alle die Goldgräberstimmung bei AIG-Aktien nachvollziehen. Für Benmosche ist die Sache klar: "Fakt ist, dass wir unsere Schulden bei der Regierung schon bald vollkommen zurückzahlen werden. Und der Steuerzahler wird dabei sogar einen Gewinn machen."

Ironischerweise könnte es ebenjener Erfolg sein, der AIG langfristig Probleme bereiten könnte: Denn alles - der Verkauf der Policen, das Rating, die Einschätzung der Märkte - beruht auch auf der Tatsache, dass der Staat dahintersteht. Für alle Forderungen haften indirekt die USA.

Es gibt also noch genug Probleme, mit denen sich wohl Benmosches Nachfolger auseinandersetzen muss. Aber wie Benmosche sagt: Der hätte ja auch fünf bis sieben Jahre.

Dieser Artikel wurde uns von der Financial Times Deutschland zur Verfügung gestellt.
wissen.de ist für dessen Inhalt nicht verantwortlich.

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