Erich Mühsam

„Wo kommen Sie her? Wer ist die Dame? Was wollen Sie?“

von Günther Gerstenberg

 

Wie ein mutiger Pazifist einmal auf einen ängstlichen Kriegsminister traf
aus: Geschichte quer. Zeitschrift der bayerischen Geschichtswerkstätten 12/2004, 12 ff.

 

Das Kriegsarchiv, eine Abteilung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, befindet sich in der Münchner Leonrodstraße. Zehn Jahre nach der Zeit des Umbruchs 1918/19 bat das Archiv Angehörige der Armee zu berichten, was sie in den bewegten Wochen der bayrischen Revolution erlebten. Mitteilungen liefen zunächst spärlich ein, füllten aber dann doch einen Akt. Es finden sich darin auch wütende und empörte Äußerungen der Verbitterung über den Verrat aus den eigenen Reihen, über servile Intriganten, über kopf- und mutlose Kapitulanten, über anpassungsfähige Karrieristen in den obersten Rängen des Offizierskorps und im Ministerium und über Demütigungen des stolzen Kriegerstandes. Der Archivakt „206 November-Revolution 1918 – Beiträge zu ihrer Geschichte“ dient als Quelle der folgenden Erzählung.

Die Alarmglocken schrillen

Oberstleutnant Holle begleitet als erster Adjutant im Generalkommando des II. Bayrischen Armeekorps die Soldaten, die von Baudour über München nach Tirol verlegt werden sollen. An 27. Oktober kündigt der österreichische Kaiser seinem deutschen Kollegen an, er werde innerhalb von 24 Stunden bei der Entente um einen Separatfrieden und einen sofortigen Waffenstillstand nachsuchen. Der Zusammenbruch der Donaumonarchie lässt Schlimmes befürchten. Werden italienische Truppen über die Alpen marschieren, um marodierend in Bayern einzufallen?

Am 30. Oktober 1918 kommen die deutschen Einheiten um 8 Uhr morgens am Münchner Hauptbahnhof an. Auf dem Platz davor sind weitere Ersatztruppenteile in Reih’ und Glied angetreten. Befehle hallen über den weiten Platz. Man marschiert in tadelloser Haltung in die Kasernen.

Im Hotel Bayrischer Hof am Promenadeplatz – heute Schauplatz der sogenannten NATO-Sicherheitskonferenz, einer Tagung von Politikern,Waffenlobbyisten und Militärstrategen – ist das Generalkommando untergebracht. Am 11. November 1918 soll dieses Hauptquartier nach Innsbruck verlegt werden. In der Stadt häufen sich Gerüchte über plündernde Banden im wilden Tirol.

Am 31. Oktober kapituliert der Bündnispartner Türkei. Anfang November meutern Truppenteile an der Front. Am Sonntag, den 3. November, wird der österreichische Waffenstillstand veröffentlicht. Die Münchner Polizeidirektion erlaubt die Demonstration vom selben Tag auf der Theresienwiese unter der Bedingung, dass weder zur Desertion der Soldaten aufgerufen noch die bayrische Republik ausgerufen wird; der Vorschein des Kommenden!

Die Wahl-Kundgebung der USPD für Kurt Eisner, die am 5. November vom Hackerkeller wegen Überfüllung auf die Theresienwiese verlegt wird, lässt bei der Stadtkommandantur die Alarmglocken schrillen. Nicht zuletzt ist am folgenden Tag in der Münchener Post zu lesen, Eisner habe durch Schwur seinen Kopf verpfändet, dass die Erhebung Münchens bestimmt erfolgen werde.

Der Adjutant der Stadtkommandantur, Oberleutnant d. Res. a.D. Provinzial-Baurat Martin Grünewald, schreibt dem Kriegsarchiv am 2. April 1931: Die Stadtkommandantur hätte bei einer Erhebung schießen lassen und habe allen Ersatztruppenteilen und Lazaretten die Teilnahme an der für den 7. November avisierten Friedenskundgebung verboten. Landtagsabgeordneter Erhard Auer und ein weiterer Sozialdemokrat haben aber dem bayerischen Kriegsminister, General der Kavallerie Philipp von Hellingrath, Vorhaltungen gemacht und darauf bestanden, dass die geplante Demonstration harmlos sei. Darauf habe der Minister den Befehl der Stadtkommandantur aufgehoben, Es hätten dann bei der Demonstration viele Soldaten teilgenommen, um Eisner herum seien viele Soldaten gestanden und bei der Erstürmung der Kasernen durch die Revolutionäre habe es Hemmungen gegeben, auf die eigenen Kameraden zu schießen.

Mit dem Regenschirm auf die Barrikade

Etwa um 5.45 Uhr fordert vor der Kaserne, die das Leibregiment des Königs beherbergt, der Dichter und Anarchist Erich Mühsam vom Verdeck eines Lastkraftwagens aus die Abdankung der Wittelsbacher und lässt die bayrische Volksrepublik hochleben.

Harry Kahn schreibt 1928 in der Weltbühne: Ich persönlich sehe ihn immer, wie er … an der Seite seiner ebenso handfesten wie herzensgütigen Frau an der Ecke der Münchner Theresienstraße aus dem Tramwagen springt und geschwungenen Regenschirms zur Türkenkaserne rennt, um die vor den geschlossenen Toren der Hochburg des königlich bayerischen Militarismus stockenden Revolutionäre anzufeuern, die erst lachenden, dann nachdenklich werdenden Soldaten zum Anschluss an seine Leute aufzufordern. Ich glaube keine Geschichtsklitterung zu treiben, wenn ich sage, dass ohne Erich Mühsams Eingreifen in jener Minute die Sache des Münchner und damit des gesamten deutschen Umsturzes zumindest auf das Verhängnisvollste verzögert worden wäre … Das aber ist der ganze Mensch: mit einem Regenschirm auf die Barrikade!“

Der Trupp um Mühsam befreit anschließend die Max-II-Kaserne und weitere militärische Stützpunkte. Mühsam erinnert sich, an diesem Abend sieben zur Revolution aufrufende Reden gehalten zu haben.

Es brodelt in der Stadt. Soldaten entfernen die Symbole des Regimes, die schwarz-weiß-roten Kokarden von ihren Mützen. Offiziere werden entwaffnet, man reißt ihnen die Epauletten ab. Immer wieder sind Schüsse zu hören. An den Straßenecken stehen Redner, die Neugierige um sich versammeln.

Gegen 20 Uhr besetzen die Aufständischen den Hauptbahnhof und das Telegrafenamt. Eine Stunde später sind alle Kasernen in der Hand der Arbeiter und Soldaten, nach einer weiteren Stunde auch der Landtag in der Prannerstraße und die Redaktionen der Zeitungen. Gegen 22.30 Uhr verlässt der König mit seiner Familie die Stadt und fährt mit dem Automobil nach Schloss Wildenwarth bei Prien.

Oberstleutnant Holle berichtet im Oktober 1929, dass verwegen aussehende Gestalten gegen Mitternacht in das Hotel Bayrischer Hof eingedrungen seien, um den dort untergebrachten Offizieren des Generalkommandos die Waffen und das Ehrenwort abzunehmen, nichts gegen die neuen Machthaber zu unternehmen. Dann habe es geheißen, dass aus dem Gebäude heraus auf ein vorbeifahrendes Patrouillenauto geschossen worden sei. Sofort sei das Hotel unter Beschuss geraten, die erregte Menge habe es stürmen wollen und der verzweifelte Hotelbesitzer habe um Schutz ersucht.

Holle: Nach vielen Umständlichkeiten wurde ihm dieser zugesagt und eine Bolschewiken-Wache von ca. 30 Mann zog zum Schutze des Hotels und – Ironie des Schicksals – des Generalkommandos des II. bayer. A-K. auf. Sie sperrten den Promenadeplatz im Halbkreis um das Hotel ab, bei der Bayerischen Vereins-Bank und beim Reisebureau wurden M.-G. aufgestellt, so unterblieb der Sturm auf das Hotel.“ Schließlich „lümmelten sich in unserer Hotelhalle ungefähr 10 Bolschewiken rauchend und schlafend in den Klubsesseln zu unserer Bewachung“.

Felix Fechenbach, späterer Sekretär Eisners, erinnert sich anders: Zuerst sei aus dem Bayrischen Hof geschossen worden, dann habe er die wütende Masse beruhigt, sei mit fünf waghalsigen Bewaffneten ins Hotel gegangen, habe die Einwilligung in die geforderte Entwaffnung der schicksalsergebenen Offiziere erhalten und sei mit der schriftlichen Erklärung abgezogen: Ich erkläre ehrenwörtlich, dass kein Herr das Hotel bayer. Hof verlässt, bevor der Soldatenrat weitere Anweisung gibt. v. Seißer, Major u. Chef des Generalstabes.“ (Später war Hans Ritter von Seißer an der Niederwerfung der Räterepublik beteiligt, wurde Chef der bayerischen Landespolizei und gründete u.a. mit von Kahr und Pöhner die „Ordnungszelle Bayern“.)

Am Morgen des 8. November eilt Holle, der Seißer nicht erwähnt, ins Landtagsgebäude, um die Internierung aufzuheben. Der sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Hans Nimmerfall übergibt ihm Passierscheine. In Zivilkleidern verlassen die Offiziere heimlich das Hotel durch Nebentüren – ein beschämender Abgang! Seißer schreibt dem Kriegsarchiv am 28. November 1929 kurz und bündig: „Am 8.11.1918 fuhr ich in gepumptem Zivilanzug nach Pasing und nahm dort Verbindung mit der 7. preußischen Reserve-Division auf. Am 9. November und in den folgenden Tagen war ich in München.“

Ein Krieger ist per definitionem siegreich. Verliert er, muss er sich zu einem Rollentausch bequemen, schmerzhaft und demütigend. Keine größere Schande ist es, sich nur in der Verkleidung der verachteten Zivilisten das Leben retten zu können. Am 27. November 1918 verlässt der Rest der Offiziere schließlich München, um die Demobilmachung in Würzburg durchzuführen.

Ein Pazifist gilt vice versa als feige. Er kann sich noch so oft bekennen, gegen den herrschen den Trend zu sein, nur in der Ausnahmesituation gelingt es ihm, der Öffentlichkeit zu zeigen, dass er mutig ist.

Versager

Minister von Hellingrath bleibt bis Mitternacht des 7/8. November 1918 im bayrischen Kriegsministerium (Ecke Schönfeld-/Ludwigstraße, heute befindet sich dort u.a. die Abteilung V des Bayer. Hauptstaatsarchivs), fährt dann mit mehreren Offizieren nach Pasing, um von dort mit Hilfe eines bayerischen Infanterieregiments und der preußischen 7. Reservedivision München zurückzuerobern.

Viktor Mann, der jüngste Bruder Thomas Manns, Adjutant bei der bayerischen Ersatzabteilung, erfährt am 8. November telephonisch: „Die Truppe sei kurz vor Pasing ausgeladen worden … und habe sich in strammer Ordnung zugleich mit einer leichten Batterie in Marsch gesetzt. Bei den ersten Häusern des großen Vororts sei man plötzlich auf eine bewaffnete Wache der Revolutionäre gestoßen. Richtige Münchner Luckis mit Sportmützen über alten Militärmänteln, grellen Halstüchern, die Gewehre mit den Kolben nach oben umgehängt, was offenbar ein revolutionäres Kennzeichen sei, und die Koppeln voller Handgranaten. O nein, Blut sei nicht geflossen. Der Anführer der Roten habe die Preußen mit Brüder, Genossenangerufen … Erhebt die Waffen nicht gegen Eure Brüder, habe der durchaus nicht nüchterne Rebell gerufen, werft sie von Euch, Genossen!Und mit einem Schlag seien die Gewehre des Bataillons auf der Straße gelegen.“

Viele 0ffiziere sind sich später einig: Der „Sicherheits“-Apparat und seine Technik funktionierte, alles war für den Fall eines Umsturzes bestens vorbereitet, es fehlte nicht an Kommunikation, Waffen gab es genug; allein der Mensch war das Problem – sowohl als Befehlender wie als Gehorchender entsprach er nicht mehr der Norm. Die Balance im feinen Gespinst zwischen Selbstdisziplin und Disziplinierung kam aus dem Takt und dann öffneten sich die Schleusen.

Am 8. November, etwa um 2 Uhr morgens, meldet sich der Artillerieleutnant Kurt Königsberger im Landtagsgebäude, er habe bei der Ersatzfliegerabteilung Schleißheim achthundert Mann, zwanzig Maschinengewehre und einige Haubitzen, die er der revolutionären Regierung zur Verfügung stelle. „Flink! Schaffen Sie alles her und postieren Sie Ihre Leute mit den Geschützen vor dem Landtag“, meint Kurt Eisner, wie sich dessen Vertrauter Wilhelm Herzog später erinnert.

Nun könnte man meinen, die in München stationierten zahlreichen Offiziere bilden angesichts des drohenden Umsturzes wenigstens eine schlagkräftige Offizierskompanie, um die strategisch wichtigen Orte der Stadt zu sichern. Aber nur sechs Polizeibeamte bewachen das Kriegsministerium. Zwischen zwei und drei Uhr morgens erscheint ein Trupp von Soldaten mit roten Armbinden. Der Adjutant des Kriegsministers, Major Haller von Hallerstein, erinnert sich am 12. Dezember 1929: „Etwa zwischen 2 und 3 Uhr morgens erschien unter der Führung eines Juden, der sichtbar noch nie Militärdienste geleistet hatte und nur schnell in eine Uniform gesteckt worden war, eine Wache, die die Schutzleute heimschickte, da sie selbst die Sicherung übernehme.“

Da in dieser Nacht nur Kurt Königsberger und Erich Mühsam tätig waren, kann angenommen werden, dass einer von beiden in einem übergeworfenen alten Militärmantel vom Mathäserbräu aus einen Trupp von Rotgardisten mit sich nahm, um die Besetzungen strategisch wichtiger Orte abzuschließen. Nach der Übergabe des Ministeriums geht Haller in voller Uniform und unbelästigt durch die Kaulbachstraße nach Hause. Gruppen von Leuten begegnen ihm, die Arme hochaufgepackt mit Kleidungsstücken, die anscheinend aus Bekleidungskammern gestohlen wurden.

In den frühen Morgenstunden des 8. November ruft der Arbeiter- und Soldatenrat die Republik Bayern aus. Gleichzeitig trifft das erst 24 Stunden vorher aufgestellte Bataillon Murmann am Münchner Hauptbahnhof ein. Am Nachmittag marschiert es in die Kaserne des II. Infanterie-Regiments. Dort erfährt man, dass die Kaserne des I. Infanterie-Regiments schon gestürmt und geplündert wurde. Um 19 Uhr bittet der Stadtkommandant Generalmajor Friedrich Kunzmann dringend, Oberstleutnant Murmann möge sechs Maschinengewehre mit Mannschaften zum Schutz des Landtagsgebäudes in der Prannerstraße schicken. Murmanns Kompanieführer aber verneinen die Verlässlichkeit der Bedienungsmannschaften. Eine Abstellung unterbleibt.

Um 21 Uhr vergrößern sich die Massen um die Kaserne des II. Infanterie-Regiments. Murmann lässt auf dem Kasernenhof ins Gewehr treten, im Westteil der Kaserne dringen Zivilisten ein und plündern. Immer mehr Soldaten desertieren. In der Nacht lässt Murmann die Reste seiner Truppen Richtung Freising abmarschieren, bezieht um 5 Uhr in Unterföhring ein Notquartier, zieht mit den restlichen 200 Mann am Nachmittag des 9. November weiter und nimmt Quartier in Freising. Inzwischen wurde der bei der Donnersberger Brücke abgestellte Zug des Bataillons geplündert und zerstört.

Murmann schreibt am 28. Januar 1930: „Ein unter solch erschwerenden Umständen gebildetes Bataillon stellt man doch nicht schon in den ersten Tagen seines Bestehens vor die schwierigste Aufgabe für den Soldaten: Kampf gegen die eigenen Volksgenossen. Ein solches Unterfangen musste doch logischerweise zu einem Versager werden und namentlich in jenen Tagen,wo in der Heimat alles Volk nach endlicher Beendigung des Krieges schrie … Durch das unselige Zusammentreffen von Missgriffen und allzu großer Vertrauensseligkeit, durch das Versagen von Truppen und Behörden beim Aufkommen der ersten revolutionären Handlung ist das Bataillon in ein Drama mit hineingerissen worden, das für die Angehörigen dieses Bataillons mit einem wenig ruhmreichen militärischen Abschluss endete, und München kann für sich beanspruchen, mit der sinnlosesten Revolution, die die Welt je erlebt hat, begonnen zu haben.“

Dass die Demokratisierung eine längst überfällige Entwicklung ist, dass überlebte Strukturen mit der Moderne kollidieren und sich nun unter Qualen häuten, sehen die Militärs nicht.

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Das ehemalige Kriegsministerium an der Ecke Ludwig-/Schönfeldstraße

Drohendes Unbill

Am Nachmittag des 8. November tritt der Arbeiter- und Soldatenrat zusammen und wählt die neue Regierung. Am Samstag, den 9. November, sausen neue Gerüchte durch die Stadt Die preußischen Truppen planen die Gegenrevolution, Kronprinz Rupprecht stehe bereit zur Machtübernahme. Lastkraftwagen mit Rotgardisten rattern über das Kopfsteinpflaster, Maschinengewehre werden in der Ludwig- und Maximilianstraße und rund um den Bahnhof aufgestellt.

Erich Mühsam begibt sich ins Amtszimmer des ehemaligen Kriegsministers, nicht zum Sicherheitsausschuss des Arbeiter- und Soldatenrats ins Hofbräuhaus und nicht in den Landtag, wo die Räte tagen. Er weiß, wenn es zur Konterrevolution kommt, dann von Seiten der Armee. Da heißt es, in der Höhle des „bayrischen Löwen“ Posten zu beziehen.

Im Dienstzimmer des Ministers residiert jetzt Kurt Königsberger als neuer Oberkommandierender der bayrischen Armee. Haller, Adjutant des Ministers, betont später: „Am Schreibtisch des Ministers saß ein Jude namens Königsberger.“ Der Raum ist repräsentativ eingerichtet. Dass die Privatgemächer des Herrn von Hellingrath direkt angrenzen, ahnen Mühsam und Königsberger nicht. Wohin die verschlossene Türe führt, zu der sich die Schlüssel nicht finden lassen, interessiert die Revolutionäre nicht.

Haller, nun in Zivil, besucht seinen verflossenen Chef am gleichen Vormittag. Dieser klagt, er habe in der Eile des gestrigen Aufbruchs vergessen, die in einer Schreibtischschublade befindlichen Privatpapiere an sich zu nehmen. Haller bedauert und meint, es wäre doch ganz einfach: Man müsse nur durch die von der ministeriellen Dienstwohnung in dessen Amtszimmer führende Nebentür in das besagte Zimmer gehen und die Papiere holen. Hellingrath ist sich unsicher; die wüsten Gesellen haben den Krieg in sein Büro gebracht. Er ist weiß um die Nase.

Philipp, soll ich mitgehen?“ Die Frau des Generals ist besorgt. „Komm, hier ist der Schlüssel!” Haller schließt auf, öffnet abrupt die Tür, betritt forsch das Amtszimmer, gefolgt vom zögerlichen General und dessen Ehefrau, die vor allem darauf achtet, dass ihrem Manne kein Leid widerfährt.

Mühsam springt erschrocken auf und greift nach einem der Gewehre, die geladen an der Wand stehen: „Wo kommen Sie her? Wer ist die Dame? Was wollen Sie?“ Haller beantwortet die Fragen. Königsberger hinter dem Schreibtisch verweigert die Herausgabe der Privatpapiere und überlegt laut, ob er nicht den Kriegsminister verhaften lassen müsse, da er preußische Truppen gegen München hetzen wollte.

Mühsam und Königsberger sind sich unsicher, wie sie sich verhalten sollen. Sie lassen die drei Eindringlinge unverrichteter Dinge wieder gehen. Die Papiere erhält Haller später durch Vermittlung des im Kriegsministerium tätigen Beamtenstellvertreters Pfaff, der, wie sich Haller am 12. Dezember 1929 erinnert, „an sich anständig war, aber sich der roten Gesellschaft zur Verfügung stellte“.

Königsberger verlässt am Nachmittag sein neues Büro. Mühsam schreibt auf die Rückseite einer in zierlichster Schrift gehaltenen Visitenkarte: „Diese Karte entnahm ich am Sa. Abend, dem 9. November 1918, der Visitenkartenschachtel des letzten bayrischen königlichen Kriegsministers, während ich an seinem Amtsschreibtisch saß und in Vertretung des revolutionären Oberkommandanten der republikanischen Armee, des Kriegsminister Königsberger, die Aufsicht im Kriegsministerium führte. E.M.“

Am Vormittag des 10. November fährt ein mit einer roten Fahne geschmücktes und von vier Rotgardisten bedecktes Automobil von München nach Schloss Wildenwarth. Königsberger und der ehemalige Ministerpräsident von Dandl wollen mit dem geflohenen König über dessen Abdankung verhandeln. Aber Ludwig III. ist schon jenseits der Grenze beim Grafen Moy in dessen Schloss Anif bei Salzburg untergeschlüpft.

Am 11. November wird der Tags zuvor ernannte Stadtkommandant Arnold wieder abberufen; jetzt ist Generalmajor Kunzmann erneut Münchner Stadtkommandant. Als Platzmajor fungiert Major Hans Holländer. Ihr Verwaltungswissen wird wieder benötigt, ihre ordnende Autorität hat den Anfang des Endes zu garantieren. Die Sicherheitslage in der Stadt ist stabil. Der sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Martin Segitz wird am 12. November zum Staatskommissar für Demobilmachung ernannt. Kurt Königsberger meldet sich bei ihm zur Mitarbeit.

Oberstleutnant August Schad nimmt im Juni 1919 eine Hausdurchsuchung in Erich Mühsams Wohnung vor. Er findet auf dem Schreibtisch Papiere, die er eingedenk der historischen Bedeutung des Revolutionärs mit nach Hause nimmt. Erst am 2. August 1929 übergibt er das Konvolut von neun Schriftstücken, darunter die zweckentfremdete Visitenkarte Hellingraths, dem bayrischen Kriegsarchiv.

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Verlautbarung des Oberkommandierenden Königsberger vom 8. November 1918,
Bundesarchiv Berlin, IfGA V 236/7/24ü