Analysen · Berichte · Gespräche · Essays


Stephan Reimertz:

Drei Weise in Wien

In Österreich gibt es keine Generation Golf, dafür aber kommt man mit einem Handicap zur Welt. Es ist die rot-weiß-rote Geburt. Während das deutsche Baby in der Wiege schon an die Rente denkt und sich blau schreit, sinnt der gestreifte Austro-Penat darauf, wie er der österreichischen Erbsünde entrinnen kann. Vierzigtausend Schilling Staatsschulden hängen über seinem Kopf und das Verbot, Adelstitel zu tragen - besonders wenn es echte sind. Bei Zuwiderhandlung sind weitere vierzigtausend Schilling zu erlegen.

Hätte der Donau-Infant seinen Augustinus gelesen, so wüßte er, daß Belohnung und Strafe nicht von seinem Tun und Lassen abhängen, sondern schon vorher durch Gnadenwahl ausgemacht waren. Und so wird man den Österreichern jenen lässigen Fatalismus nachsehen, wie ihn Friedrich Achleitner bedichtet hat:

wann mir wurscht war
was mir wurscht is
war mir ois wurscht

Österreich bietet neben den steuerlichen auch einige zivilisatorische Annehmlichkeiten, die in Bundesdeutschland unbekannt sind. So hat Wien etwa die meisten Frauen pro Einwohner, Berlin nur die meisten Polizisten. Im Ranking der lebenswertesten Städte kam heuer Wien auf Platz zwei, nach Vancouver. Den letzten Platz nahm Sarajewo ein. Berlin kam auf der Liste gar nicht vor. Ich war noch nicht auf dem Berliner Opernball, aber ich nehme an, dort treten sich die Leute absichtlich auf die Füße.

Dennoch bin ich gern bereit, nach Berlin zu ziehen, wenn Sie mir sagen, wo man dort zum Heurigen geht. Das Leben als Autor stelle ich mir in Berlin allerdings etwas schwierig vor. Während ich dies schreibe, stehen in Österreich immerhin 2 (in Worten: zwei) Bücher von Niklas Luhmann (!) auf der Bestsellerliste. Und jetzt schaun Sie sich einmal die deutsche Bestsellerliste an. Der Poet vom Prenzlauer Berg hält mir entgegen, daß er in seiner Stadt täglich authentische Erfahrungen von Zeitgenossenschaft mache, daß er gewissermaßen das Kantsche „Itzt“ umsonst bekommt, während wir noch in einem vergangenen Jahrhundert dümpeln. Ja, der Berliner Dichter macht täglich die wertvolle Erfahrung, von zwei Taxichauffeuren, drei Buschauffeuren, vier Billetteuren in der Tram und fünf Hausbesorgern angeschnauzt zu werden. Er ist in der glücklichen Lage, sich vom Ober im Caféhaus duzen zu lassen, was ihm tiefe demokratische Genugtuung verschafft. Außerdem genießt er das Privileg, bei Rot nicht über die Straßen gehen zu dürfen, will er nicht vom Mob gelyncht werden. Überdies inspiriert ihn die Vorsicht, nicht versehentlich in einer no-go area aus der Berliner U-Bahn auszusteigen und von marodierenden Nazi-Banden zusammengeschlagen zu werden. Den ganzen Tag über sammelt er diese authentischen Erfahrungen von Zeitgenossenschaft. Und abends setzt er sich an den Schreibtisch und schreibt einen flammenden Aufruf gegen den Faschismus in Österreich.

Nun, da die vierzehn zivilisierten Nationen drei Weise aus dem Abendland ins asiatische Österreich schickten, um nach dem Kind zu sehen, das die europäischen Nachbarländer mit dem Bade ausgeschüttet haben, und da diese Weisen nach ihrem Kuraufenthalt empfahlen, das Kuratel zu lüpfen, mithin uns als unbedenklich klassifizierten, möchte ich mich herzlich bedanken, daß ich mich nicht länger als Werwolf fühlen muß.

Heißt es, schon wieder frech werden, wenn ich daran erinnere, daß wir auch unsere eigenen weisen Männer haben? Im folgenden sollen dem Publico des befreundeten Nachbarlandes drei österreichische Weise vorgestellt werden. Nur eins verbindet sie: Alle drei haben gerade ihren 70. Geburtstag gefeiert. Ansonsten sind sie so unterschiedlich, wie man nur sein kann. Denn auch in Österreich gibt es - wie sagt der Deutsche? - sonne und solche.


Der große Kleinkünstler
Otto Schenk, Schauspieler, geb. 1930 in Wien

Wieder einmal ist in Österreich eine Zeit der großen Alten hereingebrochen. Nach dem Maler Arnulf Rainer, dem Theologen Adolf Holl und dem Dichter Friedrich Achleitner feiert der Schauspieler und Regisseur Otto Schenk seinen 70. Geburtstag. Im Juni wurde das Ereignis zuerst im Theater in der Josefstadt begangen, dann im Salzburger Großen Festspielhaus, und schließlich hielt Schenk im „Theater Akzent“ im IV. Wiener Gemeindebezirk noch einmal seine legendäre Lesung „Lächerliches“ ab. Ich war mit meinen 38 Jahren mit Abstand der jüngste Hörer im Saal.

Seit 1955 spielt und inszeniert der geborene Wiener Schenk vor allem am Theater in der Josefstadt. Bis heute ist er mit diesem Haus, das Kaiser Joseph II. gründete, für das Raimund und Nestroy geschrieben und das Max Reinhardt und Otto Preminger geleitet haben, eng verbunden. Der Siebzigjährige verteidigt das in Finanznöte geratene Theater mit den Worten: „... es muß noch ein Bollwerk der Natürlichkeit geben, wo auf der Bühne die Zwischentöne gehandelt werden.“

Die Zwischentöne jedoch sind nicht so sehr Sache des Regisseurs, als vielmehr des Schauspielers und besonders des Rezitators Otto Schenk. Vor allem in der Imitation anderer Bühnenberufe zeigt sich sein mimetisches Talent. Wenn er Ballett-Tänzer nachäfft, die als Opernstatisten eingesetzt sind, wenn er sich über das primadonnenhafte Getue von Sängern wie Dietrich Fischer-Dieskau lustig macht, kann „der Otti“ sich sowohl des Beifalls des einfachen Mannes wie des raffinierten Theaterkenners gewiß sein. „Selbst wenn ich Volkstümelndes spiele, verfalle ich nicht meinem Volk.“

Die Schauspieler des Theaters in der Josefstadt gehören zu den Besten von Europa und brauchen eigentlich keinen Regisseur. Doch dank ihrer österreichischen Toleranz lassen sie hin und wieder einen mitmachen. Derzeit läuft in diesem schönsten Theater von Wien Otto Schenks Inszenierung des „Schwierigen“. Hugo von Hofmannsthal, der für die „wirkliche, brutale Bühne“ schreiben wollte, geht hier schon in der ersten Runde gegen den robusten Theaterpragmatiker Schenk zu Boden. Otto Schenk hat die „Lustige Witwe“ inszeniert, das Ensemble hat den „Schwierigen“ gespielt.

Auch wenn er es sich mit dem „Schwierigen“ allzu leicht gemacht hat: Otto Schenks Genie des Gewöhnlichen ist gelegentlich auch zur Darstellung gebrochener Charaktere fähig. 1982 brachte er bei den Salzburger Festspielen eine vielschichtige Version von Nestroys „Zerrissenem“ mit Helmuth Lohner und Fritz Muliar heraus, fünf Jahre später stand er am selben Ort als depressiver Fortunatus Wurzel in Raimunds „Bauer als Millionär“ auf der Bühne. „Die Nashörner“ inszenierte er 1959 in der Josefstadt, als in Österreich noch niemand Ionesco buchstabieren konnte. Drei Jahre später folgte „Warten auf Godot“, die erste Beckett-Inszenierung in Wien. 1962, lange vor der Berg-Renaissance, hat Schenk in Wien die „Lulu“ herausgebracht und ist in den Jahren darauf zum gesuchten Opernregisseur geworden.

Otto Schenk ist der Hausbesorger des österreichischen Welttheaters. Die dämonischen Qualitäten von Schauspielern wie dem Tiroler Hans Brenner oder dem Bayern Jörg Hube bleiben ihm fremd, ebenso die Schnöselhaftigkeit der deutschen Hausmannskost. Der begeisterte Kochbuchleser, Schlittschuhläufer und Jugendstil-Sammler ist ein Mann voller Gemüt und Charme. Man sieht Otto Schenk seine 70 Jahre wahrhaftig nicht an. Ein Leben voller Bewegung und Esprit hat ihn jung erhalten. „Ich bin von Natur aus faul und zwinge mich zu einem Fleiß, der wie eine Krankheit ist.“ Österreich blickt nach vorn zum Festival der Hundertjährigen.


Der Schwarzmaler Arnulf Rainer, Maler, geb. 1929 in Baden bei Wien

In den letzten Jahren hat sich das Kunstforum im I. Bezirk weit über Österreich hinaus als ein Zentrum der modernen Kunst profilieren können. Mit einer Reihe monografischer Ausstellungen ist es gelungen, in der Wiener Kunstlandschaft Akzente zu setzen. Während im kaiserlichen Marstall am Maria-Theresia-Platz das „Museumsquartier“ zu einer der größten Kunstsammlungen in Europa ausgebaut wird, setzt das Kunstforum auf Wechselausstellungen. Innerhalb eines Jahres konnte man hier Werkübersichten von Kirchner, Beckmann und Cézanne studieren. Jetzt ist Picasso an der Reihe, der sich bei Banken großer Beliebtheit erfreut. Die Arnulf-Rainer-Retrospektive, zu der das Kunstforum einen Tag vor Beginn der Wiener Festwochen seine Tore öffnete, ist nicht nur eine verspätete Geburtstagsfeier für Maler. Hier wird zugleich das Konzept fortgesetzt, Künstler, die jeder zu kennen meint, von einer neuen Seite zu zeigen.

Und wer glaubte nicht, Arnulf Rainer zu kennen? Der expressive Erbe des Surrealismus galt, nachdem er sich bereits mit 22 Jahre vom „phantastischen Realismus“ eines Ernst Fuchs oder Arik Brauer abgewandt hatte, als schöpferischer Zerstörer und Enfant terrible. Von 1953 an erschreckte er den Betrachter, indem er eigene und fremde Gemälde übermalte; keineswegs einfarbig, sondern in differenziert abgemischtem Schwarz oder Rot. Leider verzichtet die Wiener Ausstellung darauf, jeweils die Technik auszuweisen. Dabei sind Rainers Bilder von erheblichem materialen Reiz. Er verwendet Öl und Ölkreide, Graphit, Feder und Mischtechniken auf Leinwand, Papier oder Preßspan.

In den frühen fünfziger Jahren zeigt er sich als Mondrianist und Zeichner in der Kubin-Nachfolge, zugleich aber hat er den Weg zur Übermalung und zur christlichen Ikonographie schon gefunden. Tatsächlich ist ein konservativerer Moderner als Arnulf Rainer kaum vorstellbar. Er nimmt die christliche Ikonographie sehr viel ernster als mancher klassischer Maler, der einen Formenkanon bediente. Nicht die Geste, sondern der Geist der christlichen Kunst spricht aus diesem Werk, ebenso wie das mosaische Gebot „Du sollst dir kein Bildnis machen“.

Die Kirche hat die Bedeutung Rainers sofort begriffen. Der Priester Otto Mauer hat den Künstler in seiner 1955 in Wien gegründeten Galerie St. Stephan durchgesetzt, die bis Ende der sechziger Jahre Österreichs einflußreichste Avatgarde-Galerie bleiben sollte. Schon der frühmittelalterliche Kirchenlehrer Donatus von Besancon hatte eine Art asketischen Klassizismus propagiert und gefordert, daß Bilder „nigrae tantum“ (nur schwarz) sein dürften. Wie in Mondrians großer Abstraktion wird auch bei Rainer die Bilderfeindlichkeit selbst bildnerisch. Beide Maler haben dabei das Tafelbild nie in Frage gestellt.

Wenn Ikonenmalerei im 20. Jahrhundert überhaupt noch möglich ist, so hat Rainer diesen transzendentalen, meditativen Bildtypus mit Hilfe der prustischen Züge der Moderne wiederbelebt. Ihren radikalsten Ausdruck fand seine Verbindung von Figur, Abstraktion und christlicher Ikonographie in den 15 verschieden großen Kreuzen, die der Künstler in den Jahren 1956 und 1957 aus Hartfaserplatten zusammensetzte und mit schwarzer Ölfarbe bemalte.

Hermann Brochs Wort, „... niemandem ist es leicht gemacht, Ebenbild Gottes zu bleiben“, könnte als Motto über den rund 200 Bildern dieser Ausstellung stehen. Ende der sechziger Jahre begann Rainer, Fotos zu übermalen. Aber auch hier verdeckt die schwarze Farbe das Antlitz nicht, sondern sie scheint es erst sichtbar zu machen. Selbst wenn der Künstler Frauenakte mit schwarzen Linien umgibt, zerstört er den Körper nicht, sondern läßt die Aura, die ihn umgibt, aufleuchten. „Erotische Kunst“ gibt es hier nicht. Gerade heute, da sich die Middleclass vollends der Obszönität in die Arme geworfen hat, erscheint die Keuschheit und Strenge von Rainers Kunst in ihrer vollen Bedeutung, ihre Schwärze in strahlendem Licht.


Der Dichter als Architekturkritiker Friedrich Achleitner, geb. 1930 in Schlachen, Oberösterreich

Der Vater von Friedrich Achleitner (der oberösterreichische Name wird auf der zweiten Silbe betont) war Müller, wie die Erzeuger von Rembrandt und Beckmann. Und wie der Vater des letzteren, der zum Mühlenmakler aufstieg, bescherte auch der Ehrgeiz von Achleitner sen. dem Sohn eine Kindheit im gehobenen Bürgertum. Er entwickelte sich zum Mühlenbautechniker, und der junge Friedrich krabbelte über die Konstruktionspläne, die der Vater gezeichnet hatte. Eine Forellenzucht, nebenbei unterhalten, wird bis heute vom Bruder des Künstlers betrieben.

Nach der Matura ging Achleitner nach Wien und studierte bei dem Architekten Clemens Holzmeister, der das ORF-Funkhaus in der Argentinierstraße gebaut hat. Fünf Jahre lang arbeitete er anschließend als freier Architekt und studierte nebenbei Bühnenbild in der Meisterschule von Emil Pirchan. 1959 erschien als Gemeinschaftsarbeit Achleitners mit H.C. Artmann und Gerhard Rühm das Buch hosn rosn baa. Die Autoren entdeckten hier den Dialekt als Quelle für Lyrik und wandten konsequente Kleinschreibung an. Acht Jahre später erschien der Sammelband die wiener gruppe. Neben Achleitner wirkten H. C. Artmann, Gerhard Rühm, Konrad Bayer und Oswald Wiener an diesem bedeutenden Beitrag Österreichs zur Moderne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit.

Der Band war ein Manifest der konkreten Poesie, die inzwischen, wie Achleitner kürzlich in der ORF-Rundfunksendung „Von Tag zu Tag“ bemerkte, „durch die Werbung schamlos ausgenutzt und kaputt gemacht“ wurde. Nicht weniger kritisch war die regelmäßige Kolumne „Bausünden“, die der Autor 1961 auf Vermittlung von Heimito von Doderers Freundin Dorothea Zeemann in der Wiener „Abendzeitung“ veröffentlichte. „Echte scharfe Architekturkritik“ nennt er sie heute. Auch seine Kommentare zum Baugeschehen, die von 1962-1972 in der Tageszeitung „Die Presse“ erschienen, prangerten die Zerstörung alter Bausubstanz an und forderten einen bewußten Umgang mit dem städtebaulichen Erbe.

Seit Adolf Loos hatte es in Österreich keine Architekturkritik von vergleichbarer Prägnanz gegeben. Achleitner wurde bald das „Gewissen der Architektur“ genannt. 1986 erschien der Sammelband „Nieder mit Fischer von Erlach“. Der Titel geht auf Achleitners Protest gegen den Abbruch eines Palais von Fischer zurück und ist zum geflügelten Wort geworden.

Zum 70. Geburtstag des Dichters und Architekturkritikers hat das Architektur Zentrum Wien im Staatsratshof des Museumsquartiers nun eine konzeptionell und optisch ansprechende Ausstellung zu Achleitners wohl ehrgeizigstem Projekt eingerichtet. Seit 35 Jahren arbeitet der Autor an einem „Führer zur Österreichischen Architektur des 20. Jahrhunderts“, der seit 1980 in Einzelbänden erscheint, die zum Teil, wie der Oberösterreich-Führer, schon vergriffen sind. In zwei Jahren soll der dritte Wien-Band das Projekt abschließen.

Achleitners Architekturführer ist ein weltweit einzigartiges Projekt. Das Architektur Zentrum spricht von einem „Ergebnis konsequenter Primärforschung, beruhend auf der Auswertung sämtlicher vorhandener archivalischer Quellen, der persönlichen authentischen Besichtigung aller Bauten und deren sprachlich architekturkritischer Bewertung“. Im Gegensatz zum Architekturführer Dehio, für den Forschungsgruppen ein Gebiet bearbeiten, befaßt sich Achleitners Ein-Mann-Unternehmen ausschließlich mit Bauten des 20. Jahrhunderts. „Meine Arbeit beginnt 1900“, betont der Siebzigjährige. Ihn interessiert „das kulturelle Relief von ganz Österreich, auch das Mittelgebirge“, das oft symptomatischer für einen Zeitstil sei als die Viertausender wie Adolf Loos.

Das Architektur Zentrum will nun die dreißigtausend Objekte digital einspeichern und öffentlich zugänglich machen (http://www.asw.at). Mit vergrößerten Fotos, Bauplänen, Briefen, Zeitungsausschnitten und Notizen Achleitners zu zwei Dutzend Objekten zeigt die Wiener Ausstellung einen kleinen Ausschnitt des berühmtesten Zettelkastens von Österreich.

Stephan Reimertz, geb. 1962, lebt in Wien. Er schreib Essays, Novellen und Künstlerviten. Im Herbst 2000 erschien bei Rowohlt Woody Allen. Eine Biographie, im Frühjahr 2001 erscheint bei Luchterhand der Roman Papiergewicht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de
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