Erinnerungen
   
  Beim Mitteleuropäischen Wirtschaftstag (1931-1936)

Von Davos ging ich im Mai weg und kam in Frankfurt Ende Mai/Anfang Juni 1931 an, genau zu der Zeit, wo der Danat-Krach erfolgte. Da erfolgte erst der Zusammenbruch der Österreichischen Kreditanstalt, der Rothschild Bank, dann kam die Nordwolle, dann kam die Danat Bank. Und mit der Danat Bank setzte nun wirklich eine katastrophale Krisenentwicklung ein, als Deutschland die Auslandzahlung einstellen mußte, die Bedienung der kurzfristigen und langfristigen Auslandskredite. Dann kam das Hoover-Moratorium, um das zu sanktionieren, weil es gar nicht anders ging. Dann kam das Stillstandsabkommen über die kurzfristigen Kredite zum Zuge und die Devisensperre von August an. Von da an beschränkte sich das deutsche Absatzfeld auf die Grenzen des Devisenumlaufs. Ich glaube, es waren tatsächlich die Landesgrenzen. Österreich war davon getrennt, Holland war davon getrennt, die Schweiz war getrennt. Da konnte außerhalb des Devisenbereichs kein freier Handelsverkehr mehr stattfinden.

Ich kam in Deutschland an mit dem letzten Rest meines Abraham-Lincoln-Stipendiums und hatte von da an keinen Pfennig Geld. Ich hatte mir bis dahin noch Hoffnung gemacht auf eine akademische Karriere und war deshalb nach Frankfurt gegangen, um dort mit dem Institut für Sozialforschung in Verbindung zu treten, vor allen Dingen mit Adorno und Horkheimer. Das tat ich, aber es war völlig aussichtslos, da auf irgendeine Anstellung noch zu rechnen. Es wurde alles, was nicht vollkommen unkündbar war, damals an akademischen Stellen gekündigt. Mir blieb überhaupt nichts übrig. Ich wußte nicht, was ich machen soll, mit meiner Frau und Kind. In dieser Situation wandte ich mich an Ernst Poensgen, meinen Pflegevater, der mir immer zugesagt hatte, daß er mir jederzeit helfen würde. Das tat er auch sofort und antwortete mir sehr bereitwillig, er würde alles tun, obwohl es natürlich sehr schwierig wäre. Aber er würde sehen, was sich machen ließe. Dann kam er nach einiger Zeit mit dem Vorschlag, es würde jetzt ein neues Büro gegründet in Berlin, das mit dem Langnamverein, zusammenhinge, eine Dependance oder ein Zweig. Der Langnamverein war in Essen. Damals war das der große Industrieverband, also den Reichsverband der Deutschen Industrie gab es damals auch, aber das war eine viel spätere und viel losere Organisation, in der Kreti und Pleti miteinander zusammenhing, eine Gesamtvertretung der Industrie. Dieser hingegen hieß »Verein zur gemeinsamen Wahrnehmung der wirtschaftlichen und sonstigen Interessen von Rheinland und Westfalen« – ein endloser Titel! Der Verein wurde zu der Zeit gegründet, als Bismarck noch Reichskanzler war. Bismarck nannte ihn einfach den »Verein mit dem langen Namen«, und daher hat sich dieser Name national für diesen Verband erhalten. Er saß in Essen und war die Konzentration der rheinisch-westfälischen Industrie, hauptsächlich Eisen, Stahl und Kohle, aber es kam Elektrizitätswirtschaft und Chemie noch hinzu.

Welchen Charakter diese Neugründung [der Mitteleuropäische Wirtschaftstag] haben sollte, das wurde mir nicht eröffnet von Ernst Poensgen. Aber er versprach mir, dort würden Kräfte gebraucht, und er hätte mich in Vorschlag gebracht usw. Er sollte gegründet werden unter der Geschäftsführung eines der Schüler des Hauptsekretärs, und zwar Max Hahn. Ich begab mich nach Berlin und stellte mich Max Hahn vor, der damals gerade ein Büro gemietet hatte am Schöneberger Ufer 39, an der Bendler Brücke gegenüber dem Haus des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, natürlich in nächster Nähe zur Reichswehr und so fort. Dieses Büro mietete er nicht allein, das war eine sehr große Wohnung mit ich weiß nicht wieviel Zimmer, sondern er teilte sich das von vornherein mit den »Deutschen Führerbriefen«.

Einmal in der Woche, Freitag mittags, trafen wir und im deutsch-französischen Studienkomitee, das auch in der Bendlerstraße seinen Sitz hatte. Ich glaube, wir waren niemals mehr als fünf Leute, die sich da trafen und die alle Zugang hatten zu ganz bestimmten Informationsquellen. Eine andere Art der Information gab es überhaupt nicht als die aus geheimen Quellen, weil alles wichtige sich hinter verschlossenen Türen abspielte. In den offiziellen Kundgaben und in den Zeitungen stand nichts, dem man überhaupt vertrauen konnte. Das Wichtige war nicht einmal andeuteten.

Man verschaffte sich Informationen auf die verschiedensten Weisen. Ich tat das mitunter auf dem Wege, das ich mich mit Leuten zum Mittagessen traf, von denen ich wußte, daß in ihrem Umfeld etwas vor sich ging. Im Reichsverband der Deutschen Industrie hatte ich einen Mann, Freiherrn von Lupin, mit dem ich mich ziemlich regelmäßig traf und der mir vieles erzählte, unglaubliche Sachen übrigens, und mir auch Dokumente zu lesen gab, wenn ich ihn aufsuchte. Der protzte sehr viel mit seiner ungeheuer hochgradigen Informiertheit. Wenn ich ihn aufsuchte, dann reichte er mir über seinen Schreibtisch Dokumente und sagte: »Hier die können sie mal lesen. Ich habe jetzt gerade außerhalb zu tun. Aber bitte: wenn jemand rein kommt, dann legen sie sie so hin, als ob nichts ist.« Der ließ mich dann diese Sachen lesen. Zum Beispiel die Verordnung, die damals zur Beratung stand in der Industrie und in der SS und in der Reichsregierung, über die kriegsrechtliche Ordnung, unter der die Industrie während des Krieges stehen sollte. Nach dem etwa die ganzen Arbeiter unter Kriegsrecht stehen sollten. Das war 1935. Die Bestimmungen gingen ganz bis ins einzelne, mit welcher Überwachung usf. Die Arbeiter wurden also als Festungen betrachtet, vor allen Dingen, diejenigen mit Rüstung Beschäftigten. Und darüber gab er mir damals einen Entwurf, der noch in der Beratung lag, an der er auch teilhatte, und den ich dann weitergab.

Ich weiß, daß es am Freitag war, weil ich mich am Wochenende mit dem Richard Löwenthal traf, der damals eines der beiden führenden Lichter der Neu Beginnen-Gruppe war. Der andere war Eliasberg, der geschnappt und hingerichtet wurde. Der Rix [Richard Löwenthal] entkam dann noch. Er schrieb damals unter dem Pseudonym Paul Sering.

Ich wurde einmal verhaftet 1933, in einer Razzia, ganz unpersönlich. Ich kam in einen Gestapo-Keller. In diesem Gestapokeller waren wir zusammengepfercht: 80 Mann in zwei Räumen, dabei natürlich auch ungezählte Spitzel, die man nicht identifizieren konnte. Ich guckte mich um, und meine Augen lenkten sich also auf drei Arbeiter, die da verhaftet waren, die ungewöhnlich intelligent aussahen. Ich machte mich an sie heran in der Weise, daß ich in ihrer Hörweite mit anderen sprach in einer Weise, daß sie sich über meine Person ein beruhigendes Bild machen konnten, daß ich also kein Spitzel sei, sondern daß man sich mit mir unterhalten könnte. Das hatte den Erfolg, daß sich nach einiger Zeit einer von ihnen tatsächlich an mich wandte und sagte: Ja, ich schiene doch jemand zu sein, der einige Kenntnis hätte. Ob ich ihnen vielleicht helfen könnte. Sie hätten sich nämlich zwei Jahre lang herumgeschlagen mit der Soziologie von Max Weber und der historischen Analyse von China und der Frage, warum der Kapitalismus nicht um 1500 oder 1600 in China ausgebrochen sei statt in England. Ich erklärte mich zwar für die konkrete Beantwortung dieser Frage nicht imstande, aber die anderen beiden kamen auch hinzu. Zwei waren 18 und der andere war 19 Jahre alt. Sie waren in der Gewerkschaftsschule gewesen und hatten ihre Freizeit am Abend verbracht mit derartigen intensiven Studien.

Nun es ist schon sehr, sehr lange her natürlich. Ich erinnere mich nicht mehr genügend an die Worte, die sie gebrauchten, aber diese Begegnung war unwahrscheinlich eindrucksvoll. Die Urteilsfähigkeit dieser Jungen gegenüber dem Material dieser Untersuchungen von Max Weber war ungeheuer imponierend, wie die so direkt auf den Kernpunkt ihrer Frage kamen. Wir haben uns nachher noch über das Römische Recht und die griechische Philosophie unterhalten. Das war wirklich ganz toll. Offenbar war die Motivation ihrer Interessen für sie so, daß, wenn der Marxismus in Bezug auf China im 16. Jahrhundert nicht stimmte, dann würde er auch nicht notwendigerweise im Rußland des 20. Jahrhunderts stimmen. Der Marxismus hier und der Marxismus da, wenn der stimmte, dann stimmt er. Wenn Max Weber da Recht hat mit seine Argumenten, daß die Ideologie daran Schuld war, daß der Kapitalismus in China nicht entstanden ist, dann kann man auch Stalin nicht glauben. Daß diese Jungen offenbar zum Tode verurteilt waren, daß so etwas überhaupt im deutschen Proletariat vorhanden war, daß das nicht isoliert war und daß das alles vor die Hunde ging! Ich habe das im Gestapokeller gefunden, das ist in der Tat verloren gegangen, das ist nicht wieder nachgewachsen, das fehlt heute noch!

Max Hahn kriegte also einen wahnsinnigen Schrecken. Seine Sekretärin erzählte mir nachher, daß er bei der Nachricht über meine Verhaftung alle meine Papiere aus meinem Schreibtisch herausgerissen hatte und alle verbrannte in panischer Angst und Schrecken. Er wußte von meiner politischen Vergangenheit so wenig, daß er befürchten mußte, es würde sich das Schlimmste herausstellen. Das hat keine weiteren Folgerungen gehabt, weil mir die Gestapo eine vollkommene carte blanche ausgestellt hat. Mir war das höchst verwunderlich, daß sie mir die carte blanche ausstellten, obwohl ich in der Kommunistischen Partei gewesen war, nicht offiziell, aber in den Zellen-Versammlungen immer teilgenommen hatte das ganze Jahr 1932 über, ohne offiziell zur Partei zu gehören, weil das unvereinbar gewesen wäre mit meiner Stellung. Aber politisch hatte ich mich da betätigt.

Ich wunderte mich also, daß das die Gestapo davon nichts wissen sollte, aber die hatten das alles auf meinen Bruder abgeladen, weil wir uns so ähnlich sahen, mein Bruder und ich. Er war 1932 bereits nach Holland gegangen. Auf zehn Meter konnten wir nicht unterschieden werden voneinander. Mein Bruder war ungeheuer beliebt in der Berliner Gesellschaft. Er hatte furchtbar viele Freundinnen, war ein großartiger Tänzer und war ungeheuer gesucht. Es kam mehr als einmal vor, daß plötzlich eine entzückende Dame auf mich zu lief, die Arme ausgestreckt usw. und mich umarmen wollte und dann fünf Schritte vor mir vollkommen erstarrte und ganz rot wurde. Aber es kam eben auch vor, daß z.B. Herr von Bülow, er war damals Direktor von Krupp in Berlin, vor einer Sitzung im Mitteleuropäischen Wirtschaftstag auf mich zukam und sagte: »Also ich muß Ihnen doch zu Ihrer Vielseitigkeit gratulieren. Ich habe Sie gestern abend in der Katakombe bewundert.« In der Katakombe war das Kabarett von Fink, wo mein Bruder die Geräusche machte. Mein Bruder war ein Meister der Geräuschimitation und zwar schon von Kindesbeinen auf. Er war auf die Bäume geklettert und hatte die Vögel nachgemacht. Er hatte sich als mit den Hühnern angefreundet und saß auf einer Kuh oben drauf. Er lebte mit den Tieren und den Geräuschen. Er konnte einen ganzen Hühnerhof dirigieren, konnte sie zum Laufen bringen, indem er die Geräusche machte und so. Später hat er davon gelebt, daß er im Tonfilm, der ja dann aufkam, die Geräusche machte. Da ging ein Großwildjäger in den Busch nach Afrika und drehte einen großen Film – Kilometer von Filmmaterial zwei Jahre lang. Als er zurückkam, war der Tonfilm ausgebrochen, und das ganze Material war nutzlos. Da hat mein Bruder Studien im Zoo gemacht und hat den Film synchronisiert. Der ist als Tonfilm gelaufen.

Er war eigentlich Maler, ein sehr, sehr begabter, aber ungeheuer neurotischer, schwierig veranlagter, selbstquälerischer Mensch, unwahrscheinlich differenziert und empfindsam. Ich schätze seine Sachen. Es gibt nur sehr wenige, die überhaupt halbwegs fertig sind, einige davon gehören zu den stärksten künstlerischen Dingen, von denen ich überhaupt weiß – erschütternd, die können einem durch und durch gehen.

Den Typus eines faschistischen Intellektuellen, den gibt es durchaus. Wir hatten einen im Büro, er hieß Erich Müller. Das war ein Deutsch-Völkischer. Der war mit Hahn auch persönlich verbunden. Er beschäftigte ihn zwar nicht im Büro, ich weiß aber nicht genau, mit welchen Funktionen außerhalb. Aber der Erich Müller tauchte sehr, sehr häufig auf. Er stand auch wieder mit Röhm in Verbindung und mit allen möglichen vaterländischen Verbänden, mit denen Hahn es natürlich auch hielt. Die hatten in unseren Räumen regelmäßig Sitzungen, in denen hochgeheime Sachen verhandelt wurden. Das weiß ich, denn es war absolut unmöglich, irgend etwas darüber zu erfahren. Irgendwelches Ausfragen hätte nur Verdacht erregt. Dort ging es direkt um Kriegsvorbereitung, um Aufrüstung, um alle möglichen Dinge, die direkt auf den Krieg hindeuteten, hinwiesen, vorbereiteten. Ich habe mein Möglichstes getan, um da einzudringen, das war unmöglich.

Und da war da noch Edgar Jung, ein Intellektueller der am 30. Juni 1934 erschossen wurde. Der war mit Hahn und mit Erich Müller befreundet. Er kam öfter zu uns. Mit ihm habe ich auch Gelegenheit gehabt zu sprechen. Die hatten eine Art Schützengraben-Ideologie aus dem letzten Kriegsjahr 1918, wo die Materialschlachten stattfanden und die Alliierten schon mit Tanks agierten, und die Deutschen hatten Tanks abgelehnt. Da ging es um die nackte Haut. Da gab es auf der Seite der Deutschen in den Schützengräben keine Klassenunterschiede, wirklich keine. Da stand jeder sozusagen nackt vor dem Tod. Diese Art von Schützengrabensozialismus, der fand Anklang bei Leuten wie Otto Strasser, Friedrich Schaubecker, Ernst Niekisch und anderen, die Intellektuelle auf der Rechten waren, die Hitler z.B. für einen Revisionisten hielten, der sich also ans Kapital verkaufte. Persönlich waren sie romantische Idealisten oder idealistische Romantiker, die dachten, es gäbe so etwas als bürgerlicher Existenz, was sie in diese Materialschlachten der Jahre 1917/18 draußen in den Schützengräben erlebt hatten, eine Klassenlosigkeit. Aber es war eben eine Soldatenexistenz, und die war viel zu wenig ökonomisch gebildet und nach der Seite hin überhaupt interessiert, um zu begreifen, wie vollkommen unrealisierbar ihre ganze romantische Illusion war. Aber solche Leute gab es. Dazu gehörte auch Ernst Jünger, denn in seinem berühmten Buch »Der Arbeiter« zeichnet er im Grunde genommen nicht die Figur eines Arbeiters, sondern die eines Soldaten.