Luxemburgensia
21. Februar
2003
Reine Blut- und
Bodenliteratur?
Überlegungen
zur Literatur in Luxemburg im Anschluss an Romain Hilgerts Artikel Heimatdichtung
als Nazionalliteratur
Robert Thill
Zu
dem Artikel von R. Hilgert (d'Land,
13.12.02) hätte eine sofortige, energische Replik gepasst. Diese
erfolgt umständehalber etwas spät, aber ist immer noch angebracht.
R. Hilgert behauptet, die deutschsprachige Literatur in Luxemburg sei früher
vorwiegend "reaktionär, nationalistisch oder völkisch" gewesen,
sie sei eine zur "Nationalliteratur aufgeblasene Heimatdichtung". Eine
"stockkonservative und antifranzösische Rechte" habe "die Definitionshoheit
über die Luxemburger Literaturgeschichte" genossen, "systematisch
Heimatschriftstellerei zur Nationalliteratur" hochgejubelt. Das ist starker
Tobak! Bei solchen kraftmeierischen Behauptungen verlangt es einen nach
Belegen. Beweise, auf den Tisch, bitte!
Romain
Hilgert zitiert aus einer 1938 erschienenen Literaturgeschichte des Wiener
Germanisten Heinz Kindermann, in der alles, was damals hier im Lande Rang
und Namen in der deutschsprachigen und mundartlichen Literatur hatte, von
dem nazistischen Literaturwissenschaftler für das sich angeblich erneuernde
Deutschtum vereinnahmt wurde.
Mit
der gleichen Methode könnte man aus einem völkisch geprägten
Werk, etwa aus der damals sehr bekannten, ebenfalls 1938 erschienenen Literaturgeschichte
des Deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme
und Landschaften von Josef Nagel Zitate, z.B. über Goethe, Hölderlin,
Kleist... herauspicken, und schon hätte man Teile ihrer Werke ins
nationalistische, völkische Fahrwasser gelotst.
Nikolaus
Welter
Aber,
behauptet R. Hilgert, H. Kindermann betreibe nicht "plumpe nationalsozialistische
Annexionspropaganda", er habe "zum großen Teil bei Nikolaus Welter
abgeschrieben", - gemeint ist wohl: Kindermann habe N. Welters Ansichten
über Luxemburger Schriftsteller aus dessen 1929 erschienenen Dichtung
in Luxemburg übernommen, und N. Welter zeichne darin ein völkisch
getöntes Tableau der Luxemburger Literatur.
Stimmt
das? N. Welter hat in seiner von R. Hilgert kritisierten Literaturgeschichte
nicht einfach völkischen Brei für das Luxemburger Publikum serviert,
der den Nazis dann mundete. Ihm kommt ohne Zweifel das historische Verdienst
zu, als Erster, in einer durchaus differenzierenden Arbeit, den Versuch
unternommen zu haben, einen zusammenhängenden Überblick über
deutsche Literatur und Dialektdichtung in Luxemburg in einem kulturhistorischen
Zusammenhang zu geben. Allerdings - das sei zugegeben - kommt hier keine
forsche linke Gesinnung zum Ausdruck, und N. Welter drückt sich auch
in einer, für heutige Begriffe, etwas altväterlich geschwollen
wirkenden Sprache aus. Aber die Leistung von N. Welter sollte nicht mit
zu vorlauten Behauptungen kleingeredet werden.
Ein
Verdienst von N. Welter bleibt übrigens auch, dass er im Anschluss
an das Schulgesetz von 1912, als das Luxemburgische Pflichtfach in der
Volksschule wurde, ein kleines Bändchen für den Schulgebrauch
erarbeitete: Das Luxemburgische und sein Schrifttum; und er hier
zum ersten Mal einem breiteren Publikum, nämlich Schülern, klarmacht,
dass es so etwas wie Literatur in Luxemburger Sprache überhaupt gibt.
In
einem antifranzösischen Affekt habe N. Welter in seiner Literaturgeschichte
von 1929, meint R. Hilgert, "das französischsprachige Drittel der
Luxemburger Literatur glatt übersehen". Nein, er hat die französische
Literatur in Luxemburg nicht kaltschnäuzig ignoriert; er wollte sich
beschränken. Der Titel seiner Literaturgeschichte lautet nämlich:
Mundartliche und hochdeutsche Dichtung in Luxemburg. Ein Beitrag zur
Geistes- und Kulturgeschichte des Großherzogtums. N. Welter will
der deutschen und Luxemburger Literatur hier im Lande zum ersten Mal zu
einer angemessenen Würdigung verhelfen. Er erhebt keinen Anspruch
auf Vollständigkeit, er will keine Gesamtdarstellung. Deshalb schreibt
er in seiner Einleitung: "Zu (einem) Gesamtgemälde bedürfte es
zum mindesten auch der Darlegung des luxemburgischen Schrifttums in französischer
Sprache sowie der wissenschaftlichen und künstlerischen Bestrebungen
unseres Volkes." Einem Literaturwissenschaftler, der sich etwa mit der
deutschen Literatur in der Schweiz beschäftigt, wirft man ja auch
wohl nicht vor, er habe die französische Literatur dort glatt übersehen.
Auch
von einer antifranzösischen Einstellung ist Nikolaus Welter weit entfernt.
Er hat z.B. im damals angesehenen Kösel Verlag eine in zwei Auflagen
erschienene Geschichte der französischen Literatur veröffentlicht;
über den provenzalischen Dichter Frédéric Mistral hat
er außerdem eine Monographie geschrieben - eine durchaus beachtenswerte
Leistung, die jedenfalls nicht einen engstirnigen provinziellen Geist verrät
Über
den literarischen Rang von N. Welters Werk mag man geteilter Meinung sein.
Er bleibt aber der bisher einzige Luxemburger Schriftsteller - und das
sollte durchaus zu denken geben - von dem ein deutscher Verlag, nämlich
der Westermann-Verlag, nicht in der Nazizeit, sondern 1925 eine Gesamtausgabe
seines Werkes in fünf Bänden herausgab.
Auf
den Begriff "Heimattümelei" ist ganz sicher seine Literatur nicht
zu reduzieren. Nicht umsonst hat unser Centre National de Littérature
sein Theaterstück Lene Frank (1906) neu herausgegeben, das
kein Werk von lammfrommer Denkungsart ist und der Rechtspartei sicherlich
nicht in den Kram passte. Es war ein Tendenzstück, das sich gegen
das von den Lehrerinnen am Beginn des 20. Jahrhunderts verlangte Zölibatsgebot
wandte - Jungfräulichkeit war das Ideal, oder das "Heil" kommt "von
der Mutter", aber dann, bitte, den Beruf aufgeben! Es trat ein gegen das
vom Pfarrer ausgestellte Moralitätszeugnis, das Lehrer und Lehrerinnen,
die sich um eine Stelle bewarben, vorlegen mussten. Das Stück war
gegen den Einfluss der Kirche im Volksschulwesen geschrieben.
Nikolaus
Welter ist weder in seinem wissenschaftlichen Schaffen noch in seiner literarischen
Tätigkeit auf Völkisches einzuengen
Batty
Weber
Neben
N. Welter werden vor allem Batty Weber und Nikolaus Hein erwähnt,
deren Literatur, nach R. Hilgert, im Zweiten Weltkrieg von der unter Nazi-Einfluss
geratenen Gedelit (Gesellschaft für deutsche Literatur und Kunst)
vereinnahmt wurde. Und sie wurde vereinnahmt, weil, wie R. Hilgert behauptet,
sich diese "Literaten vereinnahmen ließen". Ja, hätte der für
Luxemburger Maßstäbe brillante Feuilletonist Batty Weber, der
täglich, über 30 Jahre lang, bis zu seinem Tod im Jahre 1940,
in der Luxemburger Zeitung seinen Abreißkalender verfasste,
sich denn 1935 energisch dagegen wehren müssen, dass die damals noch
nicht vollständig braun eingefärbte Gedelit - zu jener Zeit eher
eine Gegenbewegung zur Alliance Française - eine Feier zu seinem
75. Geburtstag veranstaltete? Wäre er dann als makelloser Held und
Widerstandskämpfer in die Luxemburger Literatur eingegangen und könnten
wir ihm anschließend ruhigen Gewissens das Qualitätssiegel "fortschrittlich"
ausstellen?
Emile
Marx hat mit Recht 1960, anlässlich des 100. Geburtstags, über
Batty Weber geschrieben: Seine Welt "war bescheiden und überschaubar,
aber dafür noch lange nicht bieder und banal".
Und
bieder und banal ist auch nicht Batty Webers Werk, z.B. sein Roman Fenn
Kaß (1913). Bei allen nicht zu übersehenden literarischen
Schwächen hat dieses Werk, bis heute, seinen freiheitlichen Geist
behalten. Es lohnt sich noch immer, diesen einst brisant und subversiv
wirkenden Roman zu lesen, den das Centre National de Littérature
2001 neu herausgab.
Im
Mittelpunkt dieses Entwicklungsromans steht ein junger Mensch, der sich
von der klerikalen frommen Denkungsart und den einengenden Fesseln des
Priesterberufs löst und zum "Freigeist" wird. B. Webers Roman wurde
auch prompt bei seinem Erscheinen im Luxemburger Wort als übles
"Machwerk", als "geistloses Pamphlet", als "doktrinär und ledern"
hingestellt. Batty Weber, ein völkischer Schriftsteller? Na, wie sagt
man da etwas flapsig: da lachen ja die Hühner!
Übrigens,
Marcel Engel stellt in einem Artikel über den wendigen Norbert Jacques
(d'Land, 18.05.79), als Gegenbeispiel zu diesem, N. Welter und B.
Weber als überzeugte Patrioten hin, die "trotz ihrem deutschen Sprachbekenntnis"
in schwierigen Zeiten "eine aufrechte Luxemburger Gesinnung" zeigten.
Nikolaus
Hein
Nachdem
R. Hilgert N. Welter und B.Weber im braunen Sumpf hat versinken lassen,
wird auch Nikolaus Hein der Marsch geblasen. Er hat sich angeblich mit
seiner antimodernen Heimatliteratur kompromettiert. Er hat sich zudem von
der Gedelit 1936 vereinnahmen lassen, als diese, vier Jahre vor der Besetzung
Luxemburgs, eine Feier zu N. Heins 65. Geburtstag veranstaltete. Zudem
soll der Schriftsteller der Moselgegend in der Nazizeit die moralische
Orientierung verloren haben. In der Erzählung Der Verräter,
die vor der deutschen Besatzung abgeschlossen wurde, aber erst 1948 veröffentlicht
wurde, soll N.Hein keinen Unterschied machen zwischen "Resistenz und Kollaboration",
sie einfach gleich stellen, sie "in einen Topf" werfen. Eine groteske,
absurde Interpretation!
Zentralfigur
der Erzählung ist der Dorfbote Matthäus Conter, der in den Wirren
der belgischen Revolution von 1830 hier im Lande, nicht seinen eigentlichen
Interessen folgt, sich nicht wie die meisten Habenichtse des Dorfes dem
belgischen Aufbegehren anschließt, sondern in dumpfem Pflichtbewusstsein
und konservativem Beharren in der Heimat den holländischen Herren
die Treue hält, weil sie nun mal die Herren sind. Er wird deshalb
als Verräter angesehen, muss jenseits der Mosel ins Exil gehen und
kommt tragisch um, als er in sein Grenzlanddorf zurückkehren will.
Die
Lösung für die Gewissenskonflikte von M. Conter wäre ein
freies, unabhängiges Luxemburg gewesen, das den rechtschaffenen Dorfboten
davon entbunden hätte, sich zwischen zwei Möglichkeiten: "Belgien
oder Holland" entscheiden zu müssen. Soweit hatten sich die politischen
Verhältnisse damals noch nicht entwickelt. Später, in der deutschen
Besatzungszeit, war allerdings ein Festklammern an der Heimat kein Verrat
mehr, sondern im Gegenteil: ein opportunistisches Wechseln der Fronten
war schändlich. Deshalb sieht auch Pierre Lech in N. Heins "historischer
Novelle" eher "einen subtilen Fall antifaschistischer Widerstandsliteratur".
(Ré-Création, 1989) Das scheint mir zwar auch etwas
überinterpretiert, - die Erzählung war bereits 1939 abgeschlossen.
Aber N. Hein wollte auf keinen Fall, dass sie in der Nazizeit veröffentlicht
wurde. (cf. J. Groben, in: N.Hein Der Verräter, Lëtzebuerger
Bibliothek 6, 1994, S. 266) Also, dass N. Hein Mitläufertum und Widerstand
auf eine Stufe stellt, ist eine unfaire Behauptung; um nicht zu sagen,
eine perfide Unterstellung.
R.
Hilgert kreidet N. Hein an, dass eine Broschüre der Außenstelle
Luxemburg des Reichspropagandaamtes Moselland "stolz" auf S. 50 Nikolaus
Hein als "Ehrenmitglied" der Gedelit anführt. Ich stelle mir vor:
N. Hein als Deutsch schreibender Autor, der in der Nazizeit seine Feder
nicht vollkommen beiseite legte - er veröffentlichte einen gewiss
nicht kompromettierenden Beitrag für die Viermonatsschrift der
Goethe-Gesellschaft über sein "Lieblingsthema": Goethe in Luxemburg
- blieb in der Gedelit. So mancher Luxemburger war in der Nazizeit in der
Hitlerjugend, in der VDB, spendete fürs Winterhilfswerk ... Alles
Kollaborateure?
Herumstochern
in der Vergangenheit eines Autors führt nicht unbedingt zu treffenden
Schlüssen über den literarischen Rang seines Werkes.
Emile
Boeres
Auch
"luxemburgische Theaterliteratur" hat sich, nach R. Hilgert, von den Nazis
vereinnahmen lassen. Emil Boeres' Operette Wann d'Blieder falen
sei noch am Vortag der Landung der Alliierten, am 23. Januar 1944, in Luxemburg
aufgeführt worden (!!). Und auch die Namen der mitwirkenden Schauspieler
werden, wohl um sie zu denunzieren und an den Pranger zu stellen, erwähnt:
A. Donven, K. Schilling, L. Mayer. Sie alle spielten im Luxemburger Theaterbetrieb
nach dem Krieg eine wichtige Rolle.
Nun
scheinen aber die Deutschen von der Operette Wann d'Blieder falen
gar nicht so begeistert gewesen zu sein. In einem Bericht des Sicherheitsdienstes
vom 19.11.40, veröffentlicht in der letzten Ausgabe von Ons Stad
(Nr. 71, 2002) , heißt es u.a.: "Der Text ist so stark mit französischen
Wörtern und Ausdrücken durchsetzt, dass er für deutsch empfindende
Zuhörer eine direkte Herausforderung darstellt. Dieser Umstand wirkt
schädigend auf die vom CdZ (= Chef der Zivilverwaltung) eingeleitete
Sprachenpolitik, da die deutschfeindlichen Luxemburger jetzt geltend machen
können, die Außenstelle des Reichspropagandaamtes in Luxemburg
habe die aus dem Französischen übernommenen Wörter, durch
ihre Zulassung auf der Bühne, als Eigengut der luxemburgischen Mundart
anerkannt." Und über die Rezensionen in der Luxemburger Presse wird
berichtet: Die "Auszüge aus Beurteilungen der luxemburgischen Presse
beweisen eindeutig, wie von Luxemburger Seite, unter Duldung der amtlichen
deutschen Stellen, das Gefühl in der Luxemburger Bevölkerung
wach gehalten wird, als sei die Luxemburger Mundart die Muttersprache des
Luxemburgers und das Hochdeutsche eine von Erobern aufgezwungene Fremdsprache."
Wie
soll man denn nun die Theateraufführungen in Luxemburger Sprache in
der Nazizeit interpretieren? Waren sie im Sinne der deutschen Besatzer,
wurden sie von ihnen vereinnahmt? Handelte es sich um geschickten Widerstand,
weil Lëtzebuergesch auf der Bühne gesprochen wurde, - Bücher
auf Luxemburgisch waren nämlich verboten? Oder war es banale Unterhaltung
in schwerer Zeit? "Et wuar alles nët esou einfach", war der Titel
einer Ausstellung über den Zweiten Weltkrieg im Stater Geschichtsmusée.
Und
so einfach ist es auch nicht, ein gerechtes, differenziertes Tableau der
Luxemburger Literatur zu entwerfen. Jedenfalls ist es unangebracht, von
hoher Warte aus zu sondern: die gute französische Literatur, die nach
R. Hilgert vielleicht etwas "abgehoben", aber doch anspruchsvoller ist,
kommt ins Töpfchen; die deutschsprachige Dichtung dagegen ins Kröpfchen;
sie wird zur reaktionären Heimatliteratur degradiert, unter der Rubrik
"Nazi(onal)literatur" eingeordnet, die für das unbedarfte "Kleinbürgertum"
in Luxemburg gedacht ist.
Avantgarde
in Luxemburg - Le Cénacle des Extrêmes
Fortschrittliche
Literatur in Luxemburg wurde, nach R. Hilgert, angeblich unterdrückt.
Eine "stockkonservative und antifranzösische Rechte tat ihr Möglichstes,
um die Erinnerung an Autoren der Avantgarde oder der Linken auszulöschen".
Er beruft sich dabei auf N. Welter, auf die Seiten 309-310 seiner Literaturgeschichte,
und auf Gast Mannes, der "in den eben erschienenen Regards/ mises en
scène dans le surréalisme et les avant-gardes (Peeters,
Leuven 2002) sich als einer der ersten dieser Autoren annimmt".
Was
steht nun bei N. Welter? Dieser weist darauf hin, dass nach dem Ersten
Weltkrieg einige Luxemburger "Stürmer" sich dem "Aktivismus" eines
Franz Pfemfert, der sich in der berühmten expressionistischen Zeitschrift
Die Aktion äußerte, verpflichtet fühlten, dass sie
"in die Stickluft (des) Krähwinkels" hineinfuhren. Dabei war es ihnen,
nach N. Welter, aber weniger "um gute deutsche Prosa oder Verse zu tun"
als "um die Verblüffung der braven Spießer und ihrer Töchter".
Was
steht bei G. Mannes? Für ein Gemeinschaftswerk von Literaturwissenschaftlern
aus sechs Ländern, das sich mit der Avantgarde und dem Surrealismus
beschäftigt, hat G. Mannes einen brillanten Beitrag geschrieben, mit
dem Titel: Du futurisme à l'expressionisme. L'avant-garde littéraire
au Grand-Duché de Luxembourg entre 1917 et 1919 (p. 21-44).
Er setzt sich mit dem Cénacle des Extrêmes auseinander,
der aus der linksgerichteten Studentenorganisation Assoss hervorging und
seine literarischen Beiträge in deren Organ La Voix des Jeunes
veröffentlichte. Hauptvertreter dieser jungen Wilden war Pol Michels,
der seine Beiträge auch in mehreren expressionistischen Zeitschriften
(wie in Die Aktion) und Sammlungen unterbrachte.
Wichtigstes
Dokument im Beitrag von G. Mannes ist das Manifest des Cercle
des extrêmes, gemeinsam verfasst von Pol Michels und Augustus
(= Gust) Van Werveke, (Voix des Jeunes 1-1917). Es hat typische
expressionistische Merkmale: es hat einen schreiartigen, pathetischen Charakter,
weist viele Interjektionen auf. Wir! lautet der Titel. Der Schluss
ist: "Liebe der Liebe, Haß des Haßes, Völkerfrühling,
Morgenröte! Es lebe Europa!" Es ist getragen vom typischen "O Mensch"-Pathos
und der Verbrüderungsgeste dieser Literaturrichtung ("durchbohrt von
den reinigenden Gluten der Menschheitsliebe, treten wir ein für alle
Stämme, alle Völker, alle Länder").
Kein
präzises politisches Programm wird formuliert ("wir rütteln an
den morschen Grundpfeilern der Gesellschaft"), es äußert sich
nur ein radikales revolutionäres Aufbegehren: wir sind "geschürt
von den hellzüngelnden Flammen des wahren Sozialismus". Pathetisch,
voller religiöser Inbrunst heißt es: "viele knieen ergriffen,
wenn wir die Internationale beten". Literarisches aus den deutschen expressionistischen
Zeitschriften wird bei G. Mannes nicht behandelt und veröffentlicht.
Unterdrückten
nun klerikale Dunkelmänner diese "fortschrittliche", "moderne" Literatur,
wie uns R. Hilgert suggerieren will? Frantz Clement - kein Klerikaler,
kein Rechter, kein Reaktionär - versuchte besänftigend auf die
jungen "Extremisten" einzuwirken. In der Voix des Jeunes schrieb
er: "Wir, die heute zwischen dreißig und vierzig stehen, haben nicht
auf die jüngste Jugend gewartet, um zu erkennen, daß es in der
Wortkunst vor allem auf eine Bewältigung des gesamten Lebens unserer
Zeit ankommt. Sie (= die Mitglieder vom Cénacle des Extrêmes)
lesen wohl nur die Aktion. Lesen Sie einmal alle Zeitschriften unserer
Generation und Sie werden finden, daß wir schon seit zehn Jahren
für das kämpfen, was Sie als junges Evangelium verkünden."
(cf. G. Mannes, S.37)
Die
Beiträge der jugendlichen Stürmer und Dränger sind nach
F. Clement eher Ausdruck einer Gesinnung als echte Literatur. Er meint:
"Sie haben Enthusiasmus für gute, für hochtrabende Werte, für
die geistige, ethische und soziale Internationale, für die Emanzipation
der vom Leben Mißhandelten." Und er fordert sie auf: "Verlieren Sie
diesen Enthusiasmus nicht, aber lassen Sie die Dichter damit in Ruhe."
(cf. G. Mannes, S.38)
Ist
F. Clements Urteil so grundverschieden von dem N. Welters? Nein, nur F.
Clement sieht in der jugendlichen Revoluzzerattitüde den Ausdruck
einer edelen Gesinnung, N. Welter dagegen eher eine bloße Provokation.
Romain
Hilgert hat B. Weber, N. Hein .... vorgeworfen, sie hätten sich von
der Gedelit vereinnahmen, sich von ihr feiern lassen, sie hätten braun
angehauchte Heimatliteratur produziert.
Pol
Michels
Was
geschah mit Pol Michels, dem wichtigsten Vertreter des Cénacle?
Er, der Aufmüpfige, ging nach Paris, schrieb surrealistische Gedichte,
verfasste später aber nur noch Literatur ohne Biss: brav Biederes.
1940 veröffentlichte er Lötzeburger Leidd a Sachen, reine
Folklore. Eine Geschichte in dieser Sammlung trägt den bezeichnenden
Titel: Geschichtercher vu göschter a virgöschter. Ließ
er sich nicht von den braunen Machthabern vereinnahmen?
Er,
der ursprünglich Radikale, der Freund des bedeutenden Lyrikers, des
elsässischen Pazifisten Yvan Goll, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg,
1946, wegen Deutschfreundlichkeit verurteilt, später begnadigt.
Der
'Cénacle des extrêmes', insbesondere Pol Michels, war radikal
gewesen, fühlte sich einst radikalen modernen literarischen Richtungen
wie dem Futurismus, dem Expressionismus ... verbunden. Vor allem aber zeigten
seine Vertreter eine Attitüde des ungezügelten Aufbegehrens,
des radikalen Protestes. In einer hemmungslosen Diatribe in der Voix des
Jeunes (November 1917) überstürzten sich die heftigsten Ausfälle
gegen die Verhältnisse in Luxemburg, wurden die wildesten Schimpfwörter
gegen seine Literatur ausgestoßen: "Großspießburg, Waschlappen-Fliederreimlerei,
Goldnemittelwegsfußgänger, Provinzlerhartnäckigkeit, urteilsunfähiges
Publikum." (cf. G. Mannes, S.35) Postpubertäres Gehabe, Ausdruck einer
linken, fortschrittlichen Gesinnung, moderne Literatur? Oder war Pol Michels
wegen seiner späteren Entwicklung doch letztendlich rückwärtsgewandt;
sein Aufbegehren nur ein kurzes Strohfeuer? So einfach, wie R. Hilgert
es sich macht, lässt sich Literatur nicht in Schubladen einteilen:
es gibt nicht die modernen Schriftsteller auf der einen Seite, die altmodischen
auf der anderen Seite. Hie Fortschritt, dort Reaktion!
Norbert
Jacques
Das
Aufbegehren gegen den Krähwinkel, den Provinzmief war typisch für
manche Luxemburger Literaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Und nicht nur für sie: Auch deutsche und französische Schriftsteller
und Künstler blieben nicht in Wanne-Eickel oder der "France profonde",
sondern suchten sich die Welt um die Ohren zu schlagen, gingen nach Berlin
oder München, nach Paris... In Luxemburg war der "kurioseste aller
Durchbrenner" (Frantz Clement) Alexander Weicker, der nach München
aufbrach, dort seinen expressionistischen Geniestreich Fetzen im
Georg Müller Verlag veröffentlichte (1921), der Geliebte von
Marie-Luise Fleisser, der sehr viel später - nicht zuletzt dank R.W.Fassbinder
- wiederentdeckten Schriftstellerin, wurde. Dann fuhr er nach Paris, anschließend
in viele Länder, und galt für längere Zeit als verschollen.
Schon
vorher, am Beginn des Jahrhunderts, schien manchen Literaten die Athmosphäre
in Luxemburg einengend, die Verhältnisse borniert, spießbürgerlich.
So waren bereits vor den Mitgliedern des Cercle des extrêmes
Schriftsteller wie Marcel Noppeney, Norbert Jacques ... zu neuen Ufern
aufgebrochen. Der hundert Prozent frankophile Marcel Noppeney und der hundert
Prozent germanophile Norbert Jacques waren einst - man kanns kaum glauben
- eng miteinander befreundet Norbert Jacques hat damals sogar, nach Marcel
Engel (cf. d'Land, 18.5.79), seinem Freund Marcel Noppeney zwei
Novellen unter dem Titel Aus dem Tonbuche der Seelen (1901) gewidmet.
Beide warfen, entsetzt über die kulturelle Öde in Luxemburg,
ihrem Heimatland den Fehdehandschuh hin und zogen ins Ausland: Marcel Noppeney
nach Paris, Norbert Jacques nach Bonn.
Ihre
Wege trennten sich, ihre Entwicklung verlief grundverschieden. M. Noppeney,
der Französisch schreibende Schriftsteller,"dem westlichen Denken
verschworen", wurde, wie M. Engel schreibt, "ein Luxemburger Patriot in
höchster Potenz". N. Jacques dagegen machte Karriere als Schriftsteller
in Deutschland. In einem autobiographisch ausgerichteten Roman, Der
Hafen (1910), der 1928 auch bei Reclam veröffentlicht wurde, übt
er beißende Kritik an Luxemburg. Am Ende dieses Entwicklungsromans,
fühlt der Held, nach manchen Abenteuern in der Ferne, sich "zum erstenmal
als Teil eines Ganzen", findet er seinen "Hafen" im Deutschtum. Am Schluss
heißt es - der Held ist auf einem Ozeandampfer, vor der Küste
Brasiliens -: "in der deutschen Ferne" leuchtet der "Hafen einer neuen
Heimat auf." Völkischer Spuk, schon sehr früh bei N. Jacques?
Noch
einmal fiel dieser über die spießbürgerliche Gesellschaft
in Luxemburg her. In der Limmburger Flöte (1929, Neuausgabe
im Verlag Werner J.Röhrig, 1985), einem nicht salonfähigen Roman,
zeichnet er einen Vielfraß, einen Dickwanst, einen Helden "à
la Rabelais", einen Luxemburger Pantagruel, der zu einer Art kulturellem
Mittelpunkt der Bourgeoisie in der Hauptstadt wird. Diese wird auf groteske
Art und Weise auf die Schippe genommen. Der Untertitel des lästerlichen
Werkes lautet: "Bericht über Pierre Nocké, den berühmten
Musikus aus Limmburg, der auf einer Flöte blasen konnte, die er sich
nicht erst zu kaufen brauchte." Was war seine Flöte?
P.
Nocké gibt seine Winde so genüsslich, so kunstvoll von sich,
dass er schließlich mit ihnen sogar die Nationalhymne hervorbringt.
Die Jungtürken der Assosswaren begeistert von der Flöte,
veröffentlichten 1923 Auszüge in der Voix des Jeunes.
Pol Michels setzte sich leidenschaftlich für Norbert Jacques ein.
Diesmal war es nicht F. Clement, der besänftigend wirken wollte, sondern
Batty Weber, dem das Theater, der Aufwand um N. Jacques zu weit ging, und
der in der Luxemburger Zeitung von "Entgleisung" sprach.
Norbert
Jacques, nur ein Provokateur, ein Nestbeschmutzer?
Das
wohl bekannteste Werk von Norbert Jacques ist Dr Mabuse, das Fritz
Lang als Vorlage zu seinem berühmten zweiteiligen Film Dr Mabuse,
der Spieler , 1922, diente. In einer treffenden Analyse des deutschen
Films vor Hitler, in: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte
des deutschen Films (cf. Materialien zur Theorie des Films,
München 1971), stellt Siegfried Krakauer den wahnsinnigen Verbrecher
Mabuse, dieses "mastermind of crime", als Vorwegnahme Hitlers und des nationalsozialistischen
Wahnsinns hin, das unbedingt hätte als Warnung dienen müssen.
S. Krakauer schreibt: "Deutschland ... verwirklichte, was in seinem Film
von Anfang an vorausgenommen war, ... die Leinwandgestalten (nahmen) Gestalt
im wirklichen Leben an." Günter Scholdt, der große Norbert-Jacques-Spezialist,
sieht auch in der Romanvorlage "eine literarische Antizipation des künftigen
'Führers'." Er bescheinigt Norbert Jacques "diagnostische Überzeugungskraft",
vergleicht dessen Art des Schreibens mit Heinrich Mann und Carl Sternheim.
"Es handelt sich um das gleiche Verfahren, das Heinrich Mann etwa im 'Professor
Unrat' oder Carl Sternheim in 'Die Hose' zur Darstellung der Wilhelminischen
Ära praktizierten, wobei übrigens auch das Maß an Identifikation
vergleichbar wäre." (S.367, in N. Jacques: 'Dr Mabuse, der Spieler',
mit einem Essay von G. Scholdt, Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins)
Also,
äußerst kritische Akzente in Dr Mabuse; N. Jacques etwa
ein linker, fortschrittlicher Autor?
R.
Hilgert hat N. Welter, B.Weber vorgeworfen, sie hätten sich von der
Gedelit vereinnahmen lassen, die vor dem Krieg, vor der Besatzung Luxemburgs
Feiern zu ihren Ehren veranstaltet hätte, die "zu den größten
Veranstaltungen in der Geschichte der Gedelit" zählten.
Und
Norbert Jacques? Er wude zum Nazi-Barden, nachdem man zuest noch seine
Limmburger Flöte in Leipzig verbrannt hatte. Auf Einladung
der Gedelit unternahm er, nach der Besetzung Luxemburgs, drei Vortragstourneen
durch unser Land, die ihn in 17 Ortschaften führten, wo er seine "Heim-ins-Reich"-Parolen
verbreitete. Nach dem Krieg verbrachte er vier Monate im Luxemburger Staatsgefängnis,
wurde dann ausgewiesen. (cf. Kontakte-Kontexte, Deutsch-luxemburgische
Literaturbegegnungen, Austellung im CNL, 1999)
Et
wor alles nët esou einfach
Der
liberale Luxemburger Verleger Tony Jungblut bemühte sich nach dem
Krieg um den Geächteten, suchte ihm zu helfen. Marcel Engel, in dem
schon erwähnten Artikel im d'Lëtzebuerger Land (1979),
will dem Verfemten, mit grandseigneurhafter Gelassenheit, "die Chance einer
Wiederauferstehung" gewähren. Luxemburger Literaten spielen - übrigens
damals wie heute - in der ersten Literatur-Liga kaum mit. Doch - wie Marcel
Engel schreibt: "Die literarischen Werte der Mittelklasse mangeln, sowohl
im deutschen als auch im französischen Bereich." Und dort hat Norbert
Jacques durchaus seinen Platz - wie auch N. Welter, B. Weber, N. Hein...
Deutschsprachige
Literatur in Luxemburg flachzubügeln, sie auf heimattümelnde
Dichtung einzuengen, nur ein paar junge Wilde anzuerkennen, die angeblich
von einer reaktionären Rechten unterdrückt wurden, ist falsch,
ist grotesk. ...et wor alles nët esou einfach war, wie bereits
erwähnt, der Titel der Ausstellung über die Geschichte Luxemburgs
im Zweiten Weltkrieg. Das gilt auch für die deutschsprachige Literatur
in Luxemburg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
|
|