Luxemburgensia

21. Februar 2003

Reine Blut- und Bodenliteratur?

Überlegungen zur Literatur in Luxemburg im Anschluss an Romain Hilgerts Artikel Heimatdichtung als Nazionalliteratur
 

Robert Thill

Zu dem Artikel von R. Hilgert (d'Land, 13.12.02) hätte eine sofortige, energische Replik gepasst. Diese erfolgt umständehalber etwas spät, aber ist immer noch angebracht. R. Hilgert behauptet, die deutschsprachige Literatur in Luxemburg sei früher vorwiegend "reaktionär, nationalistisch oder völkisch" gewesen, sie sei eine zur "Nationalliteratur aufgeblasene Heimatdichtung". Eine "stockkonservative und antifranzösische Rechte" habe "die Definitionshoheit über die Luxemburger Literaturgeschichte" genossen, "systematisch Heimatschriftstellerei zur Nationalliteratur" hochgejubelt. Das ist starker Tobak! Bei solchen kraftmeierischen Behauptungen verlangt es einen nach Belegen. Beweise, auf den Tisch, bitte!
Romain Hilgert zitiert aus einer 1938 erschienenen Literaturgeschichte des Wiener Germanisten Heinz Kindermann, in der alles, was damals hier im Lande Rang und Namen in der deutschsprachigen und mundartlichen Literatur hatte, von dem nazistischen Literaturwissenschaftler für das sich angeblich erneuernde Deutschtum vereinnahmt wurde.
Mit der gleichen Methode könnte man aus einem völkisch geprägten Werk, etwa aus der damals sehr bekannten, ebenfalls 1938 erschienenen Literaturgeschichte des Deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften von Josef Nagel Zitate, z.B. über Goethe, Hölderlin, Kleist... herauspicken, und schon hätte man Teile ihrer Werke ins nationalistische, völkische Fahrwasser gelotst.

Nikolaus Welter

Aber, behauptet R. Hilgert, H. Kindermann betreibe nicht "plumpe nationalsozialistische Annexionspropaganda", er habe "zum großen Teil bei Nikolaus Welter abgeschrieben", - gemeint ist wohl: Kindermann habe N. Welters Ansichten über Luxemburger Schriftsteller aus dessen 1929 erschienenen Dichtung in Luxemburg übernommen, und N. Welter zeichne darin ein völkisch getöntes Tableau der Luxemburger Literatur.
Stimmt das? N. Welter hat in seiner von R. Hilgert kritisierten Literaturgeschichte nicht einfach völkischen Brei für das Luxemburger Publikum serviert, der den Nazis dann mundete. Ihm kommt ohne Zweifel das historische Verdienst zu, als Erster, in einer durchaus differenzierenden Arbeit, den Versuch unternommen zu haben, einen zusammenhängenden Überblick über deutsche Literatur und Dialektdichtung in Luxemburg in einem kulturhistorischen Zusammenhang zu geben. Allerdings - das sei zugegeben - kommt hier keine forsche linke Gesinnung zum Ausdruck, und N. Welter drückt sich auch in einer, für heutige Begriffe, etwas altväterlich geschwollen wirkenden Sprache aus. Aber die Leistung von N. Welter sollte nicht mit zu vorlauten Behauptungen kleingeredet werden.
Ein Verdienst von N. Welter bleibt übrigens auch, dass er im Anschluss an das Schulgesetz von 1912, als das Luxemburgische Pflichtfach in der Volksschule wurde, ein kleines Bändchen für den Schulgebrauch erarbeitete: Das Luxemburgische und sein Schrifttum; und er hier zum ersten Mal einem breiteren Publikum, nämlich Schülern, klarmacht, dass es so etwas wie Literatur in Luxemburger Sprache überhaupt gibt.
In einem antifranzösischen Affekt habe N. Welter in seiner Literaturgeschichte von 1929, meint R. Hilgert, "das französischsprachige Drittel der Luxemburger Literatur glatt übersehen". Nein, er hat die französische Literatur in Luxemburg nicht kaltschnäuzig ignoriert; er wollte sich beschränken. Der Titel seiner Literaturgeschichte lautet nämlich: Mundartliche und hochdeutsche Dichtung in Luxemburg. Ein Beitrag zur Geistes- und Kulturgeschichte des Großherzogtums. N. Welter will der deutschen und Luxemburger Literatur hier im Lande zum ersten Mal zu einer angemessenen Würdigung verhelfen. Er erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, er will keine Gesamtdarstellung. Deshalb schreibt er in seiner Einleitung: "Zu (einem) Gesamtgemälde bedürfte es zum mindesten auch der Darlegung des luxemburgischen Schrifttums in französischer Sprache sowie der wissenschaftlichen und künstlerischen Bestrebungen unseres Volkes." Einem Literaturwissenschaftler, der sich etwa mit der deutschen Literatur in der Schweiz beschäftigt, wirft man ja auch wohl nicht vor, er habe die französische Literatur dort glatt übersehen.
Auch von einer antifranzösischen Einstellung ist Nikolaus Welter weit entfernt. Er hat z.B. im damals angesehenen Kösel Verlag eine in zwei Auflagen erschienene Geschichte der französischen Literatur veröffentlicht; über den provenzalischen Dichter Frédéric Mistral hat er außerdem eine Monographie geschrieben - eine durchaus beachtenswerte Leistung, die jedenfalls nicht einen engstirnigen provinziellen Geist verrät
Über den literarischen Rang von N. Welters Werk mag man geteilter Meinung sein. Er bleibt aber der bisher einzige Luxemburger Schriftsteller - und das sollte durchaus zu denken geben - von dem ein deutscher Verlag, nämlich der Westermann-Verlag, nicht in der Nazizeit, sondern 1925 eine Gesamtausgabe seines Werkes in fünf Bänden herausgab.
Auf den Begriff "Heimattümelei" ist ganz sicher seine Literatur nicht zu reduzieren. Nicht umsonst hat unser Centre National de Littérature sein Theaterstück Lene Frank (1906) neu herausgegeben, das kein Werk von lammfrommer Denkungsart ist und der Rechtspartei sicherlich nicht in den Kram passte. Es war ein Tendenzstück, das sich gegen das von den Lehrerinnen am Beginn des 20. Jahrhunderts verlangte Zölibatsgebot wandte - Jungfräulichkeit war das Ideal, oder das "Heil" kommt "von der Mutter", aber dann, bitte, den Beruf aufgeben! Es trat ein gegen das vom Pfarrer ausgestellte Moralitätszeugnis, das Lehrer und Lehrerinnen, die sich um eine Stelle bewarben, vorlegen mussten. Das Stück war gegen den Einfluss der Kirche im Volksschulwesen geschrieben. 
Nikolaus Welter ist weder in seinem wissenschaftlichen Schaffen noch in seiner literarischen Tätigkeit auf Völkisches einzuengen

Batty Weber

Neben N. Welter werden vor allem Batty Weber und Nikolaus Hein erwähnt, deren Literatur, nach R. Hilgert, im Zweiten Weltkrieg von der unter Nazi-Einfluss geratenen Gedelit (Gesellschaft für deutsche Literatur und Kunst) vereinnahmt wurde. Und sie wurde vereinnahmt, weil, wie R. Hilgert behauptet, sich diese "Literaten vereinnahmen ließen". Ja, hätte der für Luxemburger Maßstäbe brillante Feuilletonist Batty Weber, der täglich, über 30 Jahre lang, bis zu seinem Tod im Jahre 1940, in der Luxemburger Zeitung seinen Abreißkalender verfasste, sich denn 1935 energisch dagegen wehren müssen, dass die damals noch nicht vollständig braun eingefärbte Gedelit - zu jener Zeit eher eine Gegenbewegung zur Alliance Française - eine Feier zu seinem 75. Geburtstag veranstaltete? Wäre er dann als makelloser Held und Widerstandskämpfer in die Luxemburger Literatur eingegangen und könnten wir ihm anschließend ruhigen Gewissens das Qualitätssiegel "fortschrittlich" ausstellen?
Emile Marx hat mit Recht 1960, anlässlich des 100. Geburtstags, über Batty Weber geschrieben: Seine Welt "war bescheiden und überschaubar, aber dafür noch lange nicht bieder und banal".
Und bieder und banal ist auch nicht Batty Webers Werk, z.B. sein Roman Fenn Kaß (1913). Bei allen nicht zu übersehenden literarischen Schwächen hat dieses Werk, bis heute, seinen freiheitlichen Geist behalten. Es lohnt sich noch immer, diesen einst brisant und subversiv wirkenden Roman zu lesen, den das Centre National de Littérature 2001 neu herausgab.
Im Mittelpunkt dieses Entwicklungsromans steht ein junger Mensch, der sich von der klerikalen frommen Denkungsart und den einengenden Fesseln des Priesterberufs löst und zum "Freigeist" wird. B. Webers Roman wurde auch prompt bei seinem Erscheinen im Luxemburger Wort als übles "Machwerk", als "geistloses Pamphlet", als "doktrinär und ledern" hingestellt. Batty Weber, ein völkischer Schriftsteller? Na, wie sagt man da etwas flapsig: da lachen ja die Hühner!
Übrigens, Marcel Engel stellt in einem Artikel über den wendigen Norbert Jacques (d'Land, 18.05.79), als Gegenbeispiel zu diesem, N. Welter und B. Weber als überzeugte Patrioten hin, die "trotz ihrem deutschen Sprachbekenntnis" in schwierigen Zeiten "eine aufrechte Luxemburger Gesinnung" zeigten.

Nikolaus Hein

Nachdem R. Hilgert N. Welter und B.Weber im braunen Sumpf hat versinken lassen, wird auch Nikolaus Hein der Marsch geblasen. Er hat sich angeblich mit seiner antimodernen Heimatliteratur kompromettiert. Er hat sich zudem von der Gedelit 1936 vereinnahmen lassen, als diese, vier Jahre vor der Besetzung Luxemburgs, eine Feier zu N. Heins 65. Geburtstag veranstaltete. Zudem soll der Schriftsteller der Moselgegend in der Nazizeit die moralische Orientierung verloren haben. In der Erzählung Der Verräter, die vor der deutschen Besatzung abgeschlossen wurde, aber erst 1948 veröffentlicht wurde, soll N.Hein keinen Unterschied machen zwischen "Resistenz und Kollaboration", sie einfach gleich stellen, sie "in einen Topf" werfen. Eine groteske, absurde Interpretation!
Zentralfigur der Erzählung ist der Dorfbote Matthäus Conter, der in den Wirren der belgischen Revolution von 1830 hier im Lande, nicht seinen eigentlichen Interessen folgt, sich nicht wie die meisten Habenichtse des Dorfes dem belgischen Aufbegehren anschließt, sondern in dumpfem Pflichtbewusstsein und konservativem Beharren in der Heimat den holländischen Herren die Treue hält, weil sie nun mal die Herren sind. Er wird deshalb als Verräter angesehen, muss jenseits der Mosel ins Exil gehen und kommt tragisch um, als er in sein Grenzlanddorf zurückkehren will. 
Die Lösung für die Gewissenskonflikte von M. Conter wäre ein freies, unabhängiges Luxemburg gewesen, das den rechtschaffenen Dorfboten davon entbunden hätte, sich zwischen zwei Möglichkeiten: "Belgien oder Holland" entscheiden zu müssen. Soweit hatten sich die politischen Verhältnisse damals noch nicht entwickelt. Später, in der deutschen Besatzungszeit, war allerdings ein Festklammern an der Heimat kein Verrat mehr, sondern im Gegenteil: ein opportunistisches Wechseln der Fronten war schändlich. Deshalb sieht auch Pierre Lech in N. Heins "historischer Novelle" eher "einen subtilen Fall antifaschistischer Widerstandsliteratur". (Ré-Création, 1989) Das scheint mir zwar auch etwas überinterpretiert, - die Erzählung war bereits 1939 abgeschlossen. Aber N. Hein wollte auf keinen Fall, dass sie in der Nazizeit veröffentlicht wurde. (cf. J. Groben, in: N.Hein Der Verräter, Lëtzebuerger Bibliothek 6, 1994, S. 266) Also, dass N. Hein Mitläufertum und Widerstand auf eine Stufe stellt, ist eine unfaire Behauptung; um nicht zu sagen, eine perfide Unterstellung.
R. Hilgert kreidet N. Hein an, dass eine Broschüre der Außenstelle Luxemburg des Reichspropagandaamtes Moselland "stolz" auf S. 50 Nikolaus Hein als "Ehrenmitglied" der Gedelit anführt. Ich stelle mir vor: N. Hein als Deutsch schreibender Autor, der in der Nazizeit seine Feder nicht vollkommen beiseite legte - er veröffentlichte einen gewiss nicht kompromettierenden Beitrag für die Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft über sein "Lieblingsthema": Goethe in Luxemburg - blieb in der Gedelit. So mancher Luxemburger war in der Nazizeit in der Hitlerjugend, in der VDB, spendete fürs Winterhilfswerk ... Alles Kollaborateure?
Herumstochern in der Vergangenheit eines Autors führt nicht unbedingt zu treffenden Schlüssen über den literarischen Rang seines Werkes.

Emile Boeres

Auch "luxemburgische Theaterliteratur" hat sich, nach R. Hilgert, von den Nazis vereinnahmen lassen. Emil Boeres' Operette Wann d'Blieder falen sei noch am Vortag der Landung der Alliierten, am 23. Januar 1944, in Luxemburg aufgeführt worden (!!). Und auch die Namen der mitwirkenden Schauspieler werden, wohl um sie zu denunzieren und an den Pranger zu stellen, erwähnt: A. Donven, K. Schilling, L. Mayer. Sie alle spielten im Luxemburger Theaterbetrieb nach dem Krieg eine wichtige Rolle.
Nun scheinen aber die Deutschen von der Operette Wann d'Blieder falen gar nicht so begeistert gewesen zu sein. In einem Bericht des Sicherheitsdienstes vom 19.11.40, veröffentlicht in der letzten Ausgabe von Ons Stad (Nr. 71, 2002) , heißt es u.a.: "Der Text ist so stark mit französischen Wörtern und Ausdrücken durchsetzt, dass er für deutsch empfindende Zuhörer eine direkte Herausforderung darstellt. Dieser Umstand wirkt schädigend auf die vom CdZ (= Chef der Zivilverwaltung) eingeleitete Sprachenpolitik, da die deutschfeindlichen Luxemburger jetzt geltend machen können, die Außenstelle des Reichspropagandaamtes in Luxemburg habe die aus dem Französischen übernommenen Wörter, durch ihre Zulassung auf der Bühne, als Eigengut der luxemburgischen Mundart anerkannt." Und über die Rezensionen in der Luxemburger Presse wird berichtet: Die "Auszüge aus Beurteilungen der luxemburgischen Presse beweisen eindeutig, wie von Luxemburger Seite, unter Duldung der amtlichen deutschen Stellen, das Gefühl in der Luxemburger Bevölkerung wach gehalten wird, als sei die Luxemburger Mundart die Muttersprache des Luxemburgers und das Hochdeutsche eine von Erobern aufgezwungene Fremdsprache." 
Wie soll man denn nun die Theateraufführungen in Luxemburger Sprache in der Nazizeit interpretieren? Waren sie im Sinne der deutschen Besatzer, wurden sie von ihnen vereinnahmt? Handelte es sich um geschickten Widerstand, weil Lëtzebuergesch auf der Bühne gesprochen wurde, - Bücher auf Luxemburgisch waren nämlich verboten? Oder war es banale Unterhaltung in schwerer Zeit? "Et wuar alles nët esou einfach", war der Titel einer Ausstellung über den Zweiten Weltkrieg im Stater Geschichtsmusée. 
Und so einfach ist es auch nicht, ein gerechtes, differenziertes Tableau der Luxemburger Literatur zu entwerfen. Jedenfalls ist es unangebracht, von hoher Warte aus zu sondern: die gute französische Literatur, die nach R. Hilgert vielleicht etwas "abgehoben", aber doch anspruchsvoller ist, kommt ins Töpfchen; die deutschsprachige Dichtung dagegen ins Kröpfchen; sie wird zur reaktionären Heimatliteratur degradiert, unter der Rubrik "Nazi(onal)literatur" eingeordnet, die für das unbedarfte "Kleinbürgertum" in Luxemburg gedacht ist.

Avantgarde in Luxemburg - Le Cénacle des Extrêmes

Fortschrittliche Literatur in Luxemburg wurde, nach R. Hilgert, angeblich unterdrückt. Eine "stockkonservative und antifranzösische Rechte tat ihr Möglichstes, um die Erinnerung an Autoren der Avantgarde oder der Linken auszulöschen". Er beruft sich dabei auf N. Welter, auf die Seiten 309-310 seiner Literaturgeschichte, und auf Gast Mannes, der "in den eben erschienenen Regards/ mises en scène dans le surréalisme et les avant-gardes (Peeters, Leuven 2002) sich als einer der ersten dieser Autoren annimmt". 
Was steht nun bei N. Welter? Dieser weist darauf hin, dass nach dem Ersten Weltkrieg einige Luxemburger "Stürmer" sich dem "Aktivismus" eines Franz Pfemfert, der sich in der berühmten expressionistischen Zeitschrift Die Aktion äußerte, verpflichtet fühlten, dass sie "in die Stickluft (des) Krähwinkels" hineinfuhren. Dabei war es ihnen, nach N. Welter, aber weniger "um gute deutsche Prosa oder Verse zu tun" als "um die Verblüffung der braven Spießer und ihrer Töchter". 
Was steht bei G. Mannes? Für ein Gemeinschaftswerk von Literaturwissenschaftlern aus sechs Ländern, das sich mit der Avantgarde und dem Surrealismus beschäftigt, hat G. Mannes einen brillanten Beitrag geschrieben, mit dem Titel: Du futurisme à l'expressionisme. L'avant-garde littéraire au Grand-Duché de Luxembourg entre 1917 et 1919 (p. 21-44). Er setzt sich mit dem Cénacle des Extrêmes auseinander, der aus der linksgerichteten Studentenorganisation Assoss hervorging und seine literarischen Beiträge in deren Organ La Voix des Jeunes veröffentlichte. Hauptvertreter dieser jungen Wilden war Pol Michels, der seine Beiträge auch in mehreren expressionistischen Zeitschriften (wie in Die Aktion) und Sammlungen unterbrachte.
Wichtigstes Dokument im Beitrag von G. Mannes ist das Manifest des Cercle des extrêmes, gemeinsam verfasst von Pol Michels und Augustus (= Gust) Van Werveke, (Voix des Jeunes 1-1917). Es hat typische expressionistische Merkmale: es hat einen schreiartigen, pathetischen Charakter, weist viele Interjektionen auf. Wir! lautet der Titel. Der Schluss ist: "Liebe der Liebe, Haß des Haßes, Völkerfrühling, Morgenröte! Es lebe Europa!" Es ist getragen vom typischen "O Mensch"-Pathos und der Verbrüderungsgeste dieser Literaturrichtung ("durchbohrt von den reinigenden Gluten der Menschheitsliebe, treten wir ein für alle Stämme, alle Völker, alle Länder").
Kein präzises politisches Programm wird formuliert ("wir rütteln an den morschen Grundpfeilern der Gesellschaft"), es äußert sich nur ein radikales revolutionäres Aufbegehren: wir sind "geschürt von den hellzüngelnden Flammen des wahren Sozialismus". Pathetisch, voller religiöser Inbrunst heißt es: "viele knieen ergriffen, wenn wir die Internationale beten". Literarisches aus den deutschen expressionistischen Zeitschriften wird bei G. Mannes nicht behandelt und veröffentlicht.
Unterdrückten nun klerikale Dunkelmänner diese "fortschrittliche", "moderne" Literatur, wie uns R. Hilgert suggerieren will? Frantz Clement - kein Klerikaler, kein Rechter, kein Reaktionär - versuchte besänftigend auf die jungen "Extremisten" einzuwirken. In der Voix des Jeunes schrieb er: "Wir, die heute zwischen dreißig und vierzig stehen, haben nicht auf die jüngste Jugend gewartet, um zu erkennen, daß es in der Wortkunst vor allem auf eine Bewältigung des gesamten Lebens unserer Zeit ankommt. Sie (= die Mitglieder vom Cénacle des Extrêmes) lesen wohl nur die Aktion. Lesen Sie einmal alle Zeitschriften unserer Generation und Sie werden finden, daß wir schon seit zehn Jahren für das kämpfen, was Sie als junges Evangelium verkünden." (cf. G. Mannes, S.37) 
Die Beiträge der jugendlichen Stürmer und Dränger sind nach F. Clement eher Ausdruck einer Gesinnung als echte Literatur. Er meint: "Sie haben Enthusiasmus für gute, für hochtrabende Werte, für die geistige, ethische und soziale Internationale, für die Emanzipation der vom Leben Mißhandelten." Und er fordert sie auf: "Verlieren Sie diesen Enthusiasmus nicht, aber lassen Sie die Dichter damit in Ruhe." (cf. G. Mannes, S.38)
Ist F. Clements Urteil so grundverschieden von dem N. Welters? Nein, nur F. Clement sieht in der jugendlichen Revoluzzerattitüde den Ausdruck einer edelen Gesinnung, N. Welter dagegen eher eine bloße Provokation. 
Romain Hilgert hat B. Weber, N. Hein .... vorgeworfen, sie hätten sich von der Gedelit vereinnahmen, sich von ihr feiern lassen, sie hätten braun angehauchte Heimatliteratur produziert.

Pol Michels

Was geschah mit Pol Michels, dem wichtigsten Vertreter des Cénacle? Er, der Aufmüpfige, ging nach Paris, schrieb surrealistische Gedichte, verfasste später aber nur noch Literatur ohne Biss: brav Biederes. 1940 veröffentlichte er Lötzeburger Leidd a Sachen, reine Folklore. Eine Geschichte in dieser Sammlung trägt den bezeichnenden Titel: Geschichtercher vu göschter a virgöschter. Ließ er sich nicht von den braunen Machthabern vereinnahmen?
Er, der ursprünglich Radikale, der Freund des bedeutenden Lyrikers, des elsässischen Pazifisten Yvan Goll, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg, 1946, wegen Deutschfreundlichkeit verurteilt, später begnadigt.
Der 'Cénacle des extrêmes', insbesondere Pol Michels, war radikal gewesen, fühlte sich einst radikalen modernen literarischen Richtungen wie dem Futurismus, dem Expressionismus ... verbunden. Vor allem aber zeigten seine Vertreter eine Attitüde des ungezügelten Aufbegehrens, des radikalen Protestes. In einer hemmungslosen Diatribe in der Voix des Jeunes (November 1917) überstürzten sich die heftigsten Ausfälle gegen die Verhältnisse in Luxemburg, wurden die wildesten Schimpfwörter gegen seine Literatur ausgestoßen: "Großspießburg, Waschlappen-Fliederreimlerei, Goldnemittelwegsfußgänger, Provinzlerhartnäckigkeit, urteilsunfähiges Publikum." (cf. G. Mannes, S.35) Postpubertäres Gehabe, Ausdruck einer linken, fortschrittlichen Gesinnung, moderne Literatur? Oder war Pol Michels wegen seiner späteren Entwicklung doch letztendlich rückwärtsgewandt; sein Aufbegehren nur ein kurzes Strohfeuer? So einfach, wie R. Hilgert es sich macht, lässt sich Literatur nicht in Schubladen einteilen: es gibt nicht die modernen Schriftsteller auf der einen Seite, die altmodischen auf der anderen Seite. Hie Fortschritt, dort Reaktion!

Norbert Jacques

Das Aufbegehren gegen den Krähwinkel, den Provinzmief war typisch für manche Luxemburger Literaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und nicht nur für sie: Auch deutsche und französische Schriftsteller und Künstler blieben nicht in Wanne-Eickel oder der "France profonde", sondern suchten sich die Welt um die Ohren zu schlagen, gingen nach Berlin oder München, nach Paris... In Luxemburg war der "kurioseste aller Durchbrenner" (Frantz Clement) Alexander Weicker, der nach München aufbrach, dort seinen expressionistischen Geniestreich Fetzen im Georg Müller Verlag veröffentlichte (1921), der Geliebte von Marie-Luise Fleisser, der sehr viel später - nicht zuletzt dank R.W.Fassbinder - wiederentdeckten Schriftstellerin, wurde. Dann fuhr er nach Paris, anschließend in viele Länder, und galt für längere Zeit als verschollen. 
Schon vorher, am Beginn des Jahrhunderts, schien manchen Literaten die Athmosphäre in Luxemburg einengend, die Verhältnisse borniert, spießbürgerlich. So waren bereits vor den Mitgliedern des Cercle des extrêmes Schriftsteller wie Marcel Noppeney, Norbert Jacques ... zu neuen Ufern aufgebrochen. Der hundert Prozent frankophile Marcel Noppeney und der hundert Prozent germanophile Norbert Jacques waren einst - man kanns kaum glauben - eng miteinander befreundet Norbert Jacques hat damals sogar, nach Marcel Engel (cf. d'Land, 18.5.79), seinem Freund Marcel Noppeney zwei Novellen unter dem Titel Aus dem Tonbuche der Seelen (1901) gewidmet. Beide warfen, entsetzt über die kulturelle Öde in Luxemburg, ihrem Heimatland den Fehdehandschuh hin und zogen ins Ausland: Marcel Noppeney nach Paris, Norbert Jacques nach Bonn.
Ihre Wege trennten sich, ihre Entwicklung verlief grundverschieden. M. Noppeney, der Französisch schreibende Schriftsteller,"dem westlichen Denken verschworen", wurde, wie M. Engel schreibt, "ein Luxemburger Patriot in höchster Potenz". N. Jacques dagegen machte Karriere als Schriftsteller in Deutschland. In einem autobiographisch ausgerichteten Roman, Der Hafen (1910), der 1928 auch bei Reclam veröffentlicht wurde, übt er beißende Kritik an Luxemburg. Am Ende dieses Entwicklungsromans, fühlt der Held, nach manchen Abenteuern in der Ferne, sich "zum erstenmal als Teil eines Ganzen", findet er seinen "Hafen" im Deutschtum. Am Schluss heißt es - der Held ist auf einem Ozeandampfer, vor der Küste Brasiliens -: "in der deutschen Ferne" leuchtet der "Hafen einer neuen Heimat auf." Völkischer Spuk, schon sehr früh bei N. Jacques?
Noch einmal fiel dieser über die spießbürgerliche Gesellschaft in Luxemburg her. In der Limmburger Flöte (1929, Neuausgabe im Verlag Werner J.Röhrig, 1985), einem nicht salonfähigen Roman, zeichnet er einen Vielfraß, einen Dickwanst, einen Helden "à la Rabelais", einen Luxemburger Pantagruel, der zu einer Art kulturellem Mittelpunkt der Bourgeoisie in der Hauptstadt wird. Diese wird auf groteske Art und Weise auf die Schippe genommen. Der Untertitel des lästerlichen Werkes lautet: "Bericht über Pierre Nocké, den berühmten Musikus aus Limmburg, der auf einer Flöte blasen konnte, die er sich nicht erst zu kaufen brauchte." Was war seine Flöte?
P. Nocké gibt seine Winde so genüsslich, so kunstvoll von sich, dass er schließlich mit ihnen sogar die Nationalhymne hervorbringt. Die Jungtürken der Assosswaren begeistert von der Flöte, veröffentlichten 1923 Auszüge in der Voix des Jeunes. Pol Michels setzte sich leidenschaftlich für Norbert Jacques ein. Diesmal war es nicht F. Clement, der besänftigend wirken wollte, sondern Batty Weber, dem das Theater, der Aufwand um N. Jacques zu weit ging, und der in der Luxemburger Zeitung von "Entgleisung" sprach.
Norbert Jacques, nur ein Provokateur, ein Nestbeschmutzer?
Das wohl bekannteste Werk von Norbert Jacques ist Dr Mabuse, das Fritz Lang als Vorlage zu seinem berühmten zweiteiligen Film Dr Mabuse, der Spieler , 1922, diente. In einer treffenden Analyse des deutschen Films vor Hitler, in: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films (cf. Materialien zur Theorie des Films, München 1971), stellt Siegfried Krakauer den wahnsinnigen Verbrecher Mabuse, dieses "mastermind of crime", als Vorwegnahme Hitlers und des nationalsozialistischen Wahnsinns hin, das unbedingt hätte als Warnung dienen müssen. S. Krakauer schreibt: "Deutschland ... verwirklichte, was in seinem Film von Anfang an vorausgenommen war, ... die Leinwandgestalten (nahmen) Gestalt im wirklichen Leben an." Günter Scholdt, der große Norbert-Jacques-Spezialist, sieht auch in der Romanvorlage "eine literarische Antizipation des künftigen 'Führers'." Er bescheinigt Norbert Jacques "diagnostische Überzeugungskraft", vergleicht dessen Art des Schreibens mit Heinrich Mann und Carl Sternheim. "Es handelt sich um das gleiche Verfahren, das Heinrich Mann etwa im 'Professor Unrat' oder Carl Sternheim in 'Die Hose' zur Darstellung der Wilhelminischen Ära praktizierten, wobei übrigens auch das Maß an Identifikation vergleichbar wäre." (S.367, in N. Jacques: 'Dr Mabuse, der Spieler', mit einem Essay von G. Scholdt, Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins)
Also, äußerst kritische Akzente in Dr Mabuse; N. Jacques etwa ein linker, fortschrittlicher Autor?
R. Hilgert hat N. Welter, B.Weber vorgeworfen, sie hätten sich von der Gedelit vereinnahmen lassen, die vor dem Krieg, vor der Besatzung Luxemburgs Feiern zu ihren Ehren veranstaltet hätte, die "zu den größten Veranstaltungen in der Geschichte der Gedelit" zählten.
Und Norbert Jacques? Er wude zum Nazi-Barden, nachdem man zuest noch seine Limmburger Flöte in Leipzig verbrannt hatte. Auf Einladung der Gedelit unternahm er, nach der Besetzung Luxemburgs, drei Vortragstourneen durch unser Land, die ihn in 17 Ortschaften führten, wo er seine "Heim-ins-Reich"-Parolen verbreitete. Nach dem Krieg verbrachte er vier Monate im Luxemburger Staatsgefängnis, wurde dann ausgewiesen. (cf. Kontakte-Kontexte, Deutsch-luxemburgische Literaturbegegnungen, Austellung im CNL, 1999)

Et wor alles nët esou einfach

Der liberale Luxemburger Verleger Tony Jungblut bemühte sich nach dem Krieg um den Geächteten, suchte ihm zu helfen. Marcel Engel, in dem schon erwähnten Artikel im d'Lëtzebuerger Land (1979), will dem Verfemten, mit grandseigneurhafter Gelassenheit, "die Chance einer Wiederauferstehung" gewähren. Luxemburger Literaten spielen - übrigens damals wie heute - in der ersten Literatur-Liga kaum mit. Doch - wie Marcel Engel schreibt: "Die literarischen Werte der Mittelklasse mangeln, sowohl im deutschen als auch im französischen Bereich." Und dort hat Norbert Jacques durchaus seinen Platz - wie auch N. Welter, B. Weber, N. Hein...
Deutschsprachige Literatur in Luxemburg flachzubügeln, sie auf heimattümelnde Dichtung einzuengen, nur ein paar junge Wilde anzuerkennen, die angeblich von einer reaktionären Rechten unterdrückt wurden, ist falsch, ist grotesk. ...et wor alles nët esou einfach war, wie bereits erwähnt, der Titel der Ausstellung über die Geschichte Luxemburgs im Zweiten Weltkrieg. Das gilt auch für die deutschsprachige Literatur in Luxemburg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.