Marianne
Gronemeyer
Konsumismus und Bedürfnisse
"Als Rudi Giuliani
nach den Anschlägen auf das World Trade Center die New Yorker
dazu aufrief, die Stadt zu unterstützen, da lautete die Anweisung
nicht etwa, mit anzupacken oder in dieser schwierigen Phase das Geld
zusammenzuhalten, sondern im Gegenteil: "Shop New York".
Shopping wurde zur patriotischen Geste, zum identitätsstiftenden
Ritual, zum wohltätigen Akt der Nächstenliebe. Und wandelte
sich damit vom luxuriösen Freizeitspaß zur Verpflichtung,
der sich zu entziehen letztendlich gleichbedeutend wäre mit dem
Ausscheiden aus der Gesellschaft." So ein Kommentar in der Frankfurter
Rundschau. Noch erstaunlicher als dieser Appell an die Solidargemeinschaft,
in schwerer Stunde nun gerade mit Saus und Braus zu reagieren, ist
die Tatsache, daß der Aufruf so gut wie kein öffentlich
vernehmbares Erstaunen oder gar Empörung ausgelöst hat.
Und er war ja nicht als frivole Einladung zum Tanz auf dem Vulkan
gedacht, sondern ging von einem Bürgermeister aus, der sich in
der dramatischen Lage seiner Stadt große Verdienste erwarb durch
seine Besonnenheit, seine unermüdliche anteilnehmende Präsenz,
die Umsichtigkeit und Angemessenheit seiner ordnenden Entscheidungen.
Wie ist es möglich,
daß diese Handlungsmaxime, die eine Zumutung für den normal
arbeitenden Verstand sein müßte, allen so einleuchtend
erschien, so plausibel, so augenfällig richtig?
Nun, wir sind sehr gewohnt,
unter Konsumpflicht zu stehen, auch wenn die Mächtigen
unter den Bedingungen der Alltäglichkeit, sich schlau hüten,
von Pflicht oder gar Zwang zum Konsum zu reden. Im Gegenteil: dem
Konsumenten ist Freiheit versprochen, Wahlfreiheit, die unübersehbare
Fülle der Möglichkeiten, auf die er Zugriff hat. Daß
dieser ansonsten gut verdunkelte Tatbestand, nämlich daß
das Kaufen eine herbe Untertanenpflicht ist, ausgeplaudert wurde,
ist der dramatischen Besonderheit der Situation geschuldet.
Um dem Wesen des Konsumismus
auf die Spur zu kommen, müssen wir das Wesen moderner Macht genauer
in Augenschein nehmen. Zum Beispiel müssen wir die Macht nicht
nur in ihrer besitzergreifenden Maßlosigkeit, sondern auch und
vor allem in ihrer diagnostischen Aufdringlichkeit ins Auge fassen.
Mächtig sind nicht nur jene 220 Reichsten der Welt, die sich
den halben Globus unter den Nagel gerissen haben, mächtig sind
vor allem auch die Experten, die sich anmaßen, darüber
zu befinden, was in einer Gesellschaft und über sie hinaus im
Weltmaßstab als normal angesehen werden muß, was also
Standard ist, wie man heute sagt, oder doch zumindest Mindeststandard:
Bildungsstandard zum Beispiel, Ge-sundheitsstandard, Lebensstandard,
Sicherheitsstandard, Bequemlichkeitsstandard. Unter dem prüfenden
Blick dieser schonungslosen Expertendiagnose wird alles, was hinter
dem verordneten Standard zurückbleibt, für entwicklungsbedürftig
erklärt. Wer über kein Spülklosett verfügt, ist
entwicklungsbedürftig, wer seine Kochwärme nicht aus der
Steckdose bezieht, ebenso. Wer etwa glaubt, daß man ohne die
Schule gebildet sein kann, ohne Versicherung im Kreis von Freunden
sich hinreichend sicher fühlen kann, ohne High-Tech-Medizin leidlich
gesund, wer glaubt, daß man ohne das Automobil mobil, ohne Coca
Cola durstgestillt sein kann und ohne den Sterbeberater bereit sein
zu sterben, der ist überfällig für Bekehrung - und,
wo die nicht fruchtet -, für den unnachgiebigen Zwang zum Konsumismus,
jener neuen Glaubensrichtung, von der der Schriftsteller und Filmregisseur
Pier Paolo Pasolini schon in den siebziger Jahren sagte, daß
sie der neue Faschismus sei, der den alten Faschismus weit in den
Schatten stelle. Der Konsumismus, die neue Form der Gleichschaltung,
unter der alle kulturellen Differenzen lautlos verschwinden. Welteinheitskultur,
die Perversion der Gleichheitsforderung. Pasolini scheut sich nicht
diesen gigantischen Vereinheitlichungsfeldzug 'Völkermord' zu
nennen. Und wer das etwa übertrieben finden möchte, der
möge sich daran erinnern, daß unlängst ein Top-Manager
des Weltkonzerns Nestlé ungeniert und mit pausbäckiger
Richtigkeitsgewißheit die Menschen in zwei Klassen einteilte,
in 'Konsumenten und Müll'.
Die moderne Macht ist
absolut unduldsam gegenüber jeder Lebensäußerung und
jeder Lebensform, die sich nicht dem Konsum von industriell produzierten
Waren und und warenförmigen Dienstleistungen verdankt.
- Ehe nicht einer ein
Konsument und ein Mehrfachklient geworden ist, angewiesen auf die
Zufuhr der Versorgungsindustrie, angewiesen auf Serviceleistungen
der Dienstleistungsindustrie, kann er nicht als hinreichend loyal
gelten.
- Ehe nicht der letzte Erdenbürger zum belieferungsbedürftigen
Mängelwesen wurde, zum Drug-addict, zum Junky, der nach den Drogen
der Versorgungsindustrie japst und jammert und mit jedem Schuß
abhängiger wird, hilfloser, unfähiger, sich selbst zu erhalten;
- ehe nicht die Abhängigkeit total ist;
- ehe nicht die Kunde von dem, was als normal zu gelten hat, in den
letzten Winkel gedrungen ist;
- ehe nicht jeder glaubt, daß sein Mensch-Sein, seine Humanitas,
seine Vollständigkeit als menschliches Wesen auf Gedeih und Verderb
an den Daseinszutaten, die von der Industrie - Waren- wie Dienstleistungsindustrie
- ausgespuckt werden, hängt;
- ehe sich nicht die Überzeugung durchgesetzt hat, daß
der Apparat, der Maschinenkoloss alles menschliche Tun in den Schatten
stellt;
- ehe nicht der letzte Bauer, die letzte Bäuerin sich als Nahrungsmittelproduzenten
verstehen und der letzte Heiler Alternativmediziner geworden ist und
sich als Untercharge der modernen Medizin begreift;
- ehe nicht der letzte Weise sich dem Bildungswesen als professioneller
Pädagoge subordiniert hat;
- ehe nicht jeder Mann und jede Frau begriffen hat, daß wir
unsere Häuser nicht mehr selber bauen müssen, unsere Nahrung
nicht mehr anbauen, unsere Kinder nicht mehr erziehen müssen,
uns um unseren kranken Nachbarn nicht mehr kümmern müssen,
daß wir uns nicht mehr bewegen müssen, weil wir so komfotabel
bewegt werden, daß wir nichts mehr lernen müssen außer
der Bedienung des Computers, daß wir nicht einmal mehr ein Gewissen
ausbilden müssen, weil das Gerät, das uns lenkt und steuert
und sichert und vorgibt, unser Leben von der Mühsal zu befreien,
so fabelhaft gewissenhaft ist, daß wir es nicht mehr sein müssen;
- ehe all dies nicht machtvoll durchgesetzt ist, kann die moderne
Macht ihrer Mächtigkeit nicht sicher sein.
Verstehen wir es richtig:
Der Konsumismus ist totalitär. Niemand darf ihm entkommen. Verrückterweise
nicht einmal die Habenichtse der Welt, die hoffnungslos abgehängt
sind von der Möglichkeit, als Konsumenten ihr Auskommen zu finden,
die niemals als zahlungskräftige Käufer das Geschäft
beleben werden. Auch sie sollen sich am Standard messen, sollen in
die Konkurrenz um die Weltofferten hineingezwungen werden, Lebensmühe
darauf verwenden, sich Millimeter um Millimeter ächzend vorzuarbeiten
in die schöne neue Konsumentenwelt, in der der Gelderwerb absoluten
Vorrang genießt vor dem Broterwerb. George Steiner nennt diesen
Zustand mangels eines dafür schon existierenden Begriffs den
Faschismus des Profits, in dem "Herr Berlusconi übernimmt,
was vom italienischen Geistesleben noch übrig ist,... wo der
Massenmarkt eine viel stärkere Kontrolle ausübt, als die
Zensur je hatte." (SZ 17.5.2003)
Alle müssen bedürftig
werden. Warum das? Nun, nur wer bedürftig ist, ist beherrschbar.
Moderne Macht, Machtgebaren, das auf der Höhe der Zeit ist, ist
nicht tyrannisch oder diktatorisch. Es fuchtelt nicht mit Gewalt herum.
Moderne Macht ist elegant, von souveräner Unauffälligkeit.
Sie wandert in die Bedürfnisse ein, so daß die Unterworfenen
wollen, was sie sollen, ihre Unterworfenheit leugnend, befangen im
Freiheitswahn.
In den reichen Ländern
ist das Projekt des Konsumismus abgeschlossen. Hier hat die moderne
Macht ausgesorgt. Die Bewohner der reichen Weltareale sind zu 100
Prozent Konsumenten, in nahezu jeder Lebensverrichtung auf Versorgungspakete
angewiesen, bedürftig bis auf die Knochen. In den armen Ländern
steht die Vollendung des Projektes noch aus, wiewohl auch hier der
Glaube an den Konsumismus sich epidemisch ausgebreitet hat. Nur
steht wegen erwiesener Aussichtslosigkeit die Glaubenspraxis hinter
der Glaubensüberzeugung noch zurück.
Daß dem Coca Cola-Schluck
aus der Dose vor dem nahrhaften Hirsegetränk aus der eigenen
Herstellung der Vorzug gebührt, wird auch im südlichen Afrika
kaum noch bezweifelt; daß die von hochbezahlten Experten exekutierte
High-Tech-Medizin der traditionellen Heilkunst den Rang abläuft
und deren Heilkraft in das Reich des Aberglaubens verweist, hat sich
auch im ländlichen Indien herumgesprochen.
Dennoch: es scheint
in den ärmsten Ländern ein beunruhigend großes Widerstandspotential
gegen die Konsumabhängigkeit zu geben und ein bedenklich großes
Vertrauen in die Selbsterhaltungsfähigkeiten. Der jüngste
Konflikt um die Nahrungsmittelhilfe, der zwischen südafrikanischen
Ländern und dem staatlichen Hilfsprogramm USAid aufgebrochen
ist, spricht eine beredte Sprache. Die Afrikaner wollen den genmanipulierten
Mais aus Amerika nicht haben. Nicht so sehr, weil sie sich fürchten,
ihn zu essen. In gemahlener Form zum reinen Verzehr würden sie
ihn ins Land lassen.
Sie fürchten aber,
daß sie sich, wenn sie dieses Zeug als Saatgut verwenden, ein
für allemal in Abhängigkeit vom großen Agro-Business
begeben, ihre Böden für ihr eigenes Saatgut unbrauchbar
machen und künftig auf den Ankauf patentrechtlich geschützten
Saatgutes angewiesen sein werden. Die Amerikaner lehnen es ab, den
Afrikanern gemahlenen Mais zu überlassen. Afrikanische Selbstversorger
sollen Konzernkunden werden, das ist der Hintersinn der generösen
Hilfsbereitschaft der Weltmacht. Imperialismus getarnt als Nothilfe.
Es scheint, daß
man in Teilen der armen Länder noch weiß: am Saatgut hängt
die Nichterpreßbarkeit. Das Saatgut ist wie die Musik und der
Dialekt das Kulturgut einer Gemeinde, angewiesen auf Hege und Bewahrung
durch die Gemeinde und im Gegenzug Garant ihrer Unabhängigkeit
(Pat Roy. Mooney). Wer sich des Saatgutes bemächtigt und des
Wassers, der stört den Frieden auf eine lautlose Weise genauso
tiefgreifend wie das Gedröhn der Militärmaschinerie.
Die Herstellung von
Bedürftigkeit nun, ist etwas ganz anderes als die Verführung
oder Verlockung zu diesem oder jenem Kaufakt. Sie geht an die Wurzel
des Menschseins. 'Bedürfnisse', hören wir auf das Wort;
Im 'Bedürfnis' steckt das 'Dürfen'. Wer bedürftig ist,
wer Bedürfnisse geltend macht, hält sich an das, was man
wollen darf. Bedürfnisse haben zur Voraussetzung, daß das
Wollen und das Vollbringen nicht mehr in Personalunion existieren.
Einer Instanz des Begehrens steht eine Instanz gegenüber, die
die Befriedigungsmittel verwaltet, und die die Bedingungen diktiert,
unter denen das Bedürfnis befriedigt wird. Der bedürftige
Mensch ist derjenige, der, um sein Dasein zu fristen (auf welchem
Niveau auch immer) etwas kriegen muß. Er ist im Doppelsinn des
Wortes ein kriegender Mensch. Ihm ist der Zugang zu den lebensnotwendigen
Gütern und zu den lebenserhaltenden Tätigkeiten verwehrt.
Er ist seiner Daseinsmächtigkeit beraubt. Er ist zum belieferungsbedürftigen
Mängelwesen geworden, außerstande, sein Leben aus eigener
Kraft zu erhalten. Die andere Seite des kriegenden Menschen: Er befindet
sich in gnadenloser Konkurrenz mit allen andern, die ihrerseits Ansprüche
auf die verwalteten Befriedigungsmittel geltend machen. Befriedigungsmittel
dienen der vorübergehenden Befriedung der konkurrierenden Rivalen.
Man kann also sagen:
Macht sei die Fähigkeit Knappheit zu schaffen. Die knappheitschaffende
Macht ist angewiesen auf zwei Triebkräfte: Erstens: auf die Unersättlichkeit
und Unstillbarkeit des Begehrens. Das Befriedigungsversprechen darf
also keineswegs eingelöst werden. Zweitens: auf einen Mechanismus,
mit dem die Unersättlichkeit jenseits des Maßes dessen,
was Menschen brauchen, aufrechterhalten wird. Und das ist die Stimulation
des Neides.
In der Nachhaltigkeitsfrage
geht es nicht nur darum, ob wir uns in diesem oder jenem Begehren
mäßigen. Die Frage ist vielmehr, ob und wie dem totalitären
Wesen des Konsumismus beizukommen ist. Mit aller Schärfe müssen
wir sehen, daß das, was wir mit Nachhaltigkeit bezeichnen, innerhalb
des Konsumismus, den Pier Paolo Pasolini schon in den siebziger Jahren
als neuen Faschismus bezeichnet hat, nicht möglich ist. Der Begriff
der Nachhaltigkeit ist für mein Sprachempfinden selbst schon
ein konsumistischer Begriff. Von der Antike bis ins Mittelalter kannte
man den Begriff des rechten Maßes. Er bezeichnete eine Haltung
des nach dem guten Leben strebenden Menschen. Der Begriff "Nachhaltigkeit"
definiert dagegen die Welt bereits als ein Arsenal knapper Ressourcen,
mit denen man schonsam umgehen müsse, Er ist damit der Knappheitsideologie
und dem Verwertungs- und Ressourcendenken schon ganz verfallen.
Wenn wir also die Macht
definieren als die Fähigkeit, Knappheit zu schaffen und aufrecht
zu erhalten, dann haben wir sie uns ihrerseits als bedürftig
vorzustellen. Sie ist darauf angewiesen, daß sich die Untertanen
tatsächlich auch der von der Macht verwalteten Befriedigungsmittel
für bedürftig erklären. Macht ist auf die Kollaboration
der Untertanen angewiesen. Ohne die entsprechenden Bedürfnisse
kann sie ihr Knappheitsdiktat nicht aufrechterhalten, wie auch umgekehrt
knapp nur dasjenige ist, worauf die konkurrierenden Bedürfnisse
vieler sich richten.
Ich will von vier Grundbedürfnissen
der Macht sprechen, die etwas ganz anderes sind als die häufig
traktierten menschlichen Grundbedürfnisse (die es übrigens
nicht gibt, aber das wäre ein anderes Thema). Ich will in aller
Kürze sprechen vom Sicherheitsbedürfnis, vom Zeitbedürfnis,
vom Bequemlichkeitsbedürfnis und vom Anerkennungsbedürfnis.
Das sind die apokalyptischen Vier, die der Macht die Unersättlichkeit
des Begehrens garantieren.
Das Sicherheitsbedürfnis
Es gibt zwei Sorten
Sicherheit. Die eine antwortet auf die Frage, 'Wann bin ich sicher?',
die andere auf die Frage 'Wann fühle ich mich sicher'. Die erste
Sorte Sicherheit sucht ihr Heil in sicherheitsverbürgenden Mitteln,
in Geräten, Institutionen, Regelungen. Die Welt, in der ich lebe,
wird grundsätzlich als feindselig erfahren. Gegen jede mögliche
und erdenkliche Gefahr werden Sicherheitsgaranten bereitgestellt.
Mein Blick wird auf Gefahrenerkennung spezialisiert. Mißtrauen
wird zur Tugend. Ich werde abhängig von immer mehr kaufbaren
Sicherheitsprothesen. Und jeder andere wird zu einem gefährlichen
Konkurrenten um die allemal zu knappen Sicherheitsmittel. Ich kann
mich nur so sicher fühlen, wie ich Unsicherheit über andere
verhängen kann. Die aus diesem Sicherheitskonzept entstehenden
Begehrlichkeiten sind prinzipiell unstillbar, denn es geht um die
Sicherung eines Gutes, das nicht gesichert werden kann. Es geht um
die Bewahrung des Vergänglichen vor dem Vergehen, um die Verleugnung
des Todes.
Dem steht die andere
Sicherheit gegenüber, die Sicherheit, die ich am eigenen Leibe
trage. Sie beruht auf meinen Fähigkeiten und auf meinem Vertrauen.
'Wann fühle ich mich sicher?' meint: Ich entscheide wieviel Sicherheit
ich für mich für genügend halte. Und der unwägbare
Rest bleibt Gott befohlen. Dieses Sicherheitskonzept nötigt mich,
meine Kräfte und Fähigkeiten zu stärken und mich mit
meiner Lebenswelt zu befreunden, statt mich ihrer zu erwehren. Es
geht darum, daß ich mich den Fährnissen des Lebens gewachsen
fühle, statt mich dagegen zu wappnen (= zu bewaffnen). Diese
Sicherheit macht angewiesen aufeinander aber unabhängig vom Ganzen.
Und sie erfordert, daß ich meine Endlichkeit akzeptiere.
Sie sehen: nur die eine
Sorte Sicherheit macht bedürftig, die andere befähigt mich
zur Nichtbedürftigkeit und entmachtet die Macht.
Das Zeitbedürfnis
Ich nehme an dieser
Epoche, die die meine ist, eine besondere Unfähigkeit zur Gegenwärtigkeit,
zur Anwesenheit wahr. Wo immer ich bin, werde ich den Verdacht nicht
los, daß das eigentliche Leben sich immer gerade dort abspielt,
wo ich nicht bin. So bin ich nirgends anwesend, immer auf dem Absprung,
immer auf der Suche nach der prallen Lebensfülle. Verglichen
mit der Überfülle der Weltmöglichkeiten erscheint die
eigene Lebenszeit als chronisch zu kurze Frist. Versäumnisangst
wird zum Grundgefühl des Lebens. So verfällt man auf einen
Trick, der wenigstens eine optische Verlängerung der zu knapp
bemessenen Zeit verspricht. Durch Techniken der Selbstbeschleunigung
versucht das bedrängte Individuum mehr Welt zu erhaschen. Was
dem Leben an Länge abgeht, soll durch technische Beschleunigung
der Lebensvollzüge wettgemacht werden. Immer mehr zeitsparendes
Gerät wird dem eiligen Weltbeuter angedient. Aber tatsächlich
ist jede Beschleunigung mit einem spezifischen Weltschwund verbunden.
Erfahrungen kosten Zeit. Wer das Unterwegssein beschleunigt verliert
den Raum. Wer sich mit der leidvollen Seite des Daseins nicht aufhalten
will, um sein Leben als eine makellose Aneinanderreihung von Spitzenerlebnissen
zu organisieren, erlegt sich selbst eine Kontaktsperre zu eben der
Welt auf, die er einzukassieren gedenkt. Er wir zum hastigen und erfahrungslosen
Stipvisiteur, Denn jede leidenschaftliche Hinwendung zur Welt ist
unvermeidlich mit Leid verbunden, sei es daß mir die Erfüllung
versagt wird, sei es daß die mir gewährte Erfüllung
jeden Augenblick von Vergänglichkeit bedroht ist.
Auch hier wird deutlich,
daß das Zeitbedürfnis, das der Gegenwart die Anwesenheit
verweigert, einen unbeschränkten Bedarf an zeitsparendem Gerät
erzeugt.
Das Bequemlichkeitsbedürfnis
Das Bequemlichkeitsbedürfnis
meldet Anspruch auf mühsalersparendes Gerät an. Auch dieser
Bedarf ist unerschöpflich, weil Möglichkeiten der Erleichterung
der Lebensmühsal in jedem Winkel der Existenz aufgestöbert
werden können. Sogar wenn der träge gemachte Leib daran
erinnert, daß er nicht totgestellt sein will, daß er von
seinen Kräften Gebrauch machen will, läßt sich daraus
noch ein profitabler Geschäftszweig entwickeln. Die Mühsal,
die dem Menschen erspart wurde, wird ihm wenn die Bandscheibe oder
das Herz rebelliert, für teures Geld im Fitness-Studio mit schweißtreibender
Maschinenbedienung wieder verkauft.
Die Kehrseite der Mühsalersparnis
ist die, daß die Menschen heutzutage zwar älter werden,
älter sogar, als ihnen lieb ist, daß sie aber gleichzeitig
in immer früherem Lebensstadium für überflüssig
erklärt werden. Und die zweite Folge des Komforts ist eine erlernte
Hilflosigkeit, die uns nötigt, uns in beinah allen Verrichtungen
unseres Lebenserhalts durch bezahlte Dienste vertreten zu lassen.
Das Anerkennungsbedürfnis
Schließlich ist
auch das Anerkennungsbedürfnis eine Quelle endloser Begehrlichkeit.
Die Quellen der Selbstanerkennung sind versiegt. Früher konnten
tätige Menschen sich in dem Werk ihrer Hände erkennen und
anerkennen. Und sofern sie Nützliches für die Gemeinschaft
hergestellt hatten, konnten sie der Anerkennung anderer sich erfreuen.
Konsumenten können sich nicht selbst anerkennen. Sie sind auf
die Anerkennung anderer angewiesen, und die wird ihnen gezollt nicht
für das, was sie leisten, sondern für das, was sie sich
leisten können.
Anerkennung kommt heute
im wesentlich als Erfolg ins Spiel. Wir leben in einer Gesellschaft,
in der Erfolg und Ansehen demjenigen beschieden sind, der alle Anderen
am nachhaltigsten schädigt. Wer am meisten Konkurrenten zur Strecke
bringt, hat Anspruch auf das größte Ansehen. In dem Maße
wie das Ansehen nicht mehr gekoppelt ist an das nützliche Tun,
wird es beliebig. Beliebigen Ausstattungsstücken der eigenen
Existenz kann Anerkennungswert zugeschrieben werden, wichtig ist nicht
die Brauchbarkeit dieser Daseinszutaten, wichtig ist nur ihre Fähigkeit
ihren Träger beneidenswert zu machen, den Neid der vielen zu
stimulieren.
Mit dem Neid werden
alle Begierden zu mimetischen, nachahmenden. Ich begehre nichts um
seiner selbst willen, nicht einmal einen andern Menschen, ich begehre,
was ich begehre nur, weil andere es auch begehren. Damit findet eine
unbeschreibliche Vergleichgültigung aller unserer Beziehungen
statt, der Beziehungen zu Menschen und zu Dingen. Und zugleich ist
der Neid, die Generalrezeptur für die Unersättlichkeit des
Begehrens. Jedes Ding, das ich um seiner selbst willen begehre, hat
sein Maß, es wird gemessen an seiner Brauchbarkeit. Der Neid
macht es möglich, daß ich sogar Dinge, Verhältnisse
und Lebensumstände begehren kann, von denen ich weiß, daß
sie mir schädlich oder gar tödlich sind.
Lassen Sie mich zum
Schluß an eine alte Geschichte erinnern, die Geschichte von
der Vertreibung aus dem Paradies.
Die moderne, die elegante,
die knappheitsetzende Macht geht den Menschen auf den tiefsten Grund.
Sie setzt da an, wo sie am anfälligsten sind und am verwundbarsten,
bei der Ursehnsucht, die mit dem Urfluch zugleich in sie eindrang,
der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. Sie verspricht, den Fluch
zu entkräften und den Urverlust verschmerzbar zu machen. Es ist
verblüffend, wie genau die vier großen Versprechen, mit
denen die Bedürfnisse des Menschen gereizt werden und die zugleich
Garanten der Macht sind, an der großen Erzählung von der
Vertreibung aus dem Paradies abgelesen sind. Der Fluch, der die Vertreibung
begleitet, macht die Menschen sterblich. Er verbannt sie aus dem Ort
der Geborgenheit in die Fremde. Er liefert sie der Mühsal aus:
'Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, und
unter Mühen sollst du Kinder gebären'. Das furchtbarste
von allem aber ist die Verstoßung vom Angesicht Gottes, der
Verlust des Antlitzes, der dem Menschen selbst das Antlitz zu rauben
droht. In dieser Erzählung ist die Erschütterung des Menschen
über die Zerbrechlichkeit seines In-der-Welt-Seins mit ungemeiner
Wucht in wenige Sätze gebannt. Hier ist mit letztem Ernst und
äußerster Gültigkeit gesagt, was die 'conditio humana'
sei, die unübersteigbare Grenze seines Daseins: daß seine
Zeit begrenzt ist und sein Leben eine ununterbrochnene Folge von Trennungsschmerz,
daß er in fundamentale Unsicherheit gestürzt ist, daß
ihm der Segen nur als Lohn der Mühe zufällt. Vor allem aber
muß er in Furcht und Zittern bangen, ob das den Schöpfungsakt
bestätigende: "...und sah, daß es gut war", ihm
noch gilt, ob er nach dem Fall, seines Angenommen-Seins gewiß
sein kann, nachdem Gott für ihn unsichtbar geworden ist; der
verborgene Gott, zu dem er nun in ein Verhältnis des Glaubens
und des Zweifels treten muß. So viel mußte er verlieren,
damit er zur Vernunft kam, soviel kostete es, daß er die Frucht
vom Baum der Erkenntnis gekostet hatte, so hoch war der Preis der
Freiheit.
Unter dem Regime der
Knappheit, unter dem sich alles verwandelt in etwas, das man haben
kann, soll auch die conditio humana, diese Grunderfahrung menschlicher
Existenz nicht mehr gelten. In unglaublicher Verkennung wurde deren
Ernst umgedeutet zu einer Herausforderung an die Produktivkräfte.
Behende wurde die Verstoßung vom Angesicht Gottes zur
Vertreibung aus dem Paradies und das Paradies zum Schlaraffenland
banalisiert. Und nun also das Heilsversprechen, alles was dem Menschen
bei seinem Ausschluß abhanden kam, ihm zu erstatten. Ihm wird
ein wiederhergestellter Zustand der Sorglosigkeit in Aussicht gestellt
vis à vis einem überwältigenden Warenangebot, das
alle Verluste zu kompensieren verspricht. Die Erfahrung der Sterblichkeit,
des Fremd-Seins in der Welt, der Mühsal und Beladenheit, und
die bange Sorge um das Angenommen-Sein, werden infam verkehrt zum
Zeitbedürfnis, zum Sicherheitsbedürfnis, zum Bequemlichkeitsbedürfnis
und zum Anerkennungsbedürfnis, denen mit passenden Befriedigungsmitteln
gewillfahrt werden könne. Der dabei heimlich eingestrichene Gewinn
ist die Unersättlichkeit dieser Bedürfnisse, welche Jagd
auf etwas machen, das nicht erjagt werden kann, weil es außerhalb
der menschlichen Begrenzung liegt. Jedoch: Der Fluch wäre nicht
Fluch, wenn die Menschen auf ihn pfeifen könnten, ohne daß
er sich erneut gegen sie kehrte. Und so hat dann das unablässige
Bemühen, Zeit zu gewinnen, die Menschen in einen enormen Beschleunigungswirbel
hineingerissen, der schließlich alle erlebbare Zeit verwirbelt
hat. Der Kampf um die Sicherheit, hat sie in eine Situation beispielloser
Unsicherheit und Vernichtungsdrohung gebracht. Die Sorge um Bequemlichkeit
hat ihre Heimat verwüstet. Und die Jagd nach Anerkennung, hat
die häßlichste der menschlichen Möglichkeiten, den
Neid, auf den Plan gerufen.
Der Griff nach der Unsterblichkeit
schließlich vernichtet die Gegenwart, den kostbaren Augenblick
und die 'heiligende' Einzigartigkeit jedes einzelnen. Unsterblichkeit,
Aufhebung der Vergänglichkeit, heißt unter den Bedingungen
der Knappheit, alles wiederholbar, jeden Verlust verschmerzbar zu
machen, weil für alles Ersatz ist: Auslöschung der Antlitze.
Marianne Gronemeyer ist Schriftstellerin. Sie lebt in Friesenheim
in Deutschland.