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Nicolas de Lacaille und die Vermessung des Südhimmels

Unter fremden Sternen

Von Christian Pinter

Im äußersten Westen der Welt wohnte der Titan Atlas. Er übertraf alle Menschen an Körpergröße. Selbst das ferne, unendliche Meer stand unter seinem Szepter, weshalb man es "Atlantik" taufte. Atlas wurde gezwungen, "aufrecht stehend, mit dem Haupt und nie ermüdenden Armen" den weiten Himmel zu tragen, erzählt Hesiod. In dieser Pose blickt er auch vom Dach der Nationalbibliothek auf den Wiener Josefsplatz hinab. Die Dame rechts von ihm richtet als personifizierte Astronomie ein kleines Fernrohr auf die Himmelskugel. Die Dame links von ihm stützt sich hingegen auf die Tierkreiszeichen: Sie soll die Sterndeutung verkörpern.

Als Phaethon, der Sohn des Helios, die Kontrolle über den Sonnenwagen verlor, da rauchten die beiden Pole des Himmels: "Selbst Atlas leidet Qualen und kann die glühende Himmelsachse kaum auf den Schultern halten", klagt Ovid. Der unglückliche Riese verweigerte dem Helden Perseus zudem auch noch das Gastrecht. Zur Strafe wurde Atlas versteinert und verwandelte sich ins gleichnamige Gebirge im Norden Afrikas.

Wolf und Zentaur

Die Griechen fügten die Sterne des Firmaments zu fantasievollen Figuren zusammen und umrankten sie mit einem reichen Legendenschatz. 48 dieser Sternbilder beschrieb Claudius Ptolemäus im 2. Jahrhundert n. Chr. Der Gelehrte wirkte in der ägyptischen Stadt Alexandria. Dort hatte er einen wesentlich weiteren Blickwinkel auf die südlichen Regionen der Himmelskugel als in Griechenland. Zum Beispiel auf das Sternbild Wolf (offiziell und lateinisch: Lupus), das sich bei uns nur teilweise über den Horizont erhebt.

Es erinnert an den hochmütigen und grausamen König Lykaon. Zeus verwandelte ihn in ein Raubtier und setzte dieses als weithin sichtbare Warnung ans Firmament. Dort wird der Wolf vom Zentaur (Centaurus) in Schach gehalten. Halb Mensch, halb Pferd, erzieht das Mischwesen den Helden Jason. Dieser wiederum sticht in See, um das Goldene Vlies zu holen. Jasons Schiff Argo wird ans Sternenzelt gehoben. Im 18. Jahrhundert zersägen es Astronomen leider in die Bilder Schiffskiel (Carina), Hinterdeck (Puppis) und Segel (Vela).

Am Fuß des erwähnten Zentauren leuchtet ein kleines Quartett heller Sterne. Christliche Seefahrer sahen darin ein Kreuz. Das Kreuz des Südens (Crux) ist heute ein eigenständiges Sternbild. Es ziert nicht nur den Himmel, sondern auch die Nationalflaggen Australiens und Neuseelands.

Doch auch Ptolemäus musste sich mit einem "blinden Fleck" abfinden: Eine relativ kleine Kappe rund um den himmlischen Südpol blieb ihm verborgen. Sein unvollständiges Firmament genügte jedoch 1.300 Jahre lang. Dann drangen portugiesische Seefahrer entlang der afrikanischen Westküste Richtung Süden vor. Als sie den Äquator kreuzten, tauchte der Polarstern in den Wogen des Atlantiks unter. Dafür thronten Argo, Wolf oder Zentaur ungewöhnlich hoch am Himmel. Über dem Bug der Schiffe funkelten sogar ganz neue, bisher unbekannte Lichter.

Diese Metamorphose des Sternenzelts erlebte auch Bartolomeu Diaz, der 1487 das afrikanische Kap der Guten Hoffnung erreichte. Und Amerigo Vespucci: Er segelte um 1500 die Ostküste Südamerikas entlang und fertigte Skizzen der exotischen Sternenpracht an. Magellan stieß 1519 in den Südpazifik vor. Dabei erblickte er zwei seltsame Lichtflecke am Firmament, die mit den fremden Gestirnen getreulich auf- und untergingen.

1595 begann der niederländische Schiffsnavigator Pieter Keyzer, Ordnung in die fremden Himmelslichter zu bringen. Sein Landsmann Frederick de Houtman assistierte ihm dabei. Auf der Fahrt zu den Gewürzinseln musterte Keyzer 135 südliche Sterne und formte daraus 12 neue Bilder. In Augsburg bereitete Johannes Bayer gerade den Druck seiner "Uranometria" vor. Kurz zuvor war der Name des Riesen Atlas erstmals im Titel einer Kartensammlung aufgetaucht. Bayers Himmelsatlas erschien 1603; die Aufnahme der Keyzerschen Kreationen sicherte ihm allgemeine Anerkennung.

Vögel und Fische

Keyzer liebte Vögel. Der legendäre Phönix (Phoenix) stirbt in den Flammen. Der Pfau (Pavo), heiliges Tier der Göttin Hera, beobachtet ihn und schlägt ein großes Rad. Ähnlich prächtig sind die Schmuckfedern des Paradiesvogels (Apus), den Keyzer wohl auf den Gewürzinseln kennen lernte. Amerikanischer Provenienz ist der klobschnäblig anmutende Tukan (Tucana). Über seinem Kopf schwebt der Kranich (Grus). Des langen Halses wegen hat man übrigens die Hebevorrichtung "Kran" nach ihm benannt.

Selbst Keyzers Fliegender Fisch (Volans) erscheint in Bayers Kupferstich-Sammlung mit gefiederten Schwingen, als wäre er zur Hälfte ein Vogel. In Wahrheit nützt dieser Fisch seine breiten Brust- und Bauchflossen als Tragflächen, wenn er, verfolgt, in hohem Tempo aus dem Meer schnellt. Auch am Himmel jagt ein Raubfisch hinter ihm her: Dorado, ursprünglich wohl eine Goldmakrele, verwandelt sich in folgenden Atlanten in einen Gold- oder einen Schwertfisch. Die "Uranometria" zeigt ihn noch ohne schwertartig verlängertem Oberkiefer. Keyzers Chamäleon (Chamaeleon) lauert ebenfalls auf Beute: Bei Bayer ist das eine Biene. Sie mutiert jedoch bald zur Fliege (Musca).

Die alten Griechen hatten die langgestreckte, weibliche Wasserschlange (Hydra) ans Firmament gezeichnet. Keyzer schenkte ihr mit seiner Kleinen Wasserschlange (Hydrus) ein männliches Pendant. Der mit Speeren bewehrte Indianer (Indus) hält da lieber Abstand. Als einzig nicht-lebendige Figur komplettiert das hölzerne Südliche Dreieck (Triangulum australe) den Bilderreigen.

In Keyzers Dorado und im Tukan zeigt die Uranometria zwei "Quellwolken". Es sind jene Lichtflecke, von denen Magellan gesprochen hatte. Bayer nannte sie "nubecula maior" und "nubecula minor", also "großes" bzw. "kleines Wölkchen".

Die Koordinaten der neuen Sterne waren nur ziemlich vage bekannt. Seeleute brauchten präzisere Angaben, um navigieren zu können. Deshalb schickte England den Astronomen Edmond Halley 1676 auf die kleine Atlantikinsel St. Helena. Dort vermaß er, erstmals unter Einsatz des Teleskops, knapp 350 südliche Sterne. Der Zwanzigjährige unternahm die Reise freiwillig - ganz im Gegensatz zu Napoleon Bonaparte, der hier 1821 in der Verbannung sterben sollte. Halley kehrte 1678 nach London zurück, wo er seinen neuen Sternkatalog sofort publizierte.

Nicolas de Lacaille

Doch weiterhin klafften Lücken am Südhimmel: Viele, vor allem lichtschwache Sternchen gehörten noch keinem Bild an. Der Astronomieprofessor Nicolas de Lacaille, 1713 im französischen Rumigny geboren, suchte Abhilfe. Schon seine Anreise nach Südafrika war abenteuerlich, dauerte ein halbes Jahr. Nach zweimaliger Atlantiküberquerung mit Zwischenaufenthalt in Rio langte er im Frühjahr 1751 in Kapstadt ein. Am Fuße des Tafelbergs baute Lacaille ein kleines Observatorium auf. Das schmächtige Teleskop mit eineinhalb Zentimeter Linsendurchmesser und achtfacher Vergrößerung wird heute von jedem Fernglas übertroffen. Doch Lacaille wusste es einzusetzen: Er montierte das schlanke Rohr auf ein großes Winkelmessinstrument. Die Vorrichtung ließ sich ausschließlich in Nord-Süd-Richtung drehen. Damit und mithilfe einer Pendeluhr hielt er die Durchgangszeiten von fast 10.000 Sternen fest. Ein spezielles, rhombisches "Fadenkreuz" im Fernrohr steigerte die Geschwindigkeit der Himmelsdurchmusterung.

Fernrohr und Kompass

Für die noch heimatlosen Sternchen ersann der Franzose 14 zusätzliche Bilder. Schon Keyzer hatte - sieht man von seinem Phönix und vielleicht noch vom Pfau ab - keinen Bezug mehr zur antiken Mythologie gesucht; seine Schöpfungen wirkten aber wenigstens noch "zeitlos". Hingegen griff Lacaille ganz bewusst auf technische Erfindungen seiner Epoche zurück.

Zunächst verstirnte er das eigene Fadenkreuz als Netz (Reticulum); dann ein Fernrohr (Telescopium) und die zur Himmelsvermessung unentbehrliche Pendeluhr (Horologium). Sie war ein Patent des Niederländers Christiaan Huygens. Dessen Landsmann und Zeitgenosse Antony van Leeuwenhoek erfand das Mikroskop (Microscopium).

Die Luftpumpe (Antlia) war eine Konstruktion von Otto von Guericke und Robert Boyle. Sie diente zum Absaugen der Luft aus einem durchsichtigen Glasgefäß. Damit bewies Guericke: Der Schall benötigt die Luft zur Ausbreitung. Nicht so das Licht, wie Huygens mit der gleichen Apparatur nachwies. Auch der in der Chemie eingesetzte Ofen (Fornax) wurde nun zum Sternbild.

Einer der beiden Drehpunkte der Himmelsachse, der südliche Himmelspol, ist verwaist. Kein heller Stern ziert ihn. Um diese besondere Stelle herum malte Lacaille den Oktant (Octans). John Hadley baute ihn 1730. Sein drehbarer Spiegel erlaubte es, ein Gestirn mit der Horizontlinie scheinbar zur Deckung zu bringen. Die Spiegeldrehung verriet die Sternhöhe. Aus solchen Messungen errechneten Seemänner den Schiffsstandort. Auch ein viel älteres Navigationsinstrument, der Kompass (Pyxis), gelangte ans Sternenzelt. Ebenso der Zirkel (Circinus) und das Winkelmaß (Norma).

Selbst die Kunst fand dort Platz. Der Grabstichel (Caelum) ist ein meißelartiges Instrument zum Gravieren. Lacailles "Staffelei" wurde später zum Maler (Pictor), sein "Bildhaueratelier" zum Bildhauer (Sculptor). Der Tafelberg (Mensa) sollte schließlich an seinen Beobachtungsort am Kap erinnern.

Der Nebelkatalog

Manche Sterne erschienen dem Franzosen nicht punktförmig, sondern nebelartig. Er hielt solche Erscheinungen in einem eigenen Nebelkatalog fest. Ohne es zu ahnen, versammelte er hier Objekte aus höchst unterschiedlichen Kategorien. Wie wir heute wissen, listete er etwa weite Gasnebel aus ionisiertem Wasserstoff auf, in denen neue Sonnen geboren werden.

Er notierte viele kleine, offene Sternhaufen, wo jeweils Dutzende ganz junger Sterne leuchten. Er katalogisierte uralte Kugelhaufen, die ein sphärisches Gerüst rund um unsere Milchstraße bilden; jeder einzelne beherbergt Hunderttausende dicht gedrängter Sonnen. Und er registrierte den Glanz ferner, fremder Galaxien, die ähnlich unserer Milchstraße aus vielen Milliarden Sternen bestehen.

Natürlich musterte Lacaille auch die beiden Magellanschen Wolken. Sie entpuppten sich später als treue Trabanten unseres Milchstraßensystems. Dessen Gezeitenkräfte haben die Zwerggalaxien arg deformiert. Außerdem visierte Lacaille den glänzenden Stern Alpha Centauri an. Wie man schon seit 1689 wusste, teilt ihn das Fernrohr in zwei Komponenten.

Erst lange nach Lacailles Aufenthalt am Kap wurde klar: Hier umkreisen zwei Sonnen einander mit einer Umlaufzeit von 80 Jahren. Das Paar besitzt aber einen Begleiter - eine lichtschwache, rote Zwergsonne, die nicht viel größer ist als unser Planet Jupiter. Sie ist mit 4,2 Lichtjahren Abstand unser allernächster bekannter Nachbar im Sternenmeer. Deshalb taufte man sie "Proxima Centauri" (lat., die Nächste des Zentauren).

Der normierte Himmel

Heute ist der Himmel streng normiert. Er umfasst 88 Sternbilder, darunter 12 von Keyzer und 14 von Lacaille. Der Franzose war somit der erfolgreichste Sternbildgründer seit der Antike. Er befreite den Himmel des Titanen Atlas von den letzten südlichen Lücken - und somit auch die Himmelsatlanten. 1573 setzte der Franzose die Segel. Nach mehreren Umwegen, die ihn etwa zur "Himmelfahrtsinsel" Ascension im Südatlantik führten, ging sein Schiff auf Nordkurs.

Nun erlebte er jene Rückverwandlung des Firmaments, die Alexander von Humboldt 1827 so beschrieb: "In der Einsamkeit des Meeres grüßt man einen Stern wie einen Freund, von dem man lange getrennt war, und freudig erblicken selbst unsere Matrosen den Polarstern, wenn sie aus der anderen Hemisphäre heimkehrend die bekannten Sterne ihrer Kindheit wieder sehen."

Doch in Lacailles Freude mischte sich Wehmut. Während der Nordstern gemächlich höher kletterte, versanken seine himmlischen Erfindungen nach und nach im Meer. Er sollte sie nicht wieder sehen. Lacaille erreichte Paris vor 250 Jahren, im Sommer 1754. Der mühsam erstellte Katalog des südlichen Sternenhimmels erschien 1763 - ein Jahr nach seinem Tod.

Freitag, 23. Juli 2004

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