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Wie man in Deutschland begraben wird

Bisher scheiterten Sonderwünsche an der Bürokratie. Jetzt ist das Bestattungswesen im Umbruch. Die letzte Reise führt ins All, in die Natur oder in die gute Stube


Die Autoren des ersten Buchs Mose betrachteten die Endlichkeit des Lebens sachlich: „Denn Erde bist du, und zur Erde sollst du zurück.“ Wie das Geborenwerden, so hatten die biblischen Poeten treffend bemerkt, gehört zum Kreislauf des Lebens der Zerfall. Aus Herbstlaub wird Futter fürs neue Grün. Aus Tier wird Aas; es nährt junges Getier. Auch die Überreste eines Menschen stehen bald wieder zur Verfügung. So ist der irdische Alltag.

Die Leiche

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Die Frau in der metallenen Bergungswanne, deren kalten Körper der Bestatter Heiner Dornberger gleich bearbeiten wird und die er zwecks Wahrung ihrer Anonymität Frau Kocher nennt, hat ihren letzten Atemhauch vergangene Nacht um halb zwei getan, in ihrem 87. Lebensjahr. In jenem Moment begann mit dem Abbruch der Sauerstoffzufuhr in ihrem Körper die Zersetzung. Bei diesem Prozess kommt es bald zur Gärung. Enzyme, im Lebenden für den Stoffwechsel zuständig, machen sich daran, die Zellstrukturen des einstigen Arbeitgebers aufzulösen. Über Eingeweide und Blutbahnen verteilen sich im Körper Bakterien, deren Aufgabenbereich sich früher auf das Gedärm beschränkt hat. Nun fangen sie an, die Innereien in Kohlendioxid, Wasser, Methan, Alkohol und organische Säuren umzuwandeln.

Ließe man das Treiben der Keime ungehindert geschehen, blähten bald Gase die Innenräume, träte verflüssigtes Körpergewebe aus. Doch dem mikrobiellen Leben nach dem Tod wird aus Gründen der Kultur vorerst Einhalt geboten. Um also ein wenig Zeit zu schaffen für das, was wir Bestattungskultur nennen. Denn von einem Verstorbenen wünschen Hinterbliebene, in Ruhe Abschied zu nehmen. Nun wissen wir, dass biologische Prozesse temperaturabhängig sind; Kälte mäßigt die Gier der Mikroben, die sich an uns gütlich tun. Und so ist Frau Kocher nach ihrem Ableben von der Nachtschwester sofort in den Kühlraum geschoben worden. Drei Grad ist die Luft dort kalt.

Wenn der Tod sich in Deutschland einen Menschen holt – er tut dies seit 1972 häufiger, als ein Kind das Licht der Welt erblickt, 840000-mal im Jahr –, resultiert daraus ein Auftrag für eine der krisenfestesten Branchen überhaupt. 13 Milliarden Euro Gesamtumsatz wird im Friedhofs- und Bestattungsgewerbe jährlich erwirtschaftet. Das Gros fällt zu fast gleichen Teilen auf Bestatter (18 Prozent), Gärtner (17 Prozent), Steinmetze und Friedhofsverwaltungen (je 16 Prozent). Die Prognosen sind rosig. „Gestorben wird immer, hat meine Oma gesagt, als sie von meiner Berufswahl erfuhr“, begründet zum Beispiel Verena Himler ihren Einstieg ins Geschäft. Die junge optimistische Frau ist Azubi der ersten Stunde. Seit dem 1. September lernt sie Bestatten, was erst seit August 2003 ein offizieller Ausbildungsberuf ist.

Das Geschäft mit dem Tod, eines der ältesten Gewerbe, will damit auf Zukunft pochen und der anstehenden Diversifizierung gewachsen sein. Denn Wandlungen bahnen sich an. Zwar tritt uns die Zunft derer, die uns unter den Boden bringen, noch meist einförmig und grau entgegen. In düsteren Schaufenstern werben staubige Urnen vor blickewehrenden Vorhängen für Qualität bei Letzten Dingen. Doch bunte Särge, hell erleuchtet präsentiert, in Magazinen ausgeschriebene Trauerseminare und die öffentlich erklärte Bereitschaft, beim Umschummeln bestehender Bestattungsgesetze behilflich zu sein, sind Zeichen dafür, dass die Totengräberzunft zum Strukturwandel bläst. „Die Dynamik ist so groß wie nie“, sagt der an der Universität Hamburg lehrende Sozial- und Kulturhistoriker Norbert Fischer. Der klassische Friedhof werde bald nur noch einer von vielen Orten sein, an denen Menschen bestattet werden.

Es scheint, als habe der Zeitgeist den Tod neu beseelt. Nachdem der reale Tod (im Gegensatz zum medialen) jahrzehntelang aus der Öffentlichkeit verbannt worden ist, sind nun viele Hinterbliebene nicht mehr bereit, das Entsorgen ihrer Liebsten einer anonymen Industrie zu überlassen. Zwar wird bei den Erdbestattungen, die heute noch einen Anteil von 58 Prozent ausmachen, der traditionelle Friedhofsplatz schon aus hygienischen Gründen Pflicht bleiben. Aber auch die strengen Friedhofsbräuche beginnen sich zu lockern. So können Muslime sich auf dem Hamburger Friedhof Öjendorf glaubenskonform ohne Sarg bestatten lassen. Aus kirchlicher und staatlicher Obrigkeit entlassen, arbeiten viele Friedhöfe heute marktkonform und bieten multikulturellen Service an, bis hin zur rituellen Waschung. In den Friedhofskapellen treten vielerorts religionsneutrale, hauptberufliche Abdankungsredner auf, es ertönen Rockmusikklänge, und die Esoterik feiert fröhliche Urständ.

„Man pocht auf Umsetzung individueller Wünsche“, sagt Friedhofsforscher Fischer. Mehrere Bundesländer modernisieren derzeit ihre Richtlinien. Nordrhein-Westfalen und das Saarland haben neue Friedhofsordnungen erlassen, Schleswig-Holstein und Thüringen diskutieren Entwürfe, die neue Formen der Beisetzung ermöglichen sollen. Die Bestatter ihrerseits versuchen, innovativer, besser und ehrlicher als ihr Ruf zu sein.

Heute morgen um zehn nach sechs ist aus Frau Kochers sterblichen Überresten ein Auftrag für Heiner Dornberger geworden. Das Handy weckte den Mitinhaber des Bestattungsunternehmens Weiße Lilie im thüringischen Blankenhain. Am Apparat die Tochter, die den Verlust ihrer Mutter meldete. Nun sorgen Dornberger und seine Geschäftspartnerin Sigrun Heimbürge (die im nahen Apolda die kürzlich neu eröffnete zweite Filiale führt) dafür, dass Frau Kochers letzter Weg würdig ist. Die beiden erledigen an diesen vier Tagen zwischen Tod und Beisetzung alles, was mit der Leiche zu tun hat. Sie informieren Behörden und Rentenversicherung, besorgen Toten- und Erbscheine, schicken die Chipkarte an die Krankenkasse zurück, löschen Konten.

Zu Zeiten der DDR sei das nicht anders gewesen als im Westen, sagt Dornberger. Die Bestatter aus Weimar seien angerückt, hätten den Leichnam mit dem Standardspruch „Behalten Sie den Toten in Erinnerung, wie er war“ schnell weggepackt. Und da war er schon zu, der Sarg, für immer. Auch heute noch geht den meisten Bestattern dieser Satz leicht von den Lippen, weil es die Arbeit an der Leiche auf ein Minimum beschränkt: Keiner sieht, ob der Totengräber dem Großvater die Kleider angezogen hat (oder ob sie als Knäuel zwischen den nackten Beinen liegen). Und keiner kriegt mit, ob die Leiche noch immer ins Nichts starrt, weiter den Mund aufgerissen hat oder ungewaschen und blutverschmiert ins Jenseits geht.

Heute machen die beiden Bestatter die Überreste für den Abschied der Angehörigen am offenen Sarg fertig. Denn Psychiater, Geistliche, Trauerspezialisten und Ärzte raten, Angehörigen den Blick auf die sterbliche Hülle zu ermöglichen, weil dies die anschließende Trauerarbeit erleichtere. „Bei einem Verlust durch Tod ist die Aktivierung aller Wahrnehmungssinne erforderlich, um zuallererst die Situation erfassen und begreifen zu können“, sagt Hans-Harald Stokkelaar vom Verband Dienstleistender Thanatologen (VDT).

Dank seiner Ausbildung zum Thanatologen kann Dornberger hier einen ausgefeilten Service bieten. Er versteht es, von Krankheiten entstellte Tote oder Unfall- und Verbrechensopfer so herzurichten, dass sie dem letzten Blick von Angehörigen in den Tagen der Trauer standhalten. Diese Arbeit ist nicht für die Ewigkeit gedacht – schon gar nicht bei den 42 Prozent der Verstorbenen, die in Deutschland kremiert und in der Urne beigesetzt werden. Vor wenigen Monaten erst war Dornberger in Weiterbildung, übte im Workshop die Wiederherstellung an einem Gipsmodell mit Einschusskrater an der Schläfe. Beim Überschminken von Obduktionsnähten oder Ersetzen von abgerissenen Augenbrauen und fehlenden Nasen ist Fingerfertigkeit gefragt. Und Improvisationskunst. So hilft der grobe Pinsel aus dem Baumarkt, um auf restaurierten Flächen die Poren zurückzubringen. Auch bei Kosmetika greift Dornberger nicht zu handelsüblichen Hilfsmitteln. Was auf warmer Haut einen frischen Teint beschert, taugt nicht für kalte Oberflächen. Spezialisten für Leichenschminke sind die US-Firma Dodge oder das Berliner Traditionsunternehmen Leichner.

Der Thüringer hat seine Firma Weiße Lilie genannt, weil das alteingesessene Konkurrenzunternehmen Schwarze Rose heißt. Die Unternehmensfarbe ist Blau. Leuchtend blau ist der Hintergrund der Visitenkarte mit der Auflistung, was zum Trauergespräch bereitzuhalten ist. Blau lackiert ist das Himmelstaxi, ein fürs Bestatten produziertes Spezialmodell mit Leichensaft-Auffangbecken von Mercedes. Kurz nach acht ist Dornberger damit am Hinterausgang der Klinik vorgefahren. Er hat die Fracht zur Zwischenlagerung in den Kühlraum des Friedhofs von Rudolstadt transportiert. Dort hat sich seine kleine Firma eingemietet. Der Kühlraum ist ihr Arbeitsplatz. Jetzt liegt die Tote in der Wanne auf einem automatischen Hebewagen, und Dornberger bemängelt die „unsachgemäße Lagerung“ in der Klinik: Leichenflecken haben den Kopf auf der linken Seite blauviolett verfärbt. Die Gesichtsgrübchen sind nach Erschlaffen der Muskulatur eingefallen, die Arme leicht angehoben, die Hände greifen ins Leere. Der Mund und die Augen der Leiche sind offen. „Gar nichts haben die gemacht, gar nichts.“ Nur ältere Krankenschwestern würden heute noch den Kiefer nach oben binden, die Augen schließen. Bei Frau Kocher jedoch wurde keine Zeit verloren. Das Becken der Toten ist ins Spitallaken eingewickelt, die nackte Brust hat Dornberger mit Haushaltspapier zugedeckt. „Auch nach dem Tod“, sagt er, „hat der Mensch ein Anrecht auf die Wahrung seiner Intimsphäre.“

Er bindet die Schürze um, er streift die Gummihandschuhe über. Die Leichenwäsche besorgt er mit der Sprühpistole. Der Nebel aus Desinfektionsmittel – eine mit Duftstoffen versetzte Mischung gegen Hepatitis A, Hepatitis B und HIV – legt sich über Frau Kochers sterbliche Überreste. Dann geht’s ruck, zuck. Dornberger greift zu einer starken Nadel und fädelt einen Kunststofffaden am Unterkiefer ein, zieht ihn vor den Zähnen hinauf, durchsticht die dünnste Stelle der Nasenscheidewand und verknotet den Faden, als die Zahnreihen aufeinander liegen. Was tun mit dem Frauenbart? Er lässt die Stoppeln im Gesicht. „Du darfst keinen neuen Menschen aus ihr machen.“

Männliche Leichen aber müssen fast immer rasiert werden. Nicht etwa weil die Stoppeln gemäß Legende nach dem Tod weiterwachsen, sondern weil sich die eintrocknende Haut zurückzieht. „Da darfst du nie trocken rasieren“, warnt Dornberger. Denn ohne Massagecreme wird die verwesende Haut schon mal richtiggehend „abgeraspelt“. Das sehe dann „gar nicht gut aus“, sagt Dornberger. Auch beim Schminken ist Vorsicht angebracht. Löst sich bereits die Epidermis ab, greift der Spezialist besser zu Produkten, die sich mit der Sprühdose auftragen lassen.

Nächstes Problem: die Leichenflecken, hervorgerufen durch die im Körper „nach unten gesackten“ Blutkörperchen. Sigrun Heimbürge holt eine Dose Kalon, Massagecreme fürLeichen, aus dem Schrank und trägt nur eine dünne Schicht auf. „Nicht dass es heißt: Das ist ja nicht die Oma.“ Auch gegen eingefallene Augen gibt es einen Kniff. Dornberger kramt in seiner Werkzeugkiste, wühlt zwischen Schraubenziehern, Klebeband, Wimperntusche und Nagelknipser und zieht Augenklappen aus Plastik hervor. Sie sehen aus wie übergroße Kontaktlinsen und werden als Stütze unter die Lider geschoben. Dornberger erklärt das Wirkungsprinzip der Augen-Push-ups, indem er mit dem Finger über die winzigen, aus den Linsen abstehenden Häkchen fährt: „Daran können sich die Lider festhaken.“

Schließlich macht er sich daran, die Körperöffnungen zu schließen. Mit einer Pinzette stopft er Watte in den Rachenraum, „bis ich Widerstand spüre“. Er greift in die Wattetüte, zieht eine Hand voll raus: „Etwa so viel geht rein.“ Die Genitalien deckt er mit einer „Formvorlage“ ab. Etwas gründlicher muss er vorgehen, wenn eine Leiche über lange Zeit aufbewahrt werden soll; dann verstopft er auch Scheide und After mit ein paar Hand voll Watte. Einen Penis verschließt er, indem er an der Vorhaut zieht und diese fest verschnürt. Anschließend schickt er solche Fälle zum Modern Embalming, einer Arbeit, die er vom Spezialisten ausführen lässt.

Das Verfahren ist nicht dazu da, Verwesung zu verhindern, sondern sie lediglich aufzuschieben. Die balsamierten Leichen, deren Körperflüssigkeit durch Formalin ersetzt wird, können ohne Kühlung aufgebahrt werden. Der Thanatologenverband empfiehlt die Methode, wenn ein Leichnam ins Ausland überführt werden muss und womöglich unter extremen Bedingungen wochenlang liegen bleibt, bis alle Verwandten angereist sind. „Drei Wochen sind kein Problem, auch sechs Wochen kriegen wir hin“, sagt der Hagenower Ausbilder Helmut Kohlmann.

Dornberger und Heimbürge machen sich nun an den Armen und jedem einzelnen Finger zu schaffen, biegen die Gelenke, damit die Leichenstarre sich löst und die Gliedmaßen anliegend am Körper arrangiert werden können. Die Nägel werden geschnitten, die Leichenflecken massiert und mit Creme eingerieben. Tatsächlich ist eine leichte Aufhellung festzustellen, „Ich habe die roten Blutkörperchen weggedrückt“, erklärt Dornberger. Dann wird die Tote angezogen. Die Angehörigen haben eine Tüte mit Kleidern mitgebracht, Unterhose, Strümpfe, ein dezentes, blumiges Kleid und das dunkelgrüne Lieblingsstrickjäckchen der Verstorbenen. Schließlich kümmert sich Sigrun Heimbürge noch um die Frisur. „Die vielen Locken, die sie auf dem Foto hat, kriege ich wahrscheinlich nicht mehr hin“, sagt sie und greift zum Lockenstab.

Dann verschraubt Dornberger den Sarg aus Kieferholz, ein Billigmodell aus Tschechien, das im Ankauf weniger als 200 Euro kostet. „Mit dem Sarg machst du die größte Rendite“, sagt er so nüchtern, dass man ihm auch den folgenden Satz glaubt: „Ich will auch reich werden, aber nicht um jeden Preis.“

Er weiß natürlich, wie jeder Bestatter, um das schlechte Image seiner Zunft. Das hat ihn vorsichtig gemacht. „Geht eine einzige Geste daneben, ist viel kaputt.“ Das Wichtigste sei daher: die Ruhe. Keine Hektik. Denn das Schlimmste sind Pannen. Als GAU gilt in der Szene ein Vorkommnis, das jeder aus Klamaukfilmen kennt: Die Leiche fällt aus dem Sarg. Sogar das ist Dornberger schon einmal passiert – „aber zum Glück erst nach der Abschiedsfeier im Kühlraum“.

Jetzt fehlt nur noch etwas Glanz. Sigrun Heimbürge sprüht den Sarg mit Möbelpolitur ein und reibt mit dem Lappen nach. Endlich sind die beiden Bestatter zufrieden. Frau Kocher verschwindet im Kältefach. Der Nächste ist dran.

Die Urne

Der Unruhestifter heißt Bernd Bruns. Er hockt Tag für Tag in seiner Wohnung und dort in einem Raum, dessen finsteres Ambiente nur selten ein Sonnenstrahl stört. Am Bildschirm verrichtet der 58-Jährige einen seiner beiden Jobs: Er schaut sich Aufnahmen der Videokameras aus einer Tiefgarage an, die er im Auftrag des Betreibers rund um die Uhr überwacht – im Schichtwechsel mit seiner Frau. Das wesentliche Arbeitsgerät für seinen zweiten Job ist das Telefon. Bruns betreibt einen Handwerker-Notrufdienst; ebenfalls rund um die Uhr vermittelt er Soforthilfe bei Wasserrohrbruch oder Schlüsselverlust. Auch sein Hobby betreibt er von hier aus: das Internet-Portal postmortal.de. Und im Übrigen weiß Bruns genau, wo es ihn einmal hin verschlägt: „Dort hinein.“ Er dirigiert seinen nikotingelben Zeigefinger in Richtung eines mattschimmernden Klotzes im Bücherregal. „7,5 Kilogramm Bronze, meine Urne.“

Noch steht auf dem metallenen, einem mittelalterlichen Handschriftenwälzer nachempfundenen Aschebehälter der Name Dr. Moritz Mustermann. Doch irgendwann wird Bruns in Ascheform seine Ruhe darin finden. Oder seine Frau. „Aber ich werde bestimmt der Erste sein“, sagt er und bröselt ein Häufchen Tabak in die Zigarettenmaschine. Seine Tagesration von mindestens sechzig Selbstgedrehten gibt ihm diese Gewissheit. Und Bruns wird dafür sorgen, dass die Urne stehen bleibt, wo sie ist. Auch mit ihm als Inhalt. Schließlich ist er der Deutsche, der am vehementesten für die Abschaffung des Friedhofszwangs für Urnen kämpft. Denn „das hygienische Problem, das ein Tod mit sich bringt“, ist spätestens dann gelöst, wenn ein Körper Asche geworden ist. Dann rechtfertige „kein einziger Grund mehr das Regelungsbedürfnis des Staates“.

Bruns, der Antifaschist, Pazifist, ehemalige Bundestagskandidat der Grünen, verbiss sich ins Thema, als er herausfand, wer seinerseits das irrige Feuerbestattungsgesetz unterschrieben hatte: „Der Adolf persönlich.“ In diesem Moment wusste er: Der Zwang muss weg. 1998 verklagte er das Land NRW und verlangte, dass seine Asche dereinst auch in einem Wohnzimmer zur Ruhe gestellt werden könne. Er berief sich auf den Freizügigkeitsgrundsatz des Grundgesetzes – und scheiterte mit der Klage im Jahr 2000.

Aber in der Zwischenzeit war er nicht untätig geblieben. Als Aschekurier hatte er die Urnen deutscher Verstorbener aus niederländischen Krematorien anonymisiert (die Plakette abmontiert, das numerierte Keramiktäfelchen herausgeklaubt) oder umgefüllt und nach Deutschland zurückgeschafft. Bruns zeigte sich selber an. Die Staatsanwaltschaft wertete sein Treiben als „verbotswidrig, aber nicht strafbar“. Dass im vergangenen Jahr NRW sich Deutschlands liberalstes Friedhofs-Gesetz gegeben hat – es erlaubt immerhin das Ausbringen der Asche auf friedhofseigenen Streuwiesen, bleibt aber beim Friedhofszwang für Urnen –, ist zu einem großen Teil das Werk von Bruns. Und auch: dass der Umweg über die Niederlande heute ein Standardverfahren geworden ist. Schließlich war es Bruns, der auf postmortal.de den Leitfaden veröffentlicht hat, wie das deutsche Recht umgangen werden kann. Er empfiehlt den Umweg über das niederländische Krematorium Slangenburg oder den Versand der Ascheurne in die helvetische „Oase der Ewigkeit“. Gern schicken die Eidgenossen gegen die Gebühr von etwas mehr als 300 Euro die Urne umgehend an die trauernden Verwandten zurück – auf neutralem Postweg.

8000 bis 10000 Deutsche, so schätzt Bruns, haben ihre Asche nicht mehr auf deutschen Friedhöfen. Darunter sind auch die sechzig ihm bekannten Fälle, in denen in Nacht-und-Nebel-Aktionen „die Söhne der Mutter die Urne des Vaters vom Friedhof geholt haben“. Oder jene, die in Frankreich mit dem Ballon aufgestiegen sind und noch vor dem Ascheverstreuen „aus Versehen“ vom Wind über die deutsche Grenze getragen worden sind. Bruns ermutigt die Leute gern zum Ungehorsam. Entsprechende Anfragen erhält er in Hülle und Fülle.

Mit seinem Friedhofszwang für Urnen steht Deutschland in Europa nicht ganz allein da. In Griechenland, wo Feuerbestattung nicht zulässig ist, muss die Urne eines im Ausland eingeäscherten Staatsbürgers zwingend auf dem Friedhof beigesetzt werden. In den Niederlanden dagegen darf die Asche überall, in Frankreich und Finnland überall außer auf öffentlichen Wegen und in der Schweiz sinnigerweise überall außer auf Friedhöfen verstreut werden.

Die Regulierungswut in Bestattungsdingen hierzulande überrascht den Kulturhistoriker Fischer nicht. „Die Bürokratisierung hat in Deutschland eine unrühmliche Tradition“, sagt er. Hier hat sich der Umgang mit den Toten, stellte er in seiner Dissertation 1996 fest, zu einer Angelegenheit für Mediziner, Techniker und Friedhofsverwalter entwickelt: „Der Tod scheint aller Zeremonien entkleidet worden zu sein. Aus einem einst rätselhaften, viel gedeuteten Mythos ist ein praktisches, delegierbares Problem geworden, zu dessen Bewältigung ein breit gefächertes Dienstleistungsangebot bereitsteht.“

Die Vorschriften, die noch heute vielerorts exakte Grabsteingrößen vorschreiben oder polierten Granit verbieten (Trauernde könnte das eigene Spiegelbild auf dem Gedenkstein irritieren), sind das Resultat historischer Entwicklungen. Im 18. Jahrhundert wurde, sagt Fischer, eine „spezifisch bürgerlich-aufgeklärte Form der Rationalität“ auch im Umgang mit den Toten durchgesetzt. Als Ausdruck der Effizienzsteigerung wandelten sich die Gottesäcker in geometrische Friedhöfe vor den Stadttoren. Um 1920 begann dann die Zeit des funktionalen Reformfriedhofs. „Und mit der Reformbewegung gingen diktatorische Tendenzen einher, die von den Nazis dankbar aufgenommen wurden“, sagt Fischer. 1937 entstand die reichsweite Friedhofsmuster-Ordnung. Es bedurfte der Postmoderne mit ihren Individualisierungstendenzen, glaubt Fischer, damit der Deutsche davon wieder loskommen konnte. Nun sieht er allerorten Bewegung.

Die Branche reagiert auf die Nachfrage. See- und Luftbestattungen (im Ballon über Frankreich) gehören heute zum Angebot vieler Bestatter. Die gut sortierten bieten auch an, sterbliche Überreste zu einem Diamanten pressen und schleifen zu lassen. Wer will, kann einen Krümel seiner Totenasche mit dem Bestattungssatelliten Celestis in der Erdumlaufbahn deponieren (Earthview Service, 13000 Euro, nächster geplanter Start: 2. Quartal 2004), auf den Mond schießen (Lunar Service, 25000 Euro, längere Wartezeit) oder auf eine ausgedehnte Tour zu den Sternen (Voyager Service, 25000 Euro, längere Wartezeit) mitnehmen lassen.

Die deutlicheren Spuren der Veränderungen hinterlassen im Bestattungsalltag allerdings weniger die exotischen, schlagzeilenträchtigen Verfahren als vielmehr die Vielzahl neuer Grabanlagen, auf denen man Grabsteine vergebens sucht. 1999 wurde der erste Friedwald in der Schweiz gegründet; knorrige Hundertjährige statt toter Granit bewachen dort den Schlaf des Verschiedenen, dessen Aschenurne die Angehörigen höchstpersöhnlich ins Wurzelwerk gebettet haben. Heute betreibt die FriedWald GmbH im südlichen Nachbarland vierzig und in Deutschland immerhin auch schon fünf Betriebe: den Reinhardswald bei Kassel, den Odenwald bei Michelstadt, den Friedwald Hümmel in der Eifel, das Waldstück Bramsche im Teutoburger Wald sowie ein Areal bei Bad Laasphe im rheinhessischen Schiefergebirge.

Bald kommt noch der Urwald Saarbrücken hinzu. Dann können sich auch dort Lebende den Stamm für die Zukunft im Jenseits aussuchen. „Es gefällt mir, auf diese Weise in den Himmel zu wachsen“, sagt Barbara M., die sich gemeinsam mit ihrem Mann für eine hoch gewachsene Buche in der Eifel entschieden hat. In Urnen aus schnell verrottbarer Maisstärke werden sie sich in der Erde am Fuße der Buche begraben lassen. Eine Plakette am Stamm wird an sie erinnern, die Grabpflege übernimmt die Natur. Die Betreiber geben 25 Jahre Blitzschlaggarantie. Wird ein Baum vor Ablauf dieser Frist von einem Sturm gefällt oder beschädigt, gibt es gratis einen neuen Schößling.

Das Jenseits ist heute an lauschigster Stätte zu lokalisieren. Oder gab es das etwa schon mal, dass Friedhofsbetreiber (wie heute Reinhardswald) mit Wildschweinen, Hirschen und kreisenden Wespenbussarden werben? Der unverbrauchte Lebensraum ist der Standortvorteil des modernen Totenackers. Und der Abschied vom Grabmal ist bereits eingeläutet, auch auf bestehenden Friedhöfen. In Karlsruhe ist eine idyllische Aschelandschaft entstanden, mit Flüsschen und japanischem Garten. Doch der Antifriedhofsaktivist Bruns wird erst glücklich sein, wenn im Sinne Friedrichs II. „jeder nach seiner Façon selig“ werden kann. Und er glaubt an die normative Kraft des Faktischen: „Mit jeder Oma im Garten oder im Wohnzimmer kommen wir dem Ziel einen Schritt näher.“ Darauf will Bernd Bruns nun noch eine Zigarette rauchen und bröckelt Tabak in seine viel beschäftigte Maschine.

Der Abschied

Zwei grelle Lampen leuchten zur Bühne, eine herzerweichende, sanft-schöne Stimme wirft Verse zurück. Sie handeln von Krieg, Geburt und Tod, von Trümmern, Eifersucht und Emigration. Die Zuschauerränge sind dicht gefüllt, Mittwochabend in Hamburg. Die Schauspielerin Dorit L. Meyer liest und singt sich durch das lyrische Werk der jüdischen Dichterin Mascha Kaléko. Von Hoffnungssplittern und seelischen Katastrophen im Auf und Ab des Lebens handeln die Verse – und sind doch voller Spott und bissiger Ironie. Dann die Trauer um Ehemann und Sohn: „…den eigenen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der anderen muss man leben.“ Das Stück ist zu Ende. Gerührt klatscht das Publikum viermal die Schauspielerin zurück auf die Bühne. Schließlich ergreift Christian Hillermann das Wort. Der Bestatter bittet zu Kaltgetränken in die hinteren Räumlichkeiten seines Unternehmens.

Auch an Tagen, an denen nicht – wie einmal im Monat – Bühne und Stuhlreihen im Trostwerk aufgebaut sind, haben die Räume an der Weidenallee im Hamburger Schanzenviertel etwas Theatralisches. Im Alltag steht ein rotgelber Sarg wie die Kulisse einer lustigen Inszenierung mitten im Raum. Kinderbücher, Trauerprosa, Ratgeber füllen nebst frechen Urnen ein Regal. An den Wänden hängen bunt bemalte sargförmige Brettchen. Aber weil in diesen Räumen mit den großen Schaufenstern zum Gehsteig hin normalerweise tatsächlich Trauernde zu Beratung und Geschäftsabschluss sich einfinden, hat der Laden im Quartier – obwohl erst im Oktober des vergangenen Jahres eröffnet – schon weit herum für Aufsehen gesorgt. Vorbeilümmelnde Kinder drückten sich an den Scheiben die Nasen platt und wurden von den 34-jährigen Bestattern Christian Hillermann und Claus Sasse umgehend zur Besichtigung hereingewunken. Auch das Fernsehen war schon hier und filmte eine Kindergartengruppe beim Bemalen eines Sargs.

Das Trostwerk will wieder möglich machen, was viele sich zu verlangen gar nicht mehr getraut haben: dass Angehörige mehrmals Abschied nehmen können, dass sie Sarg, Begräbnisfeier, Grab und Rede selbst gestalten können. Zwar besteht auch in Hamburg die Vorschrift, dass ein Toter höchstens 36 Stunden in privaten Räumlichkeiten liegen darf und nach 14 Tagen begraben sein muss. „Aber Fakt ist, dass es eine weitere gesetzliche Reglementierung gar nicht gibt“, sagt Hillermann. Der sture Ablauf, der fast immer eingehalten wird, sei vielmehr das Ergebnis ökonomischer und effektiver Arbeitsteilung von Spitälern, Bestattern und den Friedhofsbetreibern. Fast alle größeren Bestattungsunternehmen pflegen in Deutschland eine effiziente Arbeitsteilung. Erst kommt der Vertreter mit dem Sargkatalog, dann holt der Fuhrunternehmer die Fuhre ab, der Leichenwäscher besorgt das Einsargen. Zur Trauerfeier kommt der Chef im schwarzen Anzug.

Hillermann und Sasse garantieren, dass „ein Toter nicht durch sieben Hände geht“. Stets betreut ein Zweierteam einen Todesfall, vom Beratungsgespräch bis zur Beisetzung – oder auch darüber hinaus. Außerdem werden auf Wunsch Frauen nur von Frauen bestattet. Das mediokre Image ihrer Branche kontern die Trostwerker mit größtmöglicher Transparenz. Angehörige dürfen auf Wunsch bei jedem Arbeitsschritt dabei sein.

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Das bietet Hinterbliebenen die Möglichkeit, den Abschied so intensiv wie möglich zu gestalten. „Man soll sich die Erfahrung nicht nehmen lassen, körperlich zu spüren und auch zu riechen, dass jemand tot ist“, sagt Hillermann. Die Trennung des Toten von seinem Körper ist so eher nachzuvollziehen. Damit meint er die Separierung, die jedem Hinterbliebenen im Kopf gelingen sollte: Der Körper zerfällt, aber losgelöst davon leben Erinnerung, Liebe und Seele (was immer der Einzelne darunter versteht) weiter. Erst dann, nach Vollzug dieser Trennung, sagt Hillermann, „kann man sich im Guten auf die Erinnerung einlassen“.

Am wichtigsten ist ihm das Wohl der Kunden – also der Lebenden. Mit der Belegung von Doppel- und Dreifachzeiten in den Abfertigungshallen der Großfriedhöfe verhindern die Trostwerker, dass nach dem letzten Orgeltakt die Trauergemeinde umgehend vertrieben wird. Dann setzt Hillermann zu einer Bemerkung an, die fast klingt wie ein Vers von Mascha Kaléko: „Es sind die Trauernden, die mit ihren Gefühlen klarkommen müssen. Dem Toten kann man nicht mehr wirklich Gutes tun.“

(c) DIE ZEIT 15.04.2004 Nr.17

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