Journal 
Juli 1999
Heft 4/99

Universalgelehrter mit musikalischer Praxis

Zum 150. Geburtstag und 80. Todestag von Hugo Riemann

Hugo Riemann
Hugo Riemann
(1849–1919)

Noch heute kommt wohl kaum einer, der sich theoretisch mit Musik beschäftigen will, um den Namen Hugo Riemann herum – als Stammvater der Universitätsdisziplin Musikwissenschaft bekannt und als Begründer der die heutige Harmonielehre dominierenden Funktionsharmonik, ist vor allem sein Musiklexikon das Werk, das ihn berühmt gemacht hat. In mehreren überarbeiteten und ergänzten Ausgaben stellt es bis heute ein entscheidendes Nachschlagewerk dar und existiert inzwischen selbst im Taschenbuchformat. Allein zu Lebzeiten des Autors erschienen acht Auflagen. Später nahmen sich renommierte Musikwissenschaftler wie Wilibald Gurlitt oder Carl Dahlhaus und Hans Heinrich Eggebrecht der Überarbeitung und Neuausgabe des Riemann-Musiklexikons an, das zunächst das Werk eines Einzelnen gewesen war. In diesem Sommer kann sowohl des 150. Geburtstages als auch des 80. Todestages des Forschers gedacht werden.

Mit einem immer an der musikalischen Praxis orientierten und aus eigener musikpraktischer Erfahrung hergeleiteten Verständnis seines Forschungsgegenstandes suchte Riemann als Universalgelehrter nach Übergreifendem, nach grundsätzlichen Regeln vornehmlich des in seiner Zeit verbreiteten Repertoires, versuchte mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, diese Musik und ihre Tradition zu systematisieren. Dabei schuf er Schriften, die bestimmt waren, als Lehrwerke auf die Praxis zurückzuwirken.

Am 18. Juli 1849 wurde Karl Wilhelm Julius Hugo Riemann in Großmehlra bei Sondershausen geboren. Der Vater, Oberamtmann und Rittergutsbesitzer Robert Riemann (1824–1896), wird in einschlägigen Nachschlagewerken als komponierender Musikliebhaber bezeichnet. Seine Werke wurden in Sondershausen aufgeführt, darunter die Oper Bianca Siffredi im Jahre 1881.

Hugo Riemann kam nach einem Studium der Literaturgeschichte in Berlin und der Philosophie und Geschichte in Tübingen 1871 nach Leipzig und widmete sich hier vollends der Musik und Musikwissenschaft. In Leipzig war er Schüler von Salomon Jadassohn und Carl Reinecke am Konservatorium und hörte an der Universität die Vorlesungen des Altertumsforschers Oskar Paul. Riemanns Dissertation Über das musikalische Hören (Musikalische Logik, Hauptzüge der physiologischen und psychologischen Begründung unseres Musiksystems [Leipzig, 1873]) wurde in Leipzig von Moritz Wilhelm Drobisch und Oskar Paul abgelehnt und später in Göttingen von Hermann Lotze und Eduard Krüger angenommen. 

Als Dirigent und Klavierlehrer wirkte Hugo Riemann dann in Bielefeld. Dort heiratete er 1876 Elisabeth Bertelsmann, die Tochter eines Spinnereidirektors und Handelskammerpräsidenten.

Mit Studien zur Geschichte der Notenschrift habilitierte sich der Wissenschaftler 1878 an der Leipziger Universität. Wegen zu geringer Hörerzahlen verließ Riemann Leipzig nach kurzem wieder, um erst 1895 endgültig zurückzukehren. In der sich an-schließenden Zeit als Lehrer in Bromberg begann er die Arbeit an seinem Musiklexikon. Von 1881 bis 1890 wirkte Riemann als Klavier- und Theorielehrer am Hamburger Konservatorium. Von hier aus führte ihn sein Weg, zwar nur für drei Monate, nach Sondershausen, wo Max Reger bei ihm studierte. Nach diesem kurzen Intermezzo folgte Riemann einem Ruf an das Wiesbadener Konservatorium, wo er fünf Jahre unterrichtete; der Komponist Hans Pfitzner war dort sein Meisterschüler.

Zurück in Leipzig wurde Riemann 1901 zum außerordentlichen Professor, 1905 zum planmäßigen Professor und 1908 zum Direktor des von ihm unter dem Namen Collegium Musicum gegründeten Instituts für Musikwissenschaft der Universität Leipzig ernannt und 1914 schließlich auch zum Direktor des ebenfalls unter seiner Federführung entstandenen staatlichen sächsischen Forschungsinstituts für Musikwissenschaft. Am 10. Juli 1919 starb Hugo Riemann in Leipzig.

Der angesehene Wissenschaftler erfuhr internationale Ehrungen, war Ehrenmitglied der Accademia Santa Cecilia in Rom, der Königlichen Akademie Florenz, der Musical Association London. Die Universität Edinburgh verlieh ihm 1899 die Ehrendoktorwürde.

Seinem – wohl vor allem mündlich überlieferten – Motto folgend, was er nicht wisse, darüber schreibe er ein Buch, schrieb er so Vieles und so Vielfältiges wie kein Musikologe nach ihm. Das größte Verdienst des Wissenschaftlers scheint aber im Zusammenführen sämtlicher theoretischer wie praktischer Bereiche von Musik und Musikausübung zu liegen. Für unser heutiges Verständis, das oftmals Spezialisierung über alles setzt, leistete er damit schier Unmögliches.

Allein schon insofern kann das Werk Hugo Riemanns – wenn auch partiell widerlegt beziehungsweise in seine Grenzen verwiesen – für unsere heutigen Diskussionen um Musik und Musikwissenschaft von Interesse sein, lassen die in diesem Jahr vielfältig angekündigten Ehrungen Anregungen für einen spannenden Diskurs erwarten.

Das Institut für Musikwissenschaft und das Kulturamt der Stadt Sondershausen ehrten den Gelehrten vom 17. bis 19. Juni dieses Jahres mit einem internationalen Kolloquium im Sondershäuser Schloß. Neben einem Konzert mit Musik Riemanns widmeten sich 18 Referenten seiner Theorie, seiner Stellung als Musikwissenschaftler und seiner Bedeutung für das 20. Jahrhundert bis hin zur Präsentation eines Projektes, das an der TU Berlin sein funktionsharmonisches Modell auf Computeranalyse überträgt. 

Tatjana Böhme