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Gewürze sind noch der harmlosere Teil der Behandlung
Ayurveda
Erbrechen, bis die Galle kommt
Von Sabine Löhr

30. Januar 2006 Ah, diese entspannenden Ölgüsse über die Stirn, diese sanft massierenden Hände mandeläugiger Schönheiten - wer Ayurveda hört, denkt erst mal an Wellnesskur, seltener an echte Medizin und auf alle Fälle an entschieden raffiniertere Behandlungsmethoden als Omas uralte Zwiebelschmalzwickel.

In Wahrheit ist authentisches Ayurveda zu einem großen Teil Medikamentenmedizin. Welche der gut 8000 verwendeten Heilpflanzen, welche der unzähligen Mineralien, Erze, Metalle und tierischen Produkte tatsächlich zu ayurvedischen Rezepturen zusammengemischt werden, weiß im Westen kaum jemand. Der indische Staat will das bis zum nächsten Jahr ändern.

Zweige vom Zahnbürstenbaum

Ein ayurvedischer Kochkurs lohnt sich genauso wie eine ganze Kur

Nicht als Service für wißbegierige Patienten, sondern um die Schatzkiste traditionellen indischen Wissens vor Biopiraten zu schützen. Denn solange dieses Wissen nicht allgemein zugänglich ist, besteht immer die Gefahr, daß zu Unrecht Patente für längst bekannte Anwendungen und Wirkstoffe vergeben werden. Welcher Patentanwalt liest schon alte Sanskrit-Texte?

Erst im vergangenen Jahr erreichte Indien nach fünf Jahren Rechtsstreit vor dem Europäischen Patentamt, daß das Patent mit der Nummer EP0436257 für ein aus dem Neembaum gewonnenes Fungizid zurückgenommen wurde. Schon alte Texte beschreiben, daß die Blätter des Neembaums Pilze und Bakterien (damals als „Kleinstlebewesen” umschrieben) abtöten können. Neem ist außerdem eine Art altindischer Zahnbürstenbaum, von dem man auch heute noch kleine Zweige zum Zähneschrubben abbricht.

Anfechtbare Patente

Eine Task Force der indischen Regierung identifizierte vor fünf Jahren allein in amerikanischen Patentdatenbanken über 350 weitere anfechtbare Patente. Solche Streitfälle sind jedoch immer langwierig und extrem teuer. Verhindern könnte sie vom nächsten Jahr an das 2001 begonnene Mammutprojekt „Traditional Knowledge Digital Library”. 35.000 überlieferte Doppelverse in Sanskrit und Hindi wurden in der ersten Phase des Projekts von Ayurveda-Ärzten ausgewertet und in ein neu entwickeltes Klassifikationssystem übertragen.

Die Online-Enzyklopädie soll sich damit leicht durchsuchen lassen, und zwar unter anderem auch auf deutsch, englisch, französisch und japanisch. Dabei stellt Ayurveda, „das Wissen vom Leben”, nur einen Teil des eingespeisten Materials dar, denn in Indien herrscht ein erstaunlicher Medizinpluralismus. In die Datenbank kommen außerdem auch die persisch-arabische „Yunani”-Medizin, das tamilische „Siddha”-System, die Physiotherapie Yoga und die oft nur mündlich überlieferte Volksmedizin - quasi der indische Schmalzwickel.

Sechs Jahre Ayurveda-Studium

Wer in Indien krank wird, dem stehen also eine ganze Menge älterer einheimischer Heilsysteme und seit der Kolonialzeit auch die westliche Medizin zur Verfügung. Ob man sich als Patient einen westlich ausgebildeten Mediziner oder einen ayurvedischen Vaidya aussucht, hängt einerseits davon ab, wo man wohnt - in Indien auf dem Land sind die Dres. med. ziemlich selten.

Andererseits spielt auch die Art der Erkrankung eine Rolle. Mit Beinbruch geht man besser zum Chirurgen, Arthritis ist eher ein Fall für den Ayurveda-Spezialisten. Der hat entweder eine traditionelle, oft familieninterne Lehrer-Schüler-Ausbildung genossen. Oder aber sechs Jahre an einem jener über zweihundert Colleges oder Universitäten für ayurvedische Medizin studiert, die staatliche Abschlüsse vergeben.

Sanskrit-Texte als Studiengrundlage

Mit dem im Westen holistisch wabernden, spirituell schillernden Massageliegen-Ayurveda hat dieses Studium wenig zu tun, selbst wenn die Trendwelle inzwischen sogar nach Osten schwappt und der Begriff New Age seit einigen Jahren auch in der urbanen indischen Mittelklasse angekommen ist.

Als wichtigste Studiengrundlage gelten vor allem drei klassische Sanskrit-Texte: die Kompendien der (möglicherweise mythischen) Ärzte Caraka, Sushruta und Vagbhata. Die Entstehungszeit dieser detaillierten, praxisorientierten und vollkommen unesoterischen Lehrbücher ist unbekannt, sie liegt möglicherweise in den ersten beiden Jahrhunderten nach Christus. Das darin gesammelte Wissen ist sicher älter, bestimmt aber keine fünftausend Jahre, wie gerne behauptet wird.

Frühe indische Chirurgen

Nationalbewußte indische Wissenschaftler datieren die Kompendien im Zweifelsfall gerne einige hundert Jahre früher, damit sie auf alle Fälle in die Zeit vor dem Feldzug Alexanders des Großen nach Indien fallen. Denn nur dann wäre eindeutig bewiesen, daß die prinzipiell ähnlich aufgebaute griechische Humoral-Medizin beim Ayurveda abgekupfert hat und nicht andersherum.

Von den erstaunlichen chirurgischen Leistungen früherer indischer Ärzte ist leider wenig übriggeblieben. Dabei beschrieb schon Sushruta detailliert 121 verschiedene Messer, Zangen, Katheter und Sonden - eben alles, was man brauchte, um Tumore zu entfernen, Haut zu verpflanzen oder sogar Nasenplastiken aufzubauen. Die Techniken sind nachlesbar, wurden aber wegen späterer religiöser Tabus nicht bis in die Neuzeit praktiziert.

Welcher Dosha-Typ bin ich?

Viel interessanter findet es der westliche Ayurveda-Anhänger ja sowieso, seinen persönlichen Dosha-Typ zu ermitteln. Ein Tip: Bloß nicht mehrere Ärzte fragen. Die Ergebnisse könnten sehr unterschiedlich ausfallen. Perfekt ausbalanciert sind diese Vitalkräfte nämlich nie. Neben einer prinzipiellen Neigung zu Vata (Wind), Pitta (Galle) oder Kapha (Schleim) hat man wechselnd von dem einen zuviel oder von dem anderen zuwenig.

Ein guter Arzt kann das sehen, erfragen und seit dem 13. Jahrhundert auch fühlen: Da brachten Ärzte im Gefolge der muslimischen Eroberer die Pulsdiagnose nach Indien. Von der persisch-arabischen Medizin übernahm man außerdem Medikamente auf der Basis von Metallen, vor allem des giftigen Quecksilbers. Im Gegenzug wurden ayurvedische Texte ins Arabische übersetzt.

Schwermetalle in Medikamenten

Wenn Robert Saper von der Boston University School of Medicine im Journal of the American Medical Association (2004; 292: 2868-2873) von geradezu toxischen Dosen von Blei, Quecksilber und Arsen in zwanzig Prozent aller von ihm untersuchten 70 ayurvedischen Medikamente verschiedener Hersteller berichtet, ist das also nur eine Spätfolge dieses kulturellen Austauschs. Ob die Schwermetalle nun in gewollter Dosis vorlagen oder Ergebnis einer versehentlichen Verunreinigung waren, konnte Saper leider nicht beantworten.

Ayurvedische Medikamente sollte man also mit Vorsicht betrachten. Das Gesundheitssystem Ayurveda legt ohnehin großen Wert auf Prävention. Dazu gehören etwas Gymnastik, viel Schlaf, gutes Essen und penible Körperhygiene. Auch ayurvedisches Zahnpulver aus Südasien sollte man besser meiden, es hat oft abrasive Wirkung. Der wichtigste Bestandteil der ayurvedischen Gesunderhaltung ist ein sehr schmackhafter: die Küchenmedizin.

Teufelsdreck gegen Verstopfung

Weil die meisten langwierigen Krankheiten als Folge mangelnder Verdauung angesehen werden, gilt das Abschmecken mit Kräutern, Salzen und Gewürzen als ideale Vorbeugung gegen alle möglichen Zipperlein. Bitterer Teufelsdreck, gewonnen aus den Blüten des Asant und „Asafötida” genannt, ist beispielsweise gut gegen Verstopfung. Steinsalz fördert die Sehkraft, Ingwer stärkt das Herz. Ein ayurvedischer Kochkurs lohnt sich vielleicht genauso wie eine ganze Kur.

Wenn man dann doch erkrankt, können schriftgetreue Therapien sehr viel unangenehmer werden, als man sich das beim Blättern in Wellness-Prospekten mit palmengesäumten Stränden vorstellt. Als klassische Reinigungstherapie bei generellem Erholungsbedarf gilt das „Pancakarma”, das „Handeln in fünf Schritten”.

Tassenweise Öl

Das, was Westler so schätzen, also Ölmassagen und Kräuterdampfbäder, gilt unter traditionsbewußten Ärzten als Vorbereitung dazu. Eigentlich käme als nächstes das tägliche Trinken von mehreren Tassen entgiftenden Öls. Der darauffolgende Therapieschritt heißt „Vaman”. Dabei darf man sich unter ein paar Hunderten beschriebenen Emetika das passende aussuchen. Erwünschte Folge: Erbrechen, bis die Galle kommt.

Es wird weiter purgiert: Abführmittel, die Eselurin enthalten, sind angeblich gut für Epileptiker. Leprakranke sollten lieber auf Pferde-urin bestehen. Als zum Ekel neigender Laie möchte man gar nicht so genau wissen, was alles, außer Kräutern, die Medikamente enthalten könnten. Haut? Haare? Nägel? Vielleicht Fäkalien (sicher irgendwie gereinigt)? Einläufe und die dafür geeigneten Instrumente sind ebenfalls eine Wissenschaft für sich. Da liest man von Einlaufspitzen aus Gold, Silber, Kupfer oder Bambus, die Einlaufbeutel dürfen aus Büffelblasen sein. Schließlich wären da noch die Blutegel zum ebenfalls reinigenden Aderlaß.

Unangemessene Romantisierung

Fast ist man froh, daß das Pancakarma den Schriften zufolge nicht besonders geeignet ist für zornige, ängstliche, schwache, müde, sehr dicke oder sehr dünne Menschen. Auch nicht für Kinder, Alte, Studenten, Sportler oder Schwangere. Zu irgendeiner dieser Risikogruppen gehört man im Zweifel schon dazu. Das alles spricht nun keineswegs gegen die zweifellos vorhandenen Behandlungserfolge des Ayurveda, vor allem bei chronischen Krankheiten.

Es spricht auch nicht gegen das beeindruckende Verständnis von Phytomedizin. Indische Ärzte haben durchaus Anspruch auf den Titel als Pflanzenmedizinweltmeister. Es spricht nur vieles gegen eine unangemessene Romantisierung, wie sie im Westen und auch von der ayurvedischen Pharmaindustrie betrieben wird, die - entgegen den überlieferten Schriften - eine nostalgische Vergangenheit voll sanfter Heilkunst beschwört.

Lange Behandlungszeiten

Ayurveda-Erfolge stellen sich oft erst mittelfristig ein. Die Behandlungszeiten sind häufig auch indischen Kranken zu lang. Damit sich ihre Patienten schneller besser fühlen, haben quacksalberische Ayurveda-Ärzte schon Steroide unter die Medikamente gemischt. Von Wunderheilungen, sei es bei Aids oder Krebs im Endstadium, liest man hin und wieder. Das ist insofern erstaunlich, als schon das fast zweitausend Jahre alte Caraka-Kompendium Ayurveda-Ärzten in zynischstem Pragmatismus rät, die Finger von unheilbar Kranken zu lassen. Zu leicht könnte man schließlich scheitern und damit seine Reputation verlieren.

In westlichen oder auf Touristen spezialisierten Kliniken wird man als Patient ohnehin nur mit einer - je nach Geschmack als modernisiert oder abgemildert zu beschreibenden - Form von Ayurveda konfrontiert. Wer sich einer solchen Kur unterziehen will, ohne dabei bestimmte Weltanschauungen untergejubelt zu bekommen, sollte in Deutschland genauer hinschauen. Wenn das ganze „Maharishi Ayurveda” heißt oder ein Angebot der „Deutschen Gesellschaft für Ayurveda” ist, sollte man sich schon vorher überlegen, was man insgesamt von Maharishi Mahesh Yogi und seiner transzendentalen Meditation hält.


Literatur: Monika Kirschner, Bärbel Schwertfeger: „Der Ayurveda-Boom”, vgs Verlagsgesellschaft, 2004

Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.01.2006, Nr. 4 / Seite 65
Bildmaterial: Imago
 
Lesermeinungen zum Beitrag [2]
 Erbrechen, bis die Galle kommt 30.01.2006, 16:21
 Sanfte, wirksame Medizin mit großen Erfolgen bei vielen ernsten Problemen. 30.01.2006, 15:53