Israel und Palästina - Wem gehört
das Heilige Land?
Der amerikanisch-britische Feldzug zum Sturz von Saddam Husseins Diktatur wird zu einer
Neuordnung der gesamten Region führen – zu Gunsten Jerusalems. Die Schockwellen
werden bis nach Teheran und Damaskus reichen. Der Feldzug durch ein Kerngebiet
der arabischen Zivilisation markiert eine Zäsur in den Beziehungen zwischen dem
Okzident und dem Orient. Amerika hat der Welt ein Lehrstück militärischer
Machtprojektion vorgeführt, doch der Krieg wurde gegen den Widerstand des
bestehenden internationalen Systems geführt und hat die Gesetze der
Staaten-Ordnung entscheidend verschoben. Washington hat klar gemacht, dass es
die alten Regeln nicht mehr befolgen will, weil es sie für hinderlich und
überholt hält. Die neuen Regeln – Prävention, "Koalitionen der
Willigen" nach Bedarf – dienen zunächst nur Amerika. Aber was dient dem
Rest der Welt? Tatsache ist, dass die USA seit dem Ende der Supermachtrivalität
mit unterschiedlichen Strategien und einer breiten Palette von Instrumenten,
die von der Wirtschaft über die Medien bis zur Diplomatie und Militärmacht
reichen, an der Konsolidierung einer Pax
Americana arbeiten. Die Palästinafrage ist der Lackmustest dafür, ob die
Regierung Bush es ernst meint mit der Befreiung und Demokratisierung des
Mittleren Ostens. Deshalb besteht zwischen dem Irak-Krieg und dem scheinbar
endlosen israelisch-palästinensischen Konflikt ein starker emotionaler und
politischer Zusammenhang. Dies umso mehr, als das mächtige Amerika, das jetzt
dabei ist, das Zweistromland in seinen Einflussbereich zu bringen, gleichzeitig
seine schützende Hand über den Kleinstaat Israel hält. Kaum ein Konflikt erregt die arabische Welt so wie jener zwischen
Israelis und Palästinensern: Wie können beide Völker in einem Gebiet leben, in
dem beide historische Wurzeln haben? Seit dem Ausbruch der Al-Aksa-Intifada am 28. September 2000 bestimmen Gewalt und
Gegengewalt das Leben der Israelis wie das der Palästinenser. Die Anschläge des
11. September 2001 in den USA haben sich auch auf den Nahostkonflikt verheerend
ausgewirkt. Seitdem führen nicht nur die USA einen weltweiten „Krieg gegen den
Terror“, auch die israelische Regierung betrachtet den Konflikt in den
Kategorien des „Terrorismus“ – eine Sichtweise, die irreführen- der nicht sein könnte. Der amerikanische Präsident George W. Bush hat unmittelbar vor
Beginn des Irak-Krieges versichert, dass nach einem Regimewechsel in Bagdad die
Umsetzung des seit Monaten diskutierten Fahrplans (Road map) zur Schaffung
eines pa-lästinensischen Staates tatkräftig vorangetrieben werde. Die zentralen
Zielsetzungen des vom sogenannten Quartett (USA, UNO, EU und Russland,
konstituiert im April 2002 in Madrid) vorgelegten Planes sind klar:
Wiederaufnahme von Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern,
Ausrufung eines vorläufigen palästinensischen Staatswesen nach Erfüllung
gewisser Vorbedingungen, Vereinbarung über die definitiven Grenzen des
Palästinenserstaates bis zum Jahre 2005. Von da an soll ein „unabhängiger,
lebensfähiger, souveräner palästinensischer Staat in Frieden und Sicherheit
Seite an Seite mit Israel“ leben.
Die Juden leiten ihr Recht auf das Land aus der göttlichen
Verheißung („Das gelobte Land“) und aus der Geschichte bis zur Vernichtung des
jüdischen Staates durch die Römer (70 n. Chr.) ab. Sie sehen die Palästinenser
nicht als eigenständiges Volk, sondern als Angehörige bereits bestehender
Staaten, darunter an erster Stelle Jordanien. Araber und Moslems sehen die Juden
generell als Religionsgemeinschaft, nicht als Volk mit Anspruch auf einen
eigenen Staat. Die Palästinenser verweisen auf ihren Anspruch auf das Gebiet
seit der Besiedlung Palästinas zu Beginn der islamischen Geschichte (7.
Jahrhundert) mit Mohammed und seiner
Religionsstiftung des Islam. Es ist ein Faktum, dass Araber und Juden immer im
Nahen Osten gelebt haben, wenn auch die Eigenstaatlichkeit der Israelis für
annährend 2.000 Jahre erloschen war. Tatsächlich haben sich im Laufe des späten
19. und des 20. Jahrhunderts zwei jüdische Gemeinschaften herausgebildet, die
eine religiös, die andere ethnisch definiert. 1948 teilten die Vereinten Nationen das umstrittene Palästina in zwei
Hälften, um beiden Völkern ihr Recht auf einen eigenständigen Staat zuzugestehen.
Dieses Urteil wurde allerdings nur von Seiten der Juden akzeptiert, woraufhin
auch nur einseitig der Staat Israel ausgerufen wurde. In dem darauffolgenden
Krieg und weiteren Auseinandersetzungen in den nächsten Jahrzehnten gelang es
Israel durch seine militärische Überlegenheit die Vormachtstellung in ganz
Palästina einzunehmen. Seitdem setzt sich der Staat Israel zusammen aus dem
israelischen Kernland und den seit 1967 besetzten Gebieten Ostjerusalem,
Gaza-Streifen und Westjordanland. Die im Osloer Friedensabkommen 1993 festgelegte Teilautonomie
für die palästinensische Bevölkerung in den größeren palästinensischen Städten
der besetzten Gebiete ließ die Hoffnung auf einen baldigen, eigenständigen
palästinensischen Staat steigen. Jedoch scheint seit dem Ausbruch der Al-Aksa-Intifada im September 2000
selbst die bereits zugestandene Teilautonomie gefährdet. Um ein besseres
Verständnis für den Konflikt im allgemeinen, aber auch für die
unterschiedlichen Ideologien, Herangehensweisen, Reaktionen und Strategien im
einzelnen zu erlangen, ist der geschichtliche Hintergrund, der auf die
Ursprünge des Konflikts vor der Staatsausrufung Israels eingeht, von größter
Bedeutung. Geschichtlicher
Rückblick
2000 Jahre war die Region, welche die Briten „Middle East“ nennen, weitgehend eine
Einheit: unter Römern, Byzantinern, Arabern und unter den osmanischen Türken.
Das Osmanische Reich bot, bei allen seinen Nachteilen, relative Stabilität und,
vor allem, Bewegungsfreiheit. Zwischen Kairo und Istanbul, zwischen Damaskus
und Beirut, zwischen Jerusalem und Bagdad gab es kaum Grenzen. Grenzen mit
Flaggen, Zollposten und Passkontrollen sind eine Erfindung der Sieger des
Ersten Weltkrieges. Ihre künstlichen Grenzziehungen trennten Menschen, die
Jahrhunderte zusammen gelebt hatten. Nach der Zerstörung des selbständigen jüdischen Staates
durch die Römer im Jahre 70 n.Chr. begann für das jüdische Volk die Diaspora (griechisch für Zerstreuung).
Die Juden wurden über Vorderasien, Nordafrika und den Mittelmeerraum zerstreut.
Eine kleine jüdische Minderheit blieb jedoch immer im Land. Dieser Landstrich
hieß seit 135 n. Chr. „Palästina“. Größere jüdische Gemeinden gab es in
Jerusalem, Hebron, Safed und Tiberias. Einigendes Band für die Juden in der
Diaspora waren über die Jahrhunderte stets der messianische Gedanke und die
Idee von Heimkehr und Wiedererrichtung eines jüdischen Staates, in dem ihnen „von Gott gegebenen Land“. Diese
Sehnsucht nach „Zion“, dem Land der
Vorväter (ursprünglich nur eine Bezeichnung für einen Hügel Jerusalems und die
auf ihm angelegte Burg), artikuliert sich bei allen Juden seit jeher am
Vorabend des Pessach-Festes in dem
Wunsch: „Nächstes Jahr in Jerusalem“.
Daher zogen auch immer wieder im Lauf der Geschichte einzelne
Juden aus religiösen Motiven nach Palästina. Doch blieb diese Form der
Einwanderung zunächst politisch bedeutungslos. Erst allmählich fanden die Juden
Verständnis für ihre politischen Wünsche. Bereits Napoleon hatte 1799 eine Proklamation erlassen, die dem jüdischen
Volk das Recht auf den Besitz Palästinas zusprach. Doch besonders populär war
die Idee, dieses dürre, unfruchtbare Land in die dauernde Heimat der Juden
umzuwandeln, vorerst selbst unter den Juden nicht. Ende des 19. Jahrhunderts nahmen der Rassenhass und die
Judenhetze in Europa überall zu. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
erwuchs aus verschiedenen Quellen die moderne jüdische Nationalbewegung, der Zionismus[1]. Damals wurde
Russland von einer Welle von Pogromen erschüttert, und im übrigen Europa fasste
der Antisemitismus
immer mehr Fuß. Seit der Emigration aus Judäa nach der Zerstörung Jerusalems
durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. lebten die jüdischen Gemeinden Europas über
ein Jahrtausend lang in einem äußerst labilen Gleichgewicht mit ihrer Umwelt.
Von den Christen wurden die „Schuldigen am Kreuzestod Jesu“ in eine Sonderrolle
gedrängt. Juden durften im Mittelalter meist keinen Grundbesitz erwerben, kein
Handwerk ausüben und mussten in eigenen Vierteln, den Ghettos, wohnen.
Gleichzeitig aber brauchte man sie als Händler und Geldverleiher. Als
Sündenböcke waren sie bestens geeignet: Das Zusammenleben mit ihren
christlichen Nachbarn wurde immer wieder von Massakern und Vertreibung
unterbrochen. Um 1880 entstanden mehrere internationale Organisationen,
die die Errichtung jüdischer Siedlungen in Palästina vorbereiten sollten.
Reiche Juden aus Europa wie die Familien Rothschild
oder Montefiore gehörten von der
Mitte des 19. Jahrhunderts an zu den Gründern neuer jüdischer Siedlungen im
osmanisch regierten Land. Sie kauften den Paschas in Beirut, Kairo oder
Damaskus Ländereien ab, die jene meist nie gesehen hatten, weil sie schon seit
Generationen an Menschen verpachtet waren, die sich als ihre Eigentümer
fühlten. Früher hatten solche Verkäufe für die Ansässigen kaum etwas verändert. Rothschilds Beamte
und Siedler aber vertrieben die arabischen Pächter. Arme Juden aus Osteuropa
zogen nach und versuchten, zwischen Trockenheit und Sümpfen ihre Ernten einzufahren.
Auf diese Weise stieß das Eigentumsrecht der Osmanen auf die europäischen
Vorstellungen von Grundbuch und Grundnutzung. Später machten sich viele Juden
ein anderes osmanisches Gewohnheitsrecht zunutze: Wer innerhalb von 24 Stunden
ein Dach über den Kopf auf „herrenlosem Kronland“ errichtete, konnte sich das
Land im Umkreis von einem Tagesmarsch aneignen. Definition „Antisemitismus“: Antisemitismus ist eine Haltung, die ihren Ausdruck in
feindseligem Verhalten und der Bekämpfung von Angehörigen des jüdischen
Glaubens findet. Die Motive sind zumeist wirtschaftlicher oder religiöser Natur
und rational nicht begründbar. Der Antisemitismus kann auf eine lange
Geschichte zurückblicken – bereits im Buch Esther
wird über ein geplantes Judenpogrom im Perserreich zur Zeit des Xerxes (485-465 v. Chr.) berichtet. Dies
setzte sich auch in der Spätantike, über das Mittelalter bis hin zur Neuzeit
fort, wobei Juden als kulturelle und religiöse Minderheit oft eine
„Sündenbock“-Funktion einnahmen. Ideologisch untermauert wurde der Antisemitismus
dann im 19. Jahrhundert und fand schließlich während des Dritten Reiches seinen
tragischen Höhepunkt in der Form eines staatlich organisierten Völkermordes mit
dem Ziel, jüdisches Leben und jüdische Kultur völlig auszulöschen. In Russland bildete sich eine Bewegung, die die Rückkehr
nach Israel und die Rückbesinnung auf die Landarbeit als Mittel zur Erneuerung
des jüdischen Volkes verstand. Aus ihr ging die erste Einwanderungswelle, Alija
(hebräisch für Aufstieg nach Zion), in den Jahren 1882 bis 1904 hervor.
Diese ersten etwa 25-30.000 Pioniere waren weniger an einer Staatsgründung als
an der Errichtung einer eigenständigen landwirtschaftlichen Lebensgrundlage
interessiert. Die Einwanderer waren selbstverständlich alle Juden, aber sie
waren keineswegs alle Zionisten. Starke Impulse für die Gründung eine modernen jüdischen
Staates gingen von dem Wiener Journalisten und Schriftsteller Theodor Herzl aus, der unter dem
Eindruck von wachsendem Antisemitismus in Frankreich (Dreyfuss-Affäre) in
seinem Buch „Der Judenstaat“ (1896)
die Errichtung einer „nationalen Heimstätte“ für das jüdische Volk forderte. Herzl hatte zwei mögliche Territorien im
Auge, Argentinien oder Palästina: „Argentinien
ist eines der natürlich reichsten Lände der Erde, von riesigem Flä- cheninhalt, mit einer
schwachen Bevölkerung und gemäßigtem Klima“. Die Alternative allerdings
inspirierte Herzl mehr: „Palästina ist unsere unvergessliche
historische Heimat (...) Wenn Seine Majestät der Sultan uns Palästina gäbe, könnten
wir uns dafür anheischig machen, die Finanzen der Türkei gänzlich zu regeln.
Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden
den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen“. Der von Theodor Herzl einberufene
Zionistische Weltkongress 1897 in
Basel formulierte das Ziel, „für das
jüdisch Volk in Palästina eine durch das Völkerrecht geschützte Zuflucht zu
schaffen“. Diese nationale Heimstätte sollte „die kulturellen und religiösen Rechte“ der anderen Einwohner der
Region „respektieren“. Zur
Finanzierung des Landkaufs und des Baus von Siedlungen in Palästina wurde 1907
der Jüdische Nationalfonds (Jewisch
National Fund) gegründet. Auf die erste Einwanderungswelle folgten vier weitere
vor der Staatsgründung 1948.
Die zionistischen Einwanderer mit ihrer Sehnsucht nach Errichtung einer
jüdischen nationalen Heimstatt trafen auf eine bereits in Palästina lebende
arabische Bevölkerung, deren Nationalgefühl, parallel zu jenem der Juden,
ebenfalls erwachte. Dies war historisch bedingt. Von 1517 bis 1917 war der
Landstrich Palästina Teil des Osmanischen Reiches. Unter dem permanenten Druck
der türkischen Besatzung erlangte der arabische Nationalismus während des
Ersten Weltkrieges seine Breitenwirkung. Bei Ausbruch des 1. Weltkrieges schlug
sich das Osmanische Reich auf die Seite Deutschlands und der Habsburger - Monarchie.
Großbritannien, Frankreich und Russland waren die Hauptgegner. Großbritannien
wollte noch mehr „Sicherheit“ für den Weg nach Indien erreichen, d. h. den
Suezkanal sichern, musste jedoch bald erkennen, dass das angeblich so schwache
Osmanische Reich dank deutscher Militärhilfe kein zu unterschätzender Gegner
war. Verbündete wurden gesucht – und auch gefunden: die Araber. Die arabischen
Nationalisten wollten die Fremdherrschaft der Osmanen endlich abschütteln und
London „eine feste und dauerhafte
Allianz“ durch Gebietszusagen mit den Arabern begründen, was im sogenannten
McMahon-Brief vom 24. Oktober 1915
versprochen wurde. In einem Briefwechsel hatte der britische Hochkommissar in Ägypten,
Sir Henry McMahon, dem Großscherif Hussein
bin Ali von Mekka zugesichert, nach Kriegsende und der Niederlage der
Türken ein „Königreich Arabien“ zu errichten, das Syrien, den Irak,
Saudi-Arabien und Palästina unter Führung Husseins
umfassen sollte. So beteiligten sich die arabischen Hedschas-Stämme 1916 unter Führung des legendären britischen Oberst
Thomas E. Lawrence („Lawrence von
Arabien“) am Kampf der Briten gegen die türkische Herrschaft und ihre deutschen
Hilfskräfte. Im Frühjahr 1917 nahm die arabisch-britische Armee Bagdad
ohne größeren Widerstand der zahlenmäßig unterlegenen Türken ein. 1918 zogen
sie in Damaskus ein. Bis zum Waffenstillstand im September 1918 blieb Bagdad in
arabischer Hand. Die Nationalisten sahen sie schon als neue Hauptstadt Großarabiens.
Doch im Frieden mussten sie erfahren, was T.
E. Lawrence später in einem bitteren Rückblick so formulierte: „Von
Anfang an war es offenkundig, dass im Fall unseres Sieges diese Versprechungen
nichts weiter waren als totes Papier. Und wäre ich ein ehrlicher Berater der
Araber gewesen, hätte ich ihnen empfohlen, nach Hause zu gehen und nicht ihr
Leben für so was zu riskieren.“ Die arabischen Hoffnungen auf Unabhängigkeit und politische Selbstbestimmung wurden nach dem Zusammenbruch des türkischen Reiches durch die Politik der Großmächte England und Frankreich jäh zerstört. Entgegen der gemachten Versprechungen, wonach das gesamte, den Türken abgenommene Gebiet den arabischen Verbündeten überlassen werden sollte, teilten sich Großbritannien und Frankreich Mesopotamien, Syrien und Palästina nebst angrenzenden Gebieten. Beide Mächte errichteten zwischen den Weltkriegen im nahen Osten eine neue Fremdherrschaft und unterdrückten die Freiheitsbestrebungen der arabischen Völker. Grundlage dieser Politik war das 1916 zwischen Großbritannien und Frankreich abgeschlossene und nach den Unterhändlern benannte geheime Sykes-Picot-Abkommen, in dem die beiden Mächte die Region nach Interessenssphären unter sich aufgeteilt hatten. Frankreich erhielt 1920 Syrien und den Libanon als „Mandatsgebiete“, Großbritannien den Irak (bestehend aus den drei osmanischen Provinzen Bagdad, Mosul und Basra), Transjordanien und Palästina.
Parallel zu dieser Entwicklung
erhielt auch der jüdische Nationalismus Aufwind. Aus Furcht, der Zionismus
könnte sich zugunsten des Deutschen Kaiserreiches erklären, hatte am 2.
November 1917 die britische Regierung in der sogenannten Balfour-Deklaration,
benannt nach ihrem Außenminister Lord Arthur
James Balfour, auch den Vertretern des zionistischen Judentums die
Errichtung einer „nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische
Volk“ versprochen. Die Briten hatten also zuerst das Gebiet den Arabern versprochen, dann
sich selbst zugeschanzt und schließlich noch ein drittes Mal verteilt, in
diesem Fall an die zionistische Bewegung. Aus dieser schwankenden und doppelzüngigen
Schaukelpolitik, vor allem der britischen Regierung, resultiert in erheblichem
Maße die heutige israelisch-arabisch-palästinensische Problematik. Denn beiden
Seiten wurden Versprechungen gemacht, die nicht oder nur zu einem Teil erfüllt
wurden. So gesehen tragen beide Parteien bis heute an den Folgen der
kolonial-imperialistischen Epoche des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Alliierten stimmten der Balfour-Deklaration zu, und 1922 übertrug der 1920 gegründete
Völkerbund Großbritannien das Mandat für die Verwaltung Palästinas mit der
Aufgabe, „im Land einen politischen,
administrativen und wirtschaftlichen Zustand herzustellen, der geeignet ist,
die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk zu ermöglichen
und gleichzeitig die Entwicklung von Einrichtungen einer freien Regierung sicher
zu stellen dergestalt, dass die staatsbürgerlichen und religiösen Rechte aller
Einwohner der Region geachtet werden“. Zwischen 1880 und 1940 trafen rund 400.000 jüdische Siedler
in Palästina ein und ließen sich friedlich auf dem Land nieder, das der
Vorstand der Zionistischen
Weltorganisation und verschiedene Fonds den arabischen Besitzern abgekauft
hatten. Weil die Zionisten keine Kolonialmacht sein wollten, die ihren
Wohlstand der Ausbeutung der lokalen Bevölkerung verdankte, verpflichteten sie
sich, nur jüdische Arbeitskräfte einzusetzen. Die Araber sahen sich naturgemäß
in ihren nationalen Hoffnungen enttäuscht und unternahmen schon in den Jahren
1920/21 erste Überfälle auf jüdische Siedlungen. Der Widerstand der
Einheimischen gegen das zionistische Projekt war kein Geheimnis. Die vom
amerikanischen Präsidenten Wilson
eingesetzte King-Crane-Kommission
berichtete bereits 1919, dass „die
Zionisten die praktisch vollständige Enteignung der gegenwärtigen
nicht-jüdischen Einwohner Palästinas anstrebten“ und meinte, dass letztere
– „nahezu neunzig Prozent der Gesamtbevölkerung
– leidenschaftlich gegen das gesamte zionistische Programm opponierten“.
Dessen Durchsetzung, so warnte die Kommission, „wäre eine grobe Verletzung des Prinzips der Selbstbestimmung und des
Völkerrechts“. Diese Warnung wurde von den Großmächten, die USA
eingeschlossen, in den Wind geschlagen. Die Zusammenstöße in den 20er und 30er Jahren gipfelten 1929 in einem
Massaker der arabischen Bevölkerung an den Immerhin erkannte der nüchterne Realist David Ben Gurion, der erste Ministerpräsident Israels, worum es
dabei ging. In einer Rede erklärte er bereits 1937, dass „wir bei unserer politischen Argumentation im Ausland den arabischen
Widerstand klein reden“, doch müssen „wir
unter uns der Wahrheit ins Auge blicken. Wenn wir durch die Gründung des
Staates zu einer starken Macht geworden sind, werden wir die Teilung aufheben
und uns auf ganz Palästina ausdehnen. Politisch
nämlich sind wir die Aggressoren, während sie sich selbst verteidigen (...) Das
Land gehört ihnen, weil sie es bewohnen, während wir von draußen kommen und
hier siedeln, und aus ihrer Perspektive wollen wir ihnen ihr Land wegnehmen,
noch bevor wir hier richtig angekommen sind“. Der Aufstand „ist aktiver Widerstand seitens der Palästinenser
gegen das, was sie als Usurpierung ihrer Heimat durch die Juden betrachten
(...) Hinter dem Terrorismus steht eine Bewegung, die zwar primitiv, aber von
Idealismus und Selbstaufopferung geprägt ist“. Britische Truppen und zum Teil jüdische
Verteidigungseinheiten schlugen den Aufstand mit beträchtlicher Brutalität
nieder, nachdem das Münchner Abkommen von 1938 ihnen die Ent sendung
umfangreicher Militärkräfte gestattete. Im Bericht einer britischen
Regierungskommission wurde 1937 erstmals der Gedanke einer Teilung des Landes
in einen jüdischen und einen arabischen Teil geäußert. Die arabische Seite
lehnte jedoch diese Vorstellung kategorisch ab. Am Vorabend des Zweiten
Weltkrieges (1939) änderte Großbritannien aus strategisch-taktischen Gründen
seine bis dahin eher pro-jüdische Politik zugunsten einer deutlich
pro-arabischen Orientierung. Als der Krieg mit Nazideutschland drohte, wollten
die Engländer es sich nicht mit der arabischen Welt verderben. Sie brauchten
das Öl des Nahen Ostens und Sicherheit für den Seeweg durch den Suezkanal.
Nachdem unter arabischem Druck schon vorher die Zahl jüdischer Einwanderer
gesenkt worden war, begrenzte die britische Regierung in einem „Weißbuch“ 1939
die jüdische Einwanderung nach Palästina auf 75.000 Menschen innerhalb der
nächsten fünf Jahre. Nach diesen fünf Jahren sollte keine jüdische Einwanderung
ohne Zustimmung der Araber erfolgen. Am 11. Mai 1942 wurde durch amerikanische Zionisten das „Biltmore-Programm“ veröffentlicht. In
diesem forderten die Zionisten, dass Palästina in Anbetracht der
Judenverfolgung in Deutschland zu einem rein jüdischen Staat gemacht werden
solle. Großbritannien lehnte das ab und behielt das Ziel, einen
jüdisch-arabischen Staat zu schaffen, bei. Um eine Ausbreitung der Unruhen zu
verhindern, versuchten die Briten, die jüdische Einwanderung mit zum Teil
brutalen Methoden zu stoppen. An dieser Politik hielten sie selbst angesichts
des Holocaust bis 1947 fest. Viele Zionisten warfen den Briten daraufhin vor,
sie hätten ihre Versprechen in Bezug auf eine „jüdische Heimstätte“ gebrochen,
und schlossen sich „terroristischen“ Gruppen an, die innerhalb der
zionistischen Bewegung Minderheiten waren. Als sich 1946 ein Kämpfer der militanten jüdischen Untergrundorganisation
Irgun Zwai Leumi, abgekürzt Ezel (Ezel ist das Akrnonym der hebräischen
Worte „Nationale Militärorganisation“) vor einem britischen Gericht
verantworten musste, erinnerte seine Argumentation in fataler Weise an die
Parolen, mit denen Palästinenser heute ihre Attentate rechtfertigen: „Dieser Krieg ist ein
Befreiungskrieg, der Krieg eines unterdrückten Volkes gegen seine Unterdrücker,
eines Volkes, dem seine Heimat gestohlen wurde, gegen den, der sie gestohlen
hat. Trotzdem nennt ihr die Mitglieder der jüdischen Armee ‚Terroristen’. Ein
uralter missbräuchlicher Ausdruck, wie ihn alle Tyrannen gegen Kämpfer für die
Freiheit mit der Absicht benutzen, deren Idealismus in den Schmutz zu ziehen“.
Zwischen 1940 und 1948 gelang es den Untergrundorganisationen,
fast 100.000 Einwanderer nach Palästina einzuschleusen. Die wachsende Zahl von
Neusiedlern, die immer mehr Grundbesitz kauften, gerieten
in diesen Jahren in immer härtere Auseinandersetzungen mit den eingesessenen
Arabern, die um ihre Rechte und Vorrechte bangten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verschob sich das internationale
Gewicht zugunsten der USA. Diese unterstützen die Forderung nach freier
Einwanderung in Palästina, weil andere Staaten weiterhin die Aufnahme
verweigerten. Ohne die Unterstützung der jüdischen Diaspora in Amerika hätte
Israel vielleicht gar nicht entstehen können. Als den amerikanischen Juden das
Ausmaß des Massenmordes an den europäischen Juden bewusst wurde, entstand aus
ihrer bis dahin halbherzigen Unterstützung für den Zionismus eine Massenbewegung.
Ein jüdischer Staat würde ein Zufluchtsort sein, bei dessen Aufbau man helfen
könnte; er würde die Schuldgefühle der amerikanischen Juden lindern, die
europäischen Juden nicht gerettet zu haben; und er würde ein Gegengewicht zu
der damals verbreiteten Vorstellung von der Passivität der Juden bilden. Zwischen 1945 und 1948 waren mehr als zweieinhalb von insgesamt
fünf Millionen amerikanischer Juden Mitglieder in einer der Organisationen, die
sich zum Ziel gesetzt hatten, einen jüdischen Staat zu schaffen. Bis 1948
hatten sie bereits die gewaltige Summe von 400 Millionen US-Dollar an Spenden
für Not- und Entwicklungshilfe an Israel und für seine Verteidigung aufgebracht. Juden und Araber in Palästina/Israel, 1882 -
1973
Noch entscheidender war, dass eine groß angelegte Werbekampagne
der amerikanischen Juden die amerikanische Öffentlichkeit dazu bringen konnte,
die Gründung eines jüdischen Staates zu unterstützen. Nicht zuletzt bewog ihre
unermüdliche Lobby Präsident Truman,
sich diesem Ziel anzuschließen und den amerikanischen Einfluss auf die UNO zu
nutzen, um eine Stimmenmehrheit für den Judenstaat zusammen zu bringen. Die britische Regierung verschärfte ihre äußerst restriktive
Einwanderungspolitik; auch die Überlebenden des Holocaust durften nicht nach
Israel einreisen. Unter dem Druck des dadurch eskalierenden Untergrundkampfes
jüdischer Siedler und aufgrund der immer schwerer zu tragenden Bürde einer
Kolonial macht gab Großbritannien zwei Jahre nach Kriegsende das Palästinamandat
an die UNO zurück. Eine UN-Sonderkom-mission empfahl im Mai 1947 nach einer
Reise durch Palästina die Beendigung des Mandats, den Abzug der britischen Truppen
und die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat.
Während die jüdische Führung dem Plan zustimmte, lehnten die Araber den
Vorschlag ab.
Nach ihrer Ansicht verstieß der Teilungsplan insbesondere gegen
das Selbstbestimmungsrecht, denn – so wurde argumentiert – selbst in dem für
den jüdischen Staat vorgesehenen Teil Palästinas wäre die Bevölkerungsmehrheit
arabisch gewesen. Ferner hätte die Aufteilung die Araber zu sehr benachteiligt: „Bei Beendigung des
britischen Mandats befanden sich 94 Prozent der Gesamtfläche Palästinas in
arabischen Händen, sechs Prozent dagegen in denen der Juden. Durch die Teilung
gemäß UNO-Resolution sollten die Juden über 56 Prozent der Gesamtfläche
Palästinas verfügen. Auf den 15.000 km2, die der neue jüdische Staat
umfassen sollte, hätten etwa 500.000 Araber mit gleich vielen Juden zusammenleben
müssen. In dem neuen arabischen Staat, dessen Fläche 11.600 km 2
betragen sollte, hätten etwa 750.000 Araber mit etwa 10.000 Juden zusammenleben
sollen“. Am 29. November 1947 stimmte die UN-Vollversammlung mit der
Resolution 181 (II), in der ca. 43 Prozent des Mandatsgebietes für einen arabischen
und rund 56 Prozent für einen israelischen Staat bestimmt wurde, für die
Teilung Palästinas und die Internationalisierung des Gebietes von Jerusalem.
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BEGINN ENDE |
AGGRESSOR |
„OPFER“ DES
ANGRIFFES |
ERGEBNIS |
1. Nahost-Krieg |
15. Mai 1948 – März 1949 Unabhängigkeitskrieg |
Ägypten, Jordanien, Syrien, Libanon, Irak |
Israel |
Landgewinn für Israel: Teile Gäliläs, Samarias, Judäas und
des Negevs aber Verlust des Gazastreifens an Ägypten |
2. Nahost-Krieg |
29. Oktober – 6. November 1956 Sinai Feldzug / Suez
Krieg |
Israel, Großbritannien, Frankreich |
Ägypten |
Vorübergehende Besetzung des Sinais und des Gazastreifens
durch Israel |
3. Nahost-Krieg |
5. – 10. Juni 1967 Sechs-Tage Krieg / Junikrieg |
Israel |
Ägypten, Syrien, Jordanien |
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4. Nahost-Krieg |
6. – 24.Oktober 1973 Jom- Kippur-Krieg / Oktoberkrieg |
Ägypten, Syrien, Jordanien |
Israel |
Status Quo Ante bleibt erhalten |
5. Nahost-Krieg |
6. Juni 1982 – Mai 2000 Schlom ha-Galil (Frieden für Galiläa) |
Israel |
Libanon, Syrien |
Vormarsch der israelischen Armee bis in die Mitte des
Libanon |
Die Quintessenz der
Nahostfrage: Besetztes Land - Macht und Unrecht
Israel besetzt auf Grund seiner militärisch-strategischen Überlegenheit
das ganze Land zwischen Jordan und Mittelmeer und will den Palästinensern nicht
jenen Anteil davon herausgeben, welchen diese als faire Abgeltung ihrer
nationalen Rechte betrachten. Ganz im Gegenteil, es verstärkt seinen Griff auf
Westjordanland und den Gazastreifen weiter durch eine forcierte Besiedlung. Es
handelt sich also um einen reinen Machtkonflikt, einen Territorialkonflikt, der
durch das massive Ungleichgewicht der Waffen und die westliche Unterstützung
Israels im Status des Unrechts erhalten wird. Die westlichen Länder treiben
unter Amerikas Führung zwar einen Friedensprozess voran, der mit der Vorgabe
von UNO-Resolution 242 und dem Verbot des Erwerbs von Territorien begann und
mittlerweile bei der Rede von der Notwendigkeit eines palästinensischen Staates
angelangt ist.
Doch keines hat es bisher gewagt, deutlich und klar von Israel die
Herausgabe aller besetzten Gebiete mitsamt Ostjerusalem zu fordern. Sie
übernehmen allzu gern Israels Rechtfertigungen unter dem allgegenwärtigen
Aspekt der Sicherheit – um nach dem Jahrhunderttrauma des Holocausts nur ja
nicht in den Verdacht zu geraten, erneut Juden einer politischen Gefahr aussetzen
zu wollen. Der große Betrug des Friedensprozesses liegt für die Palästinenser
im Verschweigen der wahren Forderungen an sie: Sie sollen sich mit deutlich
weniger zufrieden geben als dem, was mit völkerrechtlichen Argumenten aus den
UN-Resolutionen abzuleiten ist und was in der Weltorganisation re gelmäßig mit
erdrückenden Mehrheiten als Regel bekräftigt wird. Dieses ist gerade mal 23
Prozent des ehemaligen Mandatsgebietes Palästina, während Israel sich
rechtmäßig 77 Prozent davon zueignen dürfte.
Wenn junge Palästinenser, von umfassender Aussichtslosigkeit und
politischer und religiöser Agitation zum Äußersten getrieben, sich in einem
letzten Massaker mitten unter unschuldigen Israeli in die Luft sprengen, so
heißt das Terrorismus und die Verantwortung wird dem ganzen palästinensischen
Volk aufgebürdet. Wenn israelische Panzerkolonnen und Kampfbomber Ziele mitten
in dichtest besiedelten Städten oder Lagern bombardieren, so gilt das als
legitime Selbstverteidigung. Wenn israelische Absperrungspolitik monate- und
jahrelang palästinensische Ortschaften der Blockade unterwerfen, uralte Olivenbäume
radikal abholzen, um ein besseres Schussfeld zu haben, wirtschaftliches Leben,
politische und soziale Organisation weitestgehend verunmöglichen und ein ganzes
Volk unerbittlich in die nackte Armut treiben, so sollen das nötige
Sicherheitsvorkehrungen sein. Weil Israel ein anerkannter Staat mit durchstrukturierten
Streitkräften ist, erkennt die Welt ihm das Recht auf bewaffnete Durchsetzung
seiner nationalen Interessen zu. Wenn aber das palästinensische Gemeinwesen
sich mit Waffen gegen die israelischen Besetzer verteidigt, so erkennt der Westen
dies nicht als legitimen Widerstand an; und die nur dem Gesetz der Gewalt
verpflichteten palästinensischen Extremisten zementieren dieses Vorurteil nach
Kräften.
Im folgenden
werden einige Probleme angesprochen, die gelöst werden müssen, damit ein
Friedensprozess möglich wird:
Noch verheerender als das Militärregime wirkte sich das 1950
erlassene „Absentee Property Law“
aus, das die Palästinenser zu „Anwesend-Abwesenden“ erklärte, deren Besitz
durch einen Vormund (Custodian of
Absentee Property) verwaltet werden musste, bevor er in jüdischen
Privatbesitz oder Staatseigentum überging. Dieses Gesetz erlaubte dem Staat,
sowohl Land von Palästinensern zu konfiszieren, die Israel verlassen hatten,
als auch von jenen, die geblieben waren. 1947 gehörten den Palästinensern 93
Prozent des Landes, als öffentliches oder privates Eigentum; die restlichen 7
Prozent waren in der Hand der jüdischen Gemeinschaft. Heute beträgt der Anteil
privaten palästinensischen Grundeigentums nur noch 15 Prozent des Territoriums,
das 1947 Palästina ausmachte, 10 Prozent davon entfallen auf das Westjordanland
und den Gazastreifen. Laut Schätzungen unterlag die Hälfte der
palästinensischen Bevölkerung Israels der Kategorie „abwesend“. Bis 1953 wurden
ca. 370 jüdische Siedlungen errichtet, davon 350 auf als verlassen deklariertem
Land. Bis 1965 ermöglichte das Gesetz über die Abwesenheit und auch andere
Gesetze der israelischen Regierung, ca. 100.000 Hektar Land zu konfiszieren,
rund 400 Dörfer und 10 Städte.
Unmittelbar nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 begann die
Regierung mit der Integration der besetzten Gebiete. Ost-Jerusalem wurde
annektiert und die Stadtgrenze auf das Westjordanland ausgedehnt.
Neue jüdische Siedlungen und sogenannte „heachsujet“ (Vorposten) entstanden, und aus einigen Bereichen der
Altstadt wurden die Araber vertrieben. In den besetzten Gebieten kam es zur
Errichtung von zunächst paramilitärischen, dann dauerhaft zivilen Siedlungen.
Eine militärische Verwaltung wurde eingesetzt und bis heute aufrechterhalten.
Die Besiedlung erfolgte zunächst ohne Genehmigung der Regierung, die jedoch in
den meisten Fällen nachträglich erteilt wurde. Zum Zeitpunkt der Osloer
Prinzipienerklärung im September 1993 existierten 150 jüdische Siedlungen mit
insgesamt 120 000 Bewohnern im Westjordanland, 16 Siedlungen mit insgesamt 4500
Personen im Gazastreifen und 9 Siedlungen mit etwa 160 000 Siedlern in
Ostjerusalem.
Trotz der Bestimmung der Grundsatzerklärung des Osloer Abkommens,
dass beide Parteien den Status Quo, der zum Zeitpunkt des Abkommens existierte,
nicht durch einseitige Aktionen verändern sollten, wurde der Ausbau von
Siedlungen von israelischer Seite her bis heute fast unvermindert fortgesetzt.
Seit 1993 hat sich die Zahl der Siedlungen verdoppelt, die Zahl der Siedler
verdreifacht. 380.000 Siedler leben im Westjordanland (damit sie unter rund 1,7
Millionen Palästinensern leben können, werden sie rund um die Uhr geschützt von
zehntausenden Soldaten), von ihnen wiederum 170.000 im Gürtel der als
Stadtviertel bezeichneten Vororte rund um Jerusalem. Die Siedler wohnen auf 1,7
Prozent des Westjordanlandes, sie kontrollieren aber mit Straßen und
Kontrollzonen auf angeeignetem Land 42 Prozent. Im Gazastreifen ist das
Missverhältnis noch größer: Dort leben 6.000 Siedler unter 1,3 Millionen
Palästinen-sern, wobei die Siedler über die Filetstücke am Meer verfügen und
über reichlich Platz: sie leben auf 115 Quadratkilometern Land
, die Palästinenser auf 250 Quadratkilometern. Insgesamt existieren mehr
als 200 Siedlungen im Westjordanland und 17 Siedlungen im Gazastreifen. Etwa
achtzig Prozent der Siedler leben in Siedlungsblöcken, während die übrigen
zwanzig Prozent in Dutzenden von kleinen Ortschaften, verstreut über den
Gazastreifen und die Westbank, wohnen. Jährlich fließen 250 Millionen Euro in
den Unterhalt der Siedlungen, 33 Milliarden Dollar hat Israel nach
Expertenschätzungen bislang für die Siedlungen und ihren Schutz ausgegeben. Den
97 Prozent der Israelis, die im sogenannten Kernland leben, stehen die 3 Prozent
der Siedler in den besetzten Gebieten allerdings als verschwindend kleine
Minderheit gegenüber.
b) Grenzen
Untrennbar verknüpft mit der Siedlungsfrage und von ihr abhängig
ist die Thematik der Grenzziehung bzw. die Frage, welche Grenzen ein zukünftiger palästinensischer Staat haben soll. Der in
der am 29. November 1947 von der UN verabschiedeten Resolution 181 (II)
geplante Teilungsplan wurde nie realisiert. Die Resolution sah die Aufteilung
Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat vor. Das Scheitern
dieses Teilungsplan hatte mehrere Kriege zur Folge.
Die Intervention der arabischen Staaten gegen die Staatsgründung Israels 1948
führte zur Vertreibung von ca. 800.000 Palästinensern. Nach der Suezkrise 1956
musste sich Israel wieder zurückziehen, doch im Sechstagekrieg von 1967
eroberte es den Rest Palästinas – Westjordanland und Gaza-Streifen – sowie den
Sinai und die Golanhöhen. Die Teilerfolge Syriens und Ägyptens im
Jom-Kippur-Krieg 1973 führten zu neuen diplomatischen Initiativen. Das Abkommen
von Camp David (1978) brachte keinen Durchbruch in der Palästinafrage. Israels
Versuch, den palästinensischen Widerstand durch die Invasion im Libanon (1982)
zu zerschlagen, blieb ohne Erfolg. Nachdem die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) ihre Stützpunkte in
den Nahbarstaaten verloren hatte, ging die Initiative im Kampf für die nationale
Selbstbestimmung auf die Palästinenser in den besetzten Gebieten über. Die
erste Intifada (1987 – 1991) trug
dazu bei, dass die Osloer-Verträge von 1993 geschlossen wurden. Die Al-Aksa-Intifada (seit September
2000) beantwortete Israel mit der Rücknahme fast aller Ergebnisse des
Friedensprozesses und der erneuten Besetzung der so genannten Autonomiegebiete.
Zum aktuellen Zeitpunkt (Stand Januar 2003) existieren im Gebiet
des geographischen Palästinas zwei politische Einheiten: der Staat Israel und
die autonom verwalteten Gebiete (Westjordanland, Gazastreifen und
Ostjerusalem). Die zwischen diesen Einheiten existierenden Grenzen sind
Gegenstand heftigster Kontroversen.
Der israelische Anspruch ist
nicht eindeutig, sondern teilt sich eigentlich in drei Begründungsvarianten:
die israelisch-zionistische Variante gemäß der
in der Bibel nachzulesenden göttlichen Zusage (5. Moses 34, 1 – 4),
die israelisch-jüdische, sich auf die Grenzen
von 1948 als die “Grenzen von Auschwitz” berufend und
die israelisch-israelische, welche die
Legitimation des Staates Israel durch dessen bloße Existenz alleine gegeben
sieht.
Für die Muslime, also auch
die Palästinenser, war das Heilige Land kein Ort arabisch-nationaler
Volksgeschichte. Es war, wie beim Christentum, der Ort ihrer Heilsgeschichte –
eines winzigen, wenngleich sehr wichtigen Teils ihrer Heilsgeschichte, nämlich Mohammeds Nachtreise nach Jerusalem. Die
arabi-sche Bevölkerung Palästinas kann jedoch auf eine kon-tinuierliche
Siedlungsgeschichte bzw. Staatlichkeit bis 1948 bzw. 1967 in diesem Gebiet
zurückblicken, die nur während der Kreuzzüge für rund 230 Jahre unterbrochen
wurde, während die Zeit der jüdischen Staatlichkeit insgesamt nur knapp 560 Jahre
betrug, nämlich von 1000 bis knapp 600 v. Chr., zur Zeit des Makkabäerstaates
knapp 100 Jahre und seit Gründung des Staates Israel knapp 60 Jahre. Dem
absoluten Anspruch der Juden auf das Gelobte Land traten die islamischen
Geistlichen Anfang der 1930er Jahre entgegen, indem sie Palästina zum „Wakf“
erklärten, zur Heiligen Erde für alle Muslime (Heilige Erde ist nach
muslimischer Auffassung das Gebiet, das im Laufe der Geschichte einmal
islamisch geworden war). Die Entwicklung einer politischen Eigenheit der
Palästinenser ist eine irreversible Entwicklung: Vor 1948 fühlten sich die
Araber in Palästina nicht als Nation, sondern als Araber, die in Palästina
lebten. Erst die Erfahrung von Krieg, Flucht und Kampf schuf eine gemeinsame,
spezifisch palästinensische Identität, und in den Jahren seit 1967 wurde
Palästina nach und nach zu einer distinkten politischen Einheit.
In direkter Abhängigkeit von der Siedlungsfrage und der Frage der
Grenzziehung steht die wirtschaftliche Entwicklung sowohl in Israel selbst wie
auch in den besetzten Gebieten. Zum ersten Mal seit 1953 ist die israelische
Wirtschaft Ende 2001 in die Rezession gerutscht, nachdem es 2000 noch ein plus
von 6 Prozent gab. Auch im Jahr 2002 hat sich die Rezession fortgesetzt. Mit einem
Rückgang des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von einem Prozent hat Israel im
abgelaufenen Jahr 2002 an letzter Stelle der Industriestaaten hinter Japan (-
0,7 Prozent) und der Schweiz (- 0,2 Prozent) gelegen. Das Land hat fast die
Hälfte seiner ausländischen Direktinvestitionen eingebüßt: Sie sind von 11
Milliarden Dollar im Jahr 2000 auf 6 Milliarden Dollar im Jahr 2002 gesunken.
Nur die israelische Rüstungsindustrie wächst im Moment, von amerikanischer
Seite her subventio niert, kräftig weiter. Seit dem Beginn der Unruhen in den
Palästinensergebieten Ende September 2000 bis zum Ende 2002 entstanden nach
offiziellen israelischen Angaben Kosten von rund 2,75 Milliarden Dollar. Wenn
man das israelische Bevölkerungswachstum von mehr als zwei Prozent pro Jahr
einberechnet, führte die Rezession zu einem Rückgang des BIP pro Kopf der
Bevölkerung von über drei Prozent bei einer Inflationsrate von konstant 7%. Die Zahl der Arbeitslosen stieg um einen Prozentpunkt
auf 10,4 Prozent (tatsächlich über 13%, weil viele Langzeitarbeitslose nicht
mehr gemeldet sind). Dazu fielen die Exporte um 13 Prozent und auch die
Entwicklung im Tourismussektor, bisher ein Standbein der israelischen
Wirtschaft, ist stark rückläufig - die Zahl der ankommenden Touristen hat sich
auf etwa ein Drittel reduziert.
Mehr als 18% der Israelis leben inzwischen unterhalb der Armutsgrenze
und sind auf öffentliche Speisungen und Wohnungszuschüsse angewiesen. Das
Sechs-Millionen-Volk verarmt, das Land ist marode. Tausende junger Familien
verlassen ihre Heimat, und die Einwanderungszahl ist deutlich rückläufig; von
2000 bis 2002 ist sie um 28% gesunken.
Die Besatzung war für Israel wirtschaftlich gesehen ein
Gewinn. Bis zur ersten Intifada nach
zwanzig Jahren war die Kostenrechnung mehr als ausgeglichen. Die
palästinensische Bevölkerung musste Steuern zahlen und die besetzten Gebiete
entwickelten sich zwangsläufig zum Absatzmarkt für israelische Produkte und
Dienstleistungen. Michael Ben Jair,
Generalstaatsanwalt in der Regierung Rabin,
schrieb kürzlich in Ha’aretz: „Der Sechs-Tage-Krieg wurde uns
aufgezwungen, aber der siebte Tag des Krieges, der am 12. Juni 1967 anbrach, dauert
bis heute an und resultiert aus unserer eigenen Entscheidung. Mit Begeisterung
sind wir zu einer Kolonistengesellschaft geworden, die internationale Verträge
missachtet, Grund und Boden beschlagnahmt, Siedler aus Israel in die besetzten
Gebiete verbringt, Diebstahl begeht und für all das noch irgendwelche
Rechtfertigungen findet.“ Das sind harte Worte, doch der tragische
Wahnsinn liegt darin, dass Ben Jair
solche Ansichten erst heute und nicht schon zu seiner aktiven Zeit als
Generalstaatsanwalt zu Papier brachte.
Auch auf palästinensischer Seite zwingen die Schäden für die
Wirtschaft die Autonomiebehörde in die Knie. Nach Angaben der Weltbank ist die
Hälfte des palästinensischen Bruttosozialprodukts von etwa 4,5 Milliarden
Dollar verloren gegangen. Absperrungen und Ausgangssperren verursachen der
palästinensischen Wirtschaft enorme Kosten: Nach Schätzungen der Vereinten
Nationen hat ein Absperrungstag Verluste in Höhe von etwa 2,4 Millionen US$ zur
Folge. Die Arbeitslosenquote im Westjordanland liegt mittlerweile bei 53
Prozent. Im Gazastrei fen, wo die Überbevölkerung am schlimmsten ist, liegt die
Arbeitslosenquote sogar noch höher, nämlich derzeit bei 68 Prozent. Nur die
Zahlungen palästinensischer Arbeiter aus dem Ausland und natürlich vor allem
aus Israel selbst führen zu einem Zufluss von finanziellen Mitteln.
Und dies alles angesichts der Tatsache, dass die USA und die
Länder der Europäischen Union sowie die Weltbank und andere Organisationen seit
1993 rund fünf Milliarden Dollar in den vermeintlich im Entstehen begriffenen
palästinensischen Staat investiert haben. Die Summe muss als verloren
abgeschrieben werden, denn Arafats
Quasi-Staat, gegründet 1993 in Oslo, wird in diesen Tagen offenbar zu Grabe
getragen. Die Gesamtverluste an Bruttoinlandseinkommen über einen Zeitraum von
27 Jahren haben inzwischen rund 5,4 Mrd. US$ erreicht.
Nach Angaben der UN müssen 75 Prozent der Gesamtbevölkerung
in den besetzten Gebieten mit weniger als 2 Dollar (Armutsgrenze) am Tag
auskommen. Vor Beginn der Unruhen lag diese Quote noch bei 21 Prozent. 30
Prozent aller Kinder unter 5 Jahren leiden an chronischer Unterernährung, 48
Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter zeigen Symptome von Anämie. Die 25.000
Dollar, die Sadam Hussein an die
Familien eines jeden Selbstmordattentäters zahlte, stellten also oftmals die
Existenz ganzer Familien sicher. Daraus wird ersichtlich, dass ein dauerhafter
Frieden nur dann wirklich möglich sein wird, wenn sich die Lebensumstände in
den Autonomiegebieten wesentlich verbessern. Die israelische Regierung hat, um
den Siedlern sichere Verkehrswege zu bieten, die palästinensischen Enklaven
hermetisch abgeriegelt.
Die jahrzehntelange Politik Israels bestand darin, die
Entwicklung einer unabhängigen Wirtschaft in den besetzten Gebieten zu
verhindern, aber auch gleichzeitig eine Verbesserung der jüdischen
Lebensbedingungen zu erzielen. Hier nun schließt sich der Kreis: Die
Lebensbedingungen für die Palästinenser in den besetzten Gebieten werden immer
unerträglicher aufgrund der zusammenbrechenden Wirtschaftsstruktur – eine
Ursache dafür ist in der israelischen Siedlungspolitik zu finden – andererseits
muss aber auch die israelische Regierung immer mehr finanzielle Mittel aus
anderen Bereichen ihrer ohnehin stagnierenden Wirtschaft abziehen, um den
ungeheuren Aufwand, den die Aufrechterhaltung der harten politischen Linie
erfordert, finanzieren zu können – und wirtschaftliches Elend geht Hand in Hand
mit politischer Radikalisierung einher.
Das Flüchtlingsproblem
stellt ein zentrales Thema des politischen Prozesses dar – ein Thema,
welches jedoch auch, ebenso wie die „Jerusalem-Frage“ – zum Gegenstand der
Endstatusverhandlungen erklärt wurde. Die Statusfrage selbst ist hierbei von
entscheidender Bedeutung. Palästinenser sind, laut Definition, alle die Araber
und deren Nachkommen, die 1947 im Mandatsgebiet Palästina lebten. Das
Grundlagenabkommen von Oslo unterscheidet allerdings zwei Gruppen von Palästinensern,
je nachdem, ob sie das Land bereits 1948 oder erst 1967 verlassen haben.
Die Erstgenannten sind „Flüchtlinge“, die Letztgenannten heimatlose
„displaced persons“. Der Status der „Heimatlosen“ muss von einem
israelisch-palästinensischen Komitee, dem unter anderem auch Vertreter von
Ägypten und Syrien angehören, geklärt werden, der Status der „Flüchtlinge“ ist
hingegen erst Gegenstand der Endstatusverhandlungen. Generell zur Debatte
steht, wer die Verantwortung für die „Flüchtlinge“ bzw. für die “Heimatlosen“
trägt und ob und inwiefern sie ein Recht auf Entschädigung und/oder Rückkehr in
die Heimat und wohin dort haben.
$$$ Karte ???
Die UNO war sich der Tragweite des Palästinenserproblems bewusst und schuf
bereits 1948 ein eigenes Sonderorgan für die palästinensischen Flüchtlinge, das
UNRWA. Die UNO erkannte den Flüchtlingen das Recht auf Rückkehr in ihre Heimat
zu oder, sofern sie nicht zurückkehren wollten, das Recht auf eine
Entschädigung. Durch die Abwanderung der Palästinenser verschob sich in Israel
das demographische Gleichgewicht zugunsten der Juden, und Israel nahm die
entvölkerten Landstriche in Besitz. Jedoch erkannte die Arabische Liga sehr
schnell, welche Vorteile sie aus dem Flüchtlingsproblem ziehen konnte.
Die Politik der Arabischen Liga bestand darin, eine Integration in den
arabischen Ländern zu verhindern, um das Flüchtlingsproblem weiterhin als Waffe
gegen Israel einsetzen zu können. Damit wurde die Situation der Palästinenser
zum Angelpunkt des arabischen Nationalismus. Die Einheit der arabischen Staaten
sollte im Namen der Rückeroberung von Palästina zustande kommen. Die Position
der internationalen Gemeinschaft ist eindeutig: Bereits im Dezember 1948
verabschiedeten die Vereinten Nationen die Resolution 194 (III), die das Recht
auf Rückkehr der Flüchtlinge anerkannte und in der eine Repatriierung und
Entschädigung der Betroffenen gefordert wird.
Insgesamt flohen 1948 rund 80 Prozent der arabisch-palästinensischen
Gesamtbevölkerung, davon ein Drittel ins Westjordanland, ein Drittel in den
Gazastreifen und das letzte Drittel verteilte sich auf Jordanien, Syrien und
den Libanon. Nachdem der Status eines Flüchtlings erblich ist, hat sich die
palästinensische Diaspora von 914.000 im Jahr 1959 auf 3.926.787 am jüngsten
Stichtag vermehrt. So viele Palästinenser sind bei der UNRWA registriert
worden. Davon leben rund ein Drittel, nämlich 1.247.107, auch heute noch in
Flüchtlingslagern. Die Palästinenser stellen somit die grösste
Flüchtlingsgemeinschaft weltweit dar.
Palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten,
Stand 31. Dezember 2001
(Alain Gresh, Israel - Palästina, Zürich
2002, Seite 188)
Jerusalem - übersetzt die „Stadt des Friedens“ - ist ein
Ort, der allen drei monotheistischen Weltreligionen, dem Christentum, dem Islam
und dem Judentum, heilig ist. Die Stadt liegt im Westjordanland und bildet den
sensibelsten Punkt im politischen Prozess - ein Punkt, über den, wie im Osloer
Grundsatzabkommen von 1993 festgelegt, jedoch erst im Rahmen der
Endstatusverhandlungen entschieden werden soll, von dem aber sowohl die
Israelis wie auch die Palästinenser die Durchsetzbarkeit eines permanenten
Friedensvertrags abhängig machen.
Als die Vereinten Nationen 1947 die Resolution Nr. 181 (II), die
sogenannte Teilungsresolution verabschiedeten, war darin vorgesehen, die Stadt
unter internationale Kontrolle zu stellen und ihr einen besonderen
völkerrechtlichen Status zuzuerkennen. 1948/49, während des ersten
arabisch-israelischen Krieges, wurde der Westteil der Stadt jedoch von
israelischen Truppen besetzt, daraufhin im Februar 1949 von der israelischen
Regierung annektiert und zur Hauptstadt erklärt. Der Ostteil wurde von
Jordanien besetzt und ebenfalls annektiert. Diese Zweiteilung wurde von den
Vereinten Nationen jedoch nie akzeptiert. Durch den Krieg von 1967, in dessen
Verlauf Israel auch Ostjerusalem besetzte, wurde die Teilung allerdings wieder
aufgehoben – zur formellen Annexion kam es schließlich durch die Verabschiedung
des „Jerusalem-Gesetzes“ von 1981.
Auch die Kontrolle über die heiligen Stätten stellt ein
brisantes Politikum dar. Im Grundlagenabkommen von Oslo wurde Israel die
Verantwortung über die heiligen Stätten in Jerusalem zugesprochen. Im
israelischen Friedensvertrag mit Jordanien im Oktober 1994 wurden jedoch dem
jordanischen König, der gleichzeitig auch der Scherif von Mekka ist, die
Verantwortlichkeiten dafür übertragen. Yassir
Arafat bestreitet jedoch die Legitimität dieses Anspruches und hat zu dem
von Jordanien bestellten Imam einen Gegen-Imam ausgerufen.
Ein strittiger Punkt der Endstatusverhandlungen ist die Frage um das
Recht auf die vorhandenen Wasserressourcen. Wasser gehört im Nahen Osten zu den
wichtigsten und knappsten Ressourcen, von der die Entwicklungsmöglichkeit der
Bevölkerung sowie deren Lebensstandard abhängen. Als erster „Wasserkrieg“ gilt
der arabisch-israelische Krieg von 1967, den Israel aufgrund eines „hydrologischen Imperatives“ führte.
Damals eroberte Israel den Jordanzubringer Banias,
der auf dem Berg Hermon in Syrien entspringt, sowie die Grundwasserreserven im
Westjordanland und im Gazastreifen.[2] Im
Vorfeld des Krieges kam es zu zahlreichen Auseinandersetzungen um die Wassernutzung
des Jordan zwischen Israel und den arabischen Ländern: so baute Israel den National Water Carrier (1964 fertig
gestellt), eine Pipeline, mit der große Mengen des Jordanflusses aus dem See
Genezareth bis in die Wüste Negev umgeleitet werden. Als Reaktion auf diese
einseitige israelische Nutzung begannen die arabischen Länder im Vorfeld des
1967er Krieges mit der Umleitung des syrischen Banias und des libanesischen Hasbani
in den Yarmuk, wodurch der Zufluss
des Jordan wesentlich verringert worden wäre. Während des Krieges bombardierte
Israel schließlich die eingerichteten Baustellen, wodurch dieses Projekt verhindert
wurde.
Die israelische Regierung brachte nach 1967 bewusst Wasserquellen und
Verteilungsmechanismen unter ihre Kontrolle, konfiszierte die alten
Bodenrechte, ließ die palästinensischen Wasserzapfstellen austrocknen und
errichtete gezielt Siedlungen entlang wichtiger Quellen des Jordan und um den
See Genezareth. Somit erhielt Israel die vollständige Macht über das Wasser und
wusste diese in der Folgezeit strategisch einzusetzen. Der Wasserverbrauch
wurde daraufhin in den besetzten Gebieten drastisch eingeschränkt bzw. mit der
steigenden Bevölkerungszahl nicht erhöht. Die Folgen waren ein deutliches Sinken
des für die palästinensische Bevölkerung zur Verfügung stehenden Wassers und
ein erheblicher Wassermangel im landwirtschaftlichen Bereich, dem wichtigsten
Wirtschaftssektor für die Palästinenser. Im Gegensatz dazu wurde die Wasserzufuhr
für israelische Siedlungen sehr günstig berechnet. Diese sichtbare Bevorzugung
der Israelis stellte unter anderem einen der Ausgangspunkte für den palästinensischen
Aufstand (Intifada) dar, da er die
Wut der Palästinenser und ihre Ressentiments förderte.
Die Wasserressourcen von Israel erneuern sich jedes Jahr mit rund 2000
Millionen Kubikmetern, die zu 60 Prozent aus Grundwasser und 40 Prozent aus Oberflächenwasser
stammen.
75% der erneuerbaren Wasserressourcen der Westbank und des
Gaza-Streifens werden von Israel genützt. Dabei beträgt der Wasserverbrauch im
Durchschnitt pro Person und Tag bei der palästinensischen Bevölkerung zwischen
70 und 110 Liter (die Weltgesundheitsbehörde hat als Minimum 100 Liter Wasser
für eine Person pro Tag festgelegt), während die israelische Bevölkerung rund
350 - 380 Liter pro Person und Tag und die israelischen Siedler 3.973 Liter pro
Person und Tag verbrauchen.
Die Belagerung und Besetzung palästinensischer Gebiete führt zu einer
extremen Wasserknappheit für die palästinensische Bevölkerung. Israelisches
Militär sowie israelische Siedler attackieren und bombardieren gezielt
palästinensische Wassertanks und verhindern somit die geregelte
Wasserversorgung palästinensischer Städte. Als Folge des Wassermangels erhöht
sich der Preis von zusätzlich hinzugeführtem Wasser aus den Wassertanks von 2,5
$ pro m³ auf 7,5 $ pro m³. Diese Preiserhöhung bewirkt im Durchschnitt eine 12%
Erhöhung der Ausgaben des palästinensischen Einkommens einer Familie.
Im Westjordanland werden rund 60 Prozent des Wassers von den
jüdischen Siedlern vor Ort verbraucht oder nach Israel abgeleitet. Den
Palästinensern ist untersagt, neue Brunnen zu bohren oder bestehende Brunnen
über die 20-Meter-Marke hinaus zu vertiefen, während den Siedlern durch die
Militärverwaltung auch Tiefenbrunnen (bis zu 1500 Meter) zugebilligt werden. Im
übrigen ist das gesamte Versorgungssystem des Gebietes
über Kanäle nach Israel ausgerichtet.
Israel hat mit der Zone C in den besetzten Gebieten
Kontrolle über alle vorhandenen Wasserressourcen. In den Osloverträgen wurde
das Westjordanland in drei Zonen aufgeteilt: eine Zone unter palästinensischer
Souveränität (A), eine unter gemischter Souveränität (B) und eine unter
israelischer Souveränität (C). Zu Beginn der Al-Aksa-Intifada umfasste die Zone A 17,2 Prozent, Zone B 23,8
Prozent des gesamten Gebietes. Durch eine Reihe von Sondergesetzen wurde
erreicht, dass in den besetzten Gebieten die Araber bis heute nur ein Fünftel
der Wasservorkommen nutzen durften, die Israelis hingegen vier Fünftel. Das
Wasser bildet einen der größten Konfliktpunkte zwischen den Israelis und den
Palästinensern. Eine Einigung in diesem Bereich ist notwendig für einen
baldigen Frieden, der jedoch auch eine Lösung für die errichteten Siedlungen
und Siedler einschließen muss.
Israel hat die besetzten Gebiete nicht annektiert, weil es
nicht riskieren wollte, langfristig eine arabische Bevölkerungsmehrheit im
Lande zu haben. Zwischen 100.000 und 180.000 Araber blieben auf israelischem
Territorium und wurden israelische Staatsbürger. Diese werden im jüdischen
Staat seither „israelische Araber“ genannt. Im Jahr 1948 lebten also rund
180.000 Araber in Israel, 2002 waren es bereits rund 1,2 Millionen. Ihre
Geburtenrate ist zwar etwas rückläufig, liegt aber mit 5,6 Geburten pro Frau
deutlich über der Geburtenrate der jüdischen Israelis mit 2,7 Geburten pro
Frau. Heute leben in Israel beinahe sechseinhalb Millionen Israelis (davon ist
ein Sechstel, rund eine Million, seit dem Zusammenbruch des Sowjetreiches zugewandert),
zwanzig Prozent von ihnen sind keine Juden; in den palästinensischen Gebieten
leben rund dreieinhalb Millionen Menschen.
Im Jahr 2015 werden sich Palästinenser und
Nicht-Palästinenser zahlenmäßig die Waage halten. Und im Jahr 2045 wird es
selbst in Israel genauso viele Palästinenser wie Nicht-Palästinenser geben. Auf
Grund der hohen Geburtenrate der palästinensischen Frauen werden dann mehr
Palästinenser als Juden in Israel leben. Die Israelis sprechen deshalb auch von
der neuen „Geheimwaffe“, der Gebärmutter der palästinensischen Frauen. Im
Gazastreifen lebten im Jahr 1948 rund 500.000 Palästinenser, jetzt sind es über
eine Million und im Jahr 2025 werden es fast drei
Millionen sein.
Israel - ein
zerissenes Volk
Für Außenstehende kaum sichtbar, tobt in Israel ein Kulturkampf.
Fromme Orthodoxe und weltliche Liberale ringen erbittert darum, wem Israel
gehört und wer die Zukunft des jüdischen Staates bestimmen darf. Die
Siedlerbewegung wurde zu einer mächtigen politischen Kraft. Sie ist heute
tatsächlich die militante Speerspitze der Besetzung und will eine permanente
jüdische Präsenz in den besetzten Gebieten erreichen. Die religiösen Siedler,
rund 70.000 Personen, angetrieben von religiösen
Eifer, haben ihr Leben dem Ziel geweiht, Israel immer tiefer in den Sumpf der
fortgesetzten Besatzung zu ziehen. Der Hass auf die streng religiöse Minderheit
– etwa 20 Prozent der Israelis sind orthodoxe Juden, manche modern und
nationalistisch, andere antimodern und ultraorthodox – konvergiert daher aus
vielen gesellschaftlichen Richtungen und vielen Gründen.
Die Ultraorthodoxie (Haredim)
blieb in Israel eine Enklave wie ihre Vorgänger in Europa. In traditionelle
osteuropäische schwarze und weiße Kleidung gewandet, blieben sie dem Staate
feind, den sie in ihrer Presse absurderweise mit den Nazis verglichen. Der
Vergleich ergibt sich aus einer extremen Dissonanz, mit der die Gemeinden immer
noch nicht leben können: dass die Zionisten, die sich Gottes Willen
widersetzten und ins jüdische Heimatland zurückkehrten, verschont blieben, während
Gottes fügsame Diener in Europa von den Nazis abgeschlachtet wurden. Die
verquere Logik, die um dieses Paradox ausgebildet wurde, gibt dem Zionismus die
Schuld an der „Strafe“ des Holocaust.
Die Angelegenheit wurde noch komplizierter durch einen politischen
Kompromiss zwischen der Ultraorthodoxie und dem Staat, der bis zur Gründung
Israels zurückreicht: Ultraorthodoxe Männer, welche die Thora studieren, sind
vom Wehrdienst ausgenommen, vorausgesetzt, sie widmen dem Studium ihre gesamte
Zeit. Ursprünglich sollten davon ein paar hundert Männer betroffen sein, aber
die Entscheidung führte dazu, dass heute fast alle Männer aus dieser Gruppe
dienstbefreit sind. Da das Gesetz „Vollzeitstudium“ vorschreibt, kann die große
Mehrheit der ultraorthodoxen Männer nicht arbeiten. Ökonomisch dauerhaft
unterversorgt und daher häufig von Sozialleistungen abhängig, beteiligen sie
sich nicht an der Verteidigungslast, arbeiten nicht, kassieren Steuergelder und
hassen ganz entschieden den Staat Israel.
Wer wird sich in Israel durchsetzen? Die Gottesfürchtigen,
die streng nach dem religiösen Gesetz, der Halacha,
leben und nur ihrem Rabbi folgen, oder die modernen Israelis, die am Sabbat
Auto fahren, ins Kino gehen und ihrem Staat in der Armee dienen? Gut 5 Prozent
der israelischen Juden gelten als Ultraorthodoxe, weitere 20 Prozent als
„Religiöse“. Die große Mehrheit ist säkular, wobei sich etwa 30 Prozent als
„traditionelle Juden“ verstehen. Wegen der hohen Geburtenrate – eine Haredim-Familie hat im Durchschnitt acht
Kinder – wächst die ultraorthodoxe Bevölkerung allerdings besonders schnell.
Noch immer greifen religiöse Gesetze in den Alltag des modernen, westlich
orientierten Israel ein. Nach wie vor wachen die Rabbis über die Reinheit der
strengen Rituale, die Geburt, Heirat und Tod begleiten – Zugeständnisse, die David Ben Gurion 1948 den Fundamentalisten
machte, um ihre Erlaubnis zur Staatsgründung zu erkaufen.
Israel ist von jeher ein Land leidenschaftlicher Konflikte –
Juden streiten mit Arabern, Alteingesessene mit neu eingewanderten Russen und
Äthiopiern, orientalische mit europäischen Juden, Siedler mit Friedensaktivisten.
Doch der tiefste Graben trennt Nichtreligiöse und fromme Ultras. Die Soziologin
Eva Ezioni-Halewi aus Tel Aviv nennt
die Israelis ein „geteiltes Volk“. „Die beiden Lager unterscheiden sich in
allem: in ihren Werten, wie sie leben, welche Kleider sie tragen, wie sie
sprechen, wie sie ihre Freizeit verbringen“. Viele Orthodoxe leben in
abgeschlossenen Stadtvierteln wie einst in den osteuropäischen Ghettos. Sie
unterhalten eigene Schulen, Krankenhäuser und Radiostationen. Subtil hat sich
ein Staat im Staate gebildet, säkulare und orthodoxe Juden leben in getrennten
Welten. Die Frommen verfluchen die Säkularen als „Unreine“ und „Teufel“,
mitunter gar als „Nazis“. Auch die
Säkularen greifen zu immer schärferen Vokabeln und beschimpfen die Strenggläubigen
ihrerseits als „Läuse“ und „Parasiten“.
Viele säkulare Israelis empört, dass sie die Eiferer mit
ihren Steuern auch noch alimentieren. Mehr als schätzungsweise 500 Millionen
Euro lässt sich der Staat jährlich die Pflege der jüdischen Religion kosten,
ein Großteil davon fließt an die Ultraorthodoxen. Der Konflikt um das
Selbstverständnis des Staates kann nur gelöst werden, so glauben selbst manche
Religiöse, wenn Israel endlich eine Verfassung bekommt, die Staat und Religion
trennt. Doch ist Israel wirklich bereit für eine solche Verfassung, die dann
auch den arabischen Bürgern gleiche Rechte einräumen müsste? Dies ist wenig
wahrscheinlich, denn sogar liberale Säkulare sehen Israel als Land der Juden
und lehnen deshalb auch ein Rückkehrrecht für palästinensische Flüchtlinge ab.
Bei einer objektiven Betrachtung der israelischen Politik
gegenüber den Palästinensern zeigt sich ein systematischer Versuch, die
palästinensische Gesellschaft zu zerbrechen und ihre Infrastruktur zu
zerstören. Israel geht dabei in drei Stufen vor:
Die erste ist die
Zerstörung der wirtschaftlichen Infrastruktur der palästinensischen Gebiete,
die weitgehend von der Landwirtschaft und früher auch vom Tourismus geprägt
war. So zerstörten die Soldaten während der israelischen Besetzungen von
Bethlehem Anfang 2001 systematisch die neu gebauten Touristenhotels. Im Rahmen
dieser Strategie sind in weiten Gebieten Oliven- und Zitrusbäume gefällt oder
einplaniert worden.
Die zweite Stufe
besteht in der Zerstörung der Instrumente der Palästinensischen
Autonomiebehörde, nämlich des Polizei- und Sicherheitsapparates. Während
Premierminister Scharon von dem
Vorsitzenden der Palästinensischen Autonomiebehörde, Jassir Arafat, verlangt, gegen die Hamas und den Islamischen
Dschiahad vorzugehen, hat Israel im Lauf der letzten Monate 80 Prozent der
Polizeistationen der Autonomiebehörde zerstört und dem Erdboden gleich gemacht.
Drittens ist die
israelische Regierung dabei, die palästinensische Führung zu eliminieren und zu
liquidieren. In einem Brief an das Oberste Gericht schrieb Premierminister Barak: „Das internationale Recht erlaubt
es, jemanden zu töten, von dem mit Sicherheit feststeht, dass er einen Anschlag
gegen israelische Ziele vorbereitet“. Die israelische Regierung spricht dabei
von „Undercover Counter-Terrorism Units“ und hat von Beginn der Aksa-Intifada
im September 2000 bis Ende 2002 insgesamt 158 arabische Militante exekutiert.
Derzeit geht es noch gegen drittrangige Figuren, aber später
wird es vermutlich auch die Topleute treffen. So drückte kürzlich Scharon sein „Bedauern“ darüber aus,
dass Israel Arafat während des
Libanonkrieges in Beirut nicht getötet hat. „Im Libanonkrieg gab es eine
Vereinbarung, wonach Jassir Arafat nicht getötet werden sollte. Um die Wahrheit
zu sagen bedauere ich, dass wir Arafat damals nicht eliminiert haben“. Ohne
Führung, ohne wirtschaftliche Grundlagen, ohne die Organe der Palästinensischen
Autonomiebehörde für die öffentliche Sicherheit wird die Bevölkerung sich
bereit finden, das Land zu verlassen.
Baruch Kimmerling, einer der renommiertesten
Soziologen Israels, beschreibt die israelische Politik als die eines fortwährenden
Politizids, dessen Ziel es sei, „das Ende der Existenz des palästinensischen
Volkes als soziale, politische und wirtschaftliche Größe“ herbeizuführen.[3]
Für Kimmerling ist
Israel „eine militärische,
wirtschaftliche und technologische Supermacht“. Israel wurde „auf den Ruinen einer anderen Kultur aufgebaut,
die dem Politizid und einer teilweisen
ethnischen Säuberung zum Opfer fiel, auch wenn es dem neuen Staat Israel nicht
gelang, die rivalisierende Kultur der ‚Eingeborenen’ auszulöschen“. Kimmerling
beschreibt den Zustand seines Landes durch die Besatzungspolitik wie folgt: „Im
Laufe der Zeit wurde dieser Zustand institutionalisiert, und Israel wurde von
einer echten Demokratie zu einer Herrenvolk-Demokratie“.
Eine Vertreibung der Palästinenser („ethnische Säuberung“) erscheint
unvorstellbar, politisch wie moralisch. Und doch wird in Israel über diese
Möglichkeit in jüngster Zeit auf subtile, aber höchst beunruhigende Weise
diskutiert. Kurz bevor ein Kommando der Volksfront
für die Befreiung Palästinas (PFLP) Minister Rehavam Zeevi im Oktober 2001 ermordete, hatte er am Morgen nach
einem Selbstmordattentat im Rundfunk verkündet, was er jahrelang nicht ganz so
deutlich hatte sagen können: Der („akzeptierte“) Transfer der Araber sei die
einzige „Lösung“. Diese These ist aussprechbar geworden, weil die meisten Israelis
die palästinensischen Selbstmordattentate weder als eine Form des Kampfes gegen
die Okkupation sehen noch als Rache für die Angriffe der israelischen Armee.
Am 23. März 2001 berichtete die israelische Zeitung Ha’aretz über eine Konferenz am „Interdisciplinary Center“, zu der sich
etwa dreihundert „prominente
Persönlichkeiten aus dem Kern des politischen und militärischen Establishments
Israels versammelten“. Die Schlussfolgerungen des Forums wurden feierlich
an den Präsidenten Israels übermittelt, und was die Teilnehmer vorschlugen, war
nichts anderes als die Transfer-Lösung: „Es wird notwenig sein, für die
palästinensische Bevölkerung der Gebiete einen Ort außerhalb des Staatsgebietes
Israels (vielleicht östlich des Jordans) zu finden, wo sie sich neu ansiedeln
können“.
Die israelischen Palästinenser würden ihre
Staatsbürgerschaft verlieren, indem sie in „palästinensische
Souveränität überstellt“ würden. Die Ressourcen des Staates sollten in die „Förderung von Qualität“ investiert
werden, das heißt, in die „starke Bevölkerung“
und nicht in die „nicht-zionistische
Bevölkerung“, zu der die „Araber,
Gastarbeiter und ultraorthodoxe Juden“ gehören, deren natürliches
Bevölkerungswachstum zur Sorge Anlass gibt. Und aus dem Parteiprogramm der
„Transferpartei“ Nationale Einheit
(Koalitionspartner von Scharon)
erfährt man: „Israel wird für die
Beschleunigung des freiwilligen Transfers der Araber aus Judäa und Samaria
sorgen, indem es die dortigen Universitäten und Hochschulen schließt, die Förderung
der Industrie einstellt und für Arbeitsuchende die Arbeitsplätze in Israel
sperrt“.
Im Jahre 1931 hat die in München erscheinende zionistische
Zeitung „Jüdisches Echo“ geschrieben,
um die Juden loszuwerden, brauche man keine Pogrome. „Wenn man Bienen loswerden will, so entzieht man ihren die Nahrung und
räuchert sie aus“. Genau diese Taktik wurde in den ersten Jahren nach 1933
gegen deutsche Juden angewandt. Auch dass nach dem sogenannten Anschluss
Österreichs 1938 zur Beschleunigung der Auswanderung von Juden eine „Zentralstelle für die Auswanderung von
Juden“ eingerichtet wurde, dürfte bekannt sein. Im Programm der
„Transferpartei“ ist nun zu lesen: „Die
Regierung wird eine besondere Agentur gründen, deren Aufgabe die Förderung der
Auswanderung sein wird“. Während der „große Transfer“ der gesamten
palästinensischen Bevölkerung aber momentan nur eine ferne Möglichkeit ist,
haben diverse Maßnahmen in den besetzten Gebieten – Straßenblockaden, Militärpatrouillen,
Passierscheinschikanen – schon viele „kleine Vertreibungen“ bewirkt.
Auf Grund eines Autounfalls im Gazastreifen, der von den Palästinensern
als Anschlag aufgefasst wurde, begann am 8. Dezember 1987 die sogenannte Intifada, der palästinensische Aufstand.
Die anfänglichen Demonstrationen führten bald zu gewaltsamen
Auseinandersetzungen, die sich schnell auf die Westbank ausweiteten. Ursache
für diesen Ausbruch waren die Frustration, die Ausweglosigkeit und die
Unzufriedenheit der palästinensischen Bevölkerung, die durch die schwierige wirtschaftliche
Lage entstanden sind. Der Kontrast zwischen dem Wohlstand und der Sicherheit
der jüdischen Siedlungen und den oft nahe gelegenen arabischen Dörfern mit
mangelnder Wasserversorgung, abgeschnitten von der Infrastruktur und ohne
Zugang zum israelischen politischen und rechtlichen System, erzeugt eine
Verstärkung der Gewaltbereitschaft und eine radikale Bewegung hin zu
extremistischen Untergruppierungen.
Israel reagierte mit einer „Politik der eisernen Faust“,
indem unter anderem ein Verbot von PLO-nahen Organisationen ausgesprochen und
palästinensische Städte und Dörfer abgesperrt wurden. Durch Streiks,
Boykottaktionen und zivilen Ungehorsam, der die Palästinenser veranlassen
sollte, weder Steuern an Israel zu zahlen noch für diesen Staat zu arbeiten,
wollte man die Eigenstaatlichkeit der Palästinensern
von Israel erzwingen. Daraufhin reagierten die Israelis mit radikalen Maßnahmen,
wie zum Beispiel Ausgangssperren, die die palästinensische Bevölkerung von der
Grundversorgung abschnitten. Gerade wegen dieser Verbote wuchs eine ungeheure
nationale Solidarisierungswelle. Es entstanden palästinensische Volkskomitees,
die die Grundversorgung sicherstellten. Durch die Intifada erlangte Arafat nicht
nur intern an Bedeutung und Macht, sondern errang internationale
Aufmerksamkeit.
Die Palästinenser nutzen ihre Schwäche als Waffe in diesem Krieg. Weder
haben sie eine Armee, noch haben sie militärische Verbündete in ihrem Kampf
gegen Israel. Was ihnen bleibt, sind die Waffen der Schwachen: Kinder und
Jugendliche, die mit Steinen gegen Soldaten vorgehen und damit Israel langsam
in die Knie zwingen. Israel hat in der ersten Intifada, die von 1987 bis 1992 dauerte, nachgeben müssen, weil es
die Bilder von Soldaten, die steinwerfenden Kindern nachlaufen, nicht mehr
ertragen konnte. Israel hat sich aus dem Libanon im Mai 2000 zurückgezogen,
weil die Bewegung der Mütter, die ihre Söhne nicht mehr opfern wollten, stärker
war als der militärische Wille. Viele Israelis sind nicht „stark“ genug, den
Gedanken zu ertragen, dass man Kinder ermordet. Die jetzige Al-Aksa-Intifada hat sich inzwischen zum
„low-intensity-Konflikt“ entwickelt, ein Zustand zwischen Krieg und Frieden,
der das tägliche Leben wie eine giftige Substanz zerfrisst.
Insgesamt kamen seit Beginn der Intifada (September 2000) bis einschließlich Dezember 2002 nach
Angaben des Palästinensischen Roten
Halbmondes 2.163 Palästinenser zu Tode, 22.173 wurden verletzt, 486 der
Opfer waren Kinder und Jugendliche, davon 98 unter 12 Jahre alt. Auf
israelischer Seite wurden 748 Personen getötet, davon 522 Zivilisten und 226
Angehörige der Sicherheitskräfte.
Die Zahl der Verletzten beträgt hier 5.082 (3.598
Zivilisten, 1.490 Angehörige der Sicherheitskräfte). Die Statistiken (auch
anderer Gruppierungen) geben keinen Aufschluss über das Verhältnis von zivilen
Opfern, bewaffneten Zivilisten und Angehörigen der palästinensischen
Sicherheitsdienste. Sie unterscheiden auch nicht zwischen jenen Bewaffneten,
die im Kampf getötet wurden, und denen, die nicht im Kampfe fielen. Die angegebenen
Zahlen enthalten keine Selbstmord-Attentäter.
Die Truppen des palästinensischen Präsidenten |
Im Kern hat ein
Selbstmordattentat kaum etwas mit Religion zu tun, sondern ist eine politische
Strategie in einer verzweifelten Situation, in welcher der Unterlegene keine
andere Wahl mehr sieht außer Kapitulation und Unterwerfung – oder den Gang in
den Tod. Aus dieser Ohnmacht ist das Selbstmordattentat geboren: als letztes
Mittel, gegen das keine Gegenwehr mehr möglich ist. Das Selbstmordattentat
setzt die Rationalität von Eigeninteresse und Todesfurcht, das ganze Regelwerk
von Abschreckung, Strafe und Sühne außer Kraft angesichts eines Täters, der
sich im Moment einer Tat die schwerste Strafe selbst auferlegt. Was also bringt
einen Menschen dazu, in einem nicht-staatlichen Krieg sein Leben zu opfern?
Basierend auf den Schätzungen des israelischen Nachrichtendienstes Mosad ergeben sich für die
fundamentalistischen Selbstmordkandidaten folgende Daten:
·
47% haben eine akademische Bildung bzw. Schulung
auf islamischen Institutionen absolviert,
·
83% sind unverheiratet,
·
64% haben ein Durchschnittsalter von 18-27
Jahren,
·
die meisten Kandidaten waren für längere Zeit
arbeitslos oder kamen aus Familien, die unter schwierigen wirtschaftlichen
Verhältnissen, meist in Flüchtlingslagern, lebten,
·
fast alle waren ergebene Anhänger des Islams,
·
alle hatten den Wunsch, Angehörige oder Freunde,
die durch die Israelis getötet wurden, zu rächen.
Der Hauptgrund des Racheaktes war jedoch religiöser Fanatismus, gemischt
mit extremem Nationalismus, im Rahmen des unerbittlichen Kampfes gegen Israel
und dessen Besetzung im Westjordanland, wo die Masse der Täter herstammt.
Diese Situation der Ohnmacht, die Erkenntnis der Ausweglosigkeit und
das Gefühl des Ausgeliefertseins an eine überlegene Macht, veranlasst
offensichtlich dazu, das Selbstmordattentat als die letzte Waffe gegen den
Feind anzusehen. Durch Demütigung, Folter oder auch nur Misshandlungen wie z.
B. menschenrechtsverachtende Schikanen an Armeekontrollpunkten lassen sich
meist junge Palästinenser dazu bewegen, sich als Selbstmordattentäter für
Palästina zu opfern und in die Luft zu sprengen.
Die amerikanische Organisation Human Rights Watch (HRW) hat unter dem Titel „Erased in a Moment“
(„Ausgelöscht in einem Augenblick“) eine Dokumentation über die palästinensischen
Selbstmordanschläge gegen israelische Zivilisten herausgegeben, die die
Attentate der letzten zwei Jahre unter rechtlichen, politischen und
statistischen Gesichtspunkten behandelt. Aus der Zusammenstellung von HRW geht
hervor, dass zwischen September 2000 und August 2002 insgesamt 60
Selbstmordanschläge mit Sprengstoff verübt wurden, von denen sich 48 gegen
zivile oder nicht eindeutig militärische Ziele richteten. Bei den 60 Anschlägen
sind 262 Personen, unter ihnen 226 Zivilsten getötet und 1.892 Personen
verletzt worden (in den Opferzahlen sind die Attentäter nicht enthalten). Die Hamas hat bei 22, die Aksa-Brigaden bei 16, der Islamische Dschihad bei 12 und die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) bei 3 Attentaten die Verantwortung
übernommen; in 3 Fällen erhob mehr als eine Gruppe den Anspruch auf die
Urheberschaft, und zu 4 Fällen gab es keine Bekennerschreiben. 60 Prozent der Attentate
fanden in Israel, der Rest in den besetzten Gebieten statt. Zwischen September
2000 und August 2002 wurden auch 189 Zivilisten bei palästinensischen
Anschlägen getötet, bei denen der Attentäter nicht Selbstmord beging.
Viel zu wenig berücksichtigt bzw. untersucht scheint bisher
die Frage, ob nicht der Antisemitismus, der immer schon im Zentrum des
Islamismus gestanden hat, und der vor allem anderen die Popularität des
Islamismus in der arabischen Welt begründet, eine zentrale Antriebskraft für
den radikal-islamistischen Terror ist. Matthias
Küntzel weist in seinem Buch Djihad
und Judenhaß (Freiburg 2002) darauf hin, dass es nicht Hoffnungslosigkeit
und Verzweiflung allein sind, die die Hamas
zu Selbstmordattentaten treiben, sondern ihr antisemitisches Weltbild.
Welch Geistes Kind die Hamas-Ideologen
sind, verkündet etwa ihre Charta von
1988: Da werden „die Juden“ nicht nur für den Nahostkonflikt, sondern auch für
den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die französische wie die Oktoberrevolution
verantwortlich gemacht und die UN als Instrument jüdischer Weltbeherrschungspläne
„entlarvt“. Als Beweis für derartige Pläne dienen die Protokolle der „Weisen
von Zion“, jener im 19. Jhd. in Russland entstandenen, absurden Fälschung und
Hetzschrift. Das alles hat mit der Palästinafrage nichts, mit antisemitischen
Denkformen sehr viel zu tun.
Im Juni 2002 begann das israelische Verteidigungsministerium damit,
einen Sicherheitszaun entlang der Grünen Grenze zwischen dem Westjordanland und
dem Kernland Israel zu erstellen. Durch den Zaun, der etwa eine Million Dollar
pro Kilometer kosten wird (wobei die Gesamtkosten auf rund 300 Millionen Dollar
veranschlagt werden), sollen potentielle Attentäter daran gehindert werden, von
den palästinensischen Gebieten aus nach Israel zu infiltrieren. Der Zaun mit
seinen Gräben soll mit Videokameras überwacht, mit Wärmemeldeanlagen geschützt
und mit israelischen Kontrollstellen und Durchgangstoren versehen werden.
Die seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 bestehende Grüne Grenze, die das
damals jordanisch regierte, von Israel eroberte und annektierte Westjordanland
von Israel trennt, war bisher durchlässig und nicht, wie der Gaza-Streifen,
durch Zäune und Gräben abgeriegelt. Aus dem Gaza-Steifen stammte bisher kein
einziger Selbstmordattentäter, denn dieser ist von einem 54 Kilometer langen
Zaun umgeben, der Tag und Nacht von israelischen Soldaten kontrolliert wird.
Insgesamt will die Regierung offensichtlich das gesamte Westjordanland auf
einer Länge von 365 Kilometer umzäunen. Selbst entlang der jordanischen Grenze
soll der Zaun verlaufen, obwohl es dort bereits einen regulären gibt, der die
beiden Staaten voneinander trennt. Hin tergrund dieser Aktivitäten ist wohl
auch die Sorge um die demographische Entwicklung: eine Abkoppelung von den mehr
als drei Millionen Palästinensern, um in 20 Jahren nicht als jüdische
Minderheit im eigenen Land über eine arabische Mehrheit zu herrschen. Die
tatsächliche Durchführung dieser Idee hat aber weitreichende Konsequenzen für
die zionistische Idee: sie würde deren völliges Scheitern eingestehen.
Man muss sich das vorstellen: Ein Staat schottet sich voll und ganz von
seiner Umgebung ab und lebt damit im „Transit“-Zustand. Die Israelis würden aus
einer Wagenburg, einer Festung, damit endgültig ein Ghetto machen. Das aber ist
der totale Widerspruch zur zionistischen Ausgangsposition. Die frühen Zionisten
wollten die Juden aus der hermetischen Abriegelung herausholen, in ein Land, wo
sie frei und unabhängig ihre „Scholle“ bearbeiten können. Nun also die
einseitige Abtrennung. Israel wird damit – ummauert – das größte Ghetto in der
jüdischen Geschichte werden, die Juden in der Diaspora des Jahres 2003 wären,
zumindest im Westen, in der Freiheit angekommen, die Israelis dagegen wären
eingesperrt. Doch so grotesk es ist, ganz unerwartet kommt es nicht. Wie sagte
schon der erste israelische Präsident Chaim
Weizmann: „Es ist leichter, die Juden aus dem Ghetto zu holen als das Ghetto aus
den Juden“.
Dass dem Problem Israel-Palästina so viel Aufmerksamkeit zuteil
werden muss, hat zahlreiche Gründe: Erstens wird Israel als westliche
Demokratie an diesem Maßstab gemessen. Zweitens hat der jüdische Staat eine
hochkarätige Diaspora, für die er geistige Heimat und sichere Zuflucht sein
möchte. Drittens wird das Land, als westlicher Vorposten in strategisch wichtigem
Umfeld, von US-Steuergeldern und Geberorganisationen kräftig unterstützt und
steht mit seinen Verbündeten im Ausland in reger Verbindung. Viertens wird
israelische Politik benutzt, um eine islamistische, antiwestliche Stimmung zu
schüren.
Das bedeutet, eine Auseinandersetzung mit der israelischen
Politik aus den verschiedensten Gründen ist zu unterscheiden von
Antisemitismus. Das europäische Bild des jüdischen Volkes wird geprägt durch
die Diaspora-Situation der Juden in Europa seit dem Mittelalter, ihre
Ghettoisierung bis zum Beginn der Aufklärung, ihre großen Beiträge zur
europäischen Kultur und Geistesgeschichte seit dem 18. Jhd. und ihre Opferrolle
im Holocaust. Kritik an der israelischen Regierung stellt die Legitimität des
Staates Israel nicht in Frage und ist nicht als Angriff auf das Judentum zu
verstehen.
Die über drei Millionen Palästinenser im Westjordanland und
im Gazastreifen haben grundsätzlich ein Recht auf einen lebensfähigen eigenen
Staat. Israel sollte die meisten der 1967 eroberten Territorien aufgeben –
nicht nur um den Palästinensern Gerechtigkeit angedeihen zu lassen, sondern
auch in höchst eigenem Interesse. Nicht zu verstehen ist, dass der jüdische
Staat sich von einer kleinen Schar extremistischer Siedler aus den eigenen
Reihen erpressen lässt. Denn eines zeigt die Al-Aksa-Intifada mit aller Deutlichkeit: Die Wut der Palästinenser
entlädt sich vor allem an den im Gazastreifen und im Westjordanland verstreuten
jüdischen Enklaven. Sie werden nicht nur als Symbol eines israelischen Hegemonieanspruches
in diesen Gebieten empfunden, sie stehen auch der Bildung eines funktionsfähigen
palästinensischen Staates im Wege. Einen rationalen Grund, an ihnen
festzuhalten, hat Israel nicht.
Auch wenn die offensichtlichen Ursachen des Konflikts in der
mit der Staatsgründung Israels verbundenen Vertreibung der Palästinenser und
dem sozialen Gefälle zwischen den benachbarten Bevölkerungsgruppen liegen, sind
religiöse Unterströmungen ein nicht zu übersehendes und schwer kontrollierbares
Element der Auseinandersetzung. Der palästinensisch-israelische Konflikt hat
längst seine nationalen Züge verloren, ist eingebettet in einen Prozess, in dem
es um eine grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen dem Westen und dem Islam
geht, wobei Israel in den Augen der arabisch-islamischen Welt den Westen
vertritt. Durch den Aufstieg der europäischen Zivilisationen entstand bei
vielen Muslimen ein Gefühl der Erniedrigung durch den Westen, die USA und
insbesondere Israel. Der Zionismus wird als Gipfel des westlichen Imperialismus
gegen den Islam angesehen, als Teil eines historischen Prozesses, der von den
Kreuzzügen bis in die Gegenwart reicht. Diesem Geschichtsbild gemäß ist der
Judenstaat für den Islam eine Provokation.
Die wahren Gefahren für Israel sind nicht die Anschläge der
Selbstmordattentäter. Die eigentlichen Bedrohungen liegen in den politischen
und psychologischen Folgen der Besatzung für die eignen Gesellschaft. Legale
Folter, Vertreibung und behördlich angeordneter Gewahrsam sind an der
Tagesordnung. Am 11. Januar 1996 gestattet das Oberste Gericht dem Geheim-
dienst erstmals die Anwendung von Foltermethoden in Form von
„moderater physischer Gewalt“. Die Begründung beruht auf Artikel 34 des
Strafgesetzbuches, der Vertretern des Staates Straffreiheit garantiert, wenn
ihre Maßnahmen dazu dienen, das Leben, die Person oder das Eigentum anderer vor
Schaden zu bewahren.
Immer mehr israelische Reservesoldaten brechen daher mit der
Armee – und die Armee mit ihnen. Bis zu tausend Reservesoldaten haben seit Beginn
der Al-Aksa-Intifada den Dienst in den besetzten Gebieten verweigert, über 100
mussten dafür Haftstrafen in Kauf nehmen. „Wir kämpfen nicht, um eine ganze
Bevölkerung auszuhungern, zu erniedrigen, zu dominieren“. Und auch aus
den Reihen von aktiven Soldaten gab es Protest. Am 25. Januar 2002 erschien in
den Zeitungen der Aufruf von 53 Offizieren und Soldaten, alle aus
Kampfeinheiten, also „unantastbar“ in den Augen der israelischen Gesellschaft. „Wir
werden nicht länger jenseits der Grenze von 1967 kämpfen, um die dortige
Bevölkerung zu beherrschen, zu vertreiben, auszuhungern und zu erniedrigen. Die
Befehle, die wir erhielten, zerstören alle Werte, die wir in diesem Land
verinnerlicht haben. Wir begreifen heute, dass der Preis der Besetzung die
Korrumpierung der gesamten israelischen Gesellschaft ist“.
Zwei Völker und ein Land – zwei Völker, die sich in vieler Hinsicht
ähnlicher sind, als sie selbst erkennen, und die doch nicht zusammen leben
können. Die beiden Nationen, die auf biblischem Boden leben und das Heilige
Land unter sich teilen müssen, sind gefangen in einem Trauma des Terrors, mit
dem sie sich beide in diesem schon über
80 Jahre andauernden Konflikt bekämpft haben. Fanatische Moslems, die
aus dem Koran das Recht, ja sogar die Pflicht zum Judenmord herauslesen,
hindern das palästinensische Volk daran, sein Schicksal auf eine rationale
Weise wahrzunehmen und eine realpolitische Entscheidung selbst zu treffen. Auf
der anderen Seite der Judenstaat, dessen Bevölkerung gespalten ist. Eine große
Minderheit ist bereit, das Land zwischen Mittelmeer und Jordan zu teilen,
bereit, neben dem Staat Israel einen Palästinenserstaat zu akzeptieren. Eine
andere große Minderheit will das andere Volk, das im Heiligen Land Heimatrecht
hat, mit eiserner Faust beherrschen oder gar vertreiben. Und eine kleine
Minderheit frommer Eiferer sieht in der „Heiligkeit des Landes“ gar einen
höheren Wert als in der „Heiligkeit des Lebens“. Wer sich allein auf sein Recht beruft, muss wissen, dass es
auf sehr wackligen Fundamenten ruht. Das Heilige Land gehört den Überlebenden der verschiedenen Völker, auch den Juden und Arabern. Dieses
Land war als Durchgangsland immer multi-national, multi-konfessio-nell und
multi-kulturell. Der Wunsch, es in den Staat einer Nation, also in einen Nationalstaat, umzuwandeln, ist
verständlich. Er ist jedoch unrealistisch. Die zwingende Konsequenz ist also,
dass es zwei Staaten geben muss.
Der seinem Ursprung und Charakter nach politische Interessenskonflikt
zwischen Arabern und Juden, in dem es um Landbesitz und Herrschaft ging, hatte
sich in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts durch religiöse Überhöhung
ethnisiert und gegen Interessenausgleich immunisiert. Durch Geschichte,
Geographie und wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit aneinander gebunden,
können die zwei verfeindeten Völker durchaus lernen, gleichberechtigt
zusammenzuleben, wenn nicht aus freier Wahl, dann doch notgedrungen, so wie
Weiße und Schwarze in Südafrika widerstrebend gelernt haben, nach Jahrhunderten
der Feindschaft zu koexistieren. Ein eher zynischer Kommentar aus Südafrika
lautet: „Wir mussten Apartheid erst ausprobieren, um zu wissen, dass das System
nicht funktionieren kann!“. Ohne das Verbrechen zu wiederholen, kann Israel von Südafrika lernen,
dass das Einsperren von Menschen in Stammesreservaten und die Beschränkung der
Rechte anderer in einem ethnischen Staat keinen langfristigen Frieden bringen.
Auch der mit Gewalt oder anderen Mitteln herbeigeführte „Transfer“ löscht das
Heimatgefühl und den Rückkehrwunsch eines Volkes nicht aus und ist außerdem ein
noch größeres Verbrechen. Eine Regierungspartei, die zwischen diesen beiden
Optionen – Transfer oder Apartheid – schwankt und sich in erster Linie von
militärischen Überlegungen leiten lässt, erklärt ihren moralischen Bankrott.
Angesichts des geradezu reflexhaft anmutenden Gewalteinsatzes auf beiden Seiten
breitet sich unter den Beobachtern zunehmend Ratlosigkeit aus. Der israelische
Schriftsteller Amos Oz
schreibt am 16. April 2002 in einem Zeitungsartikel:
„Was kann ein gewöhnlicher Mensch tun, der vor einem gewaltigen Feuer
steht? Er kann versuchen, dem Brand zu entkommen und all die ihrem Schicksal
überlassen, die nicht schnell genug laufen können oder nicht wissen wohin. Er
kann aber auch den Teelöffel, den er in der Hand hält, immer wieder mit Wasser
füllen und es in die Flammen spritzen. Jeder von uns hat so einen Teelöffel.
Wir brauchen in Israel wie auch in Palästina eine 'Teelöffel-Kampagne', bei der
JEDER mitmacht und sein Äußerstes gibt, um dieses ewige Rad von Unterdrückung,
Mord, Vergeltung und Vergeltung der Vergeltung endlich anzuhalten.“
Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.
Israel |
|
Besetzte Gebiete |
Der Staat Israel (einschließlich Ost-Jerusalem und
Golanhöhen, ohne die seit 1967 besetzten Gebiete) umfasst 22.145 km². |
Territorium |
Der Staat „Palästina“ existiert
nicht. Auf dem seit 1967 von Israel besetzten Territorium (Westbank,
Gaza-Streifen und Ostjerusalem: 5633
km²) lebt ein Großteil der palästinensischen Bevölkerung in
Teil-Autonomie. |
6,173 Mio. Einwohner (inklusive
Golanhöhen und Ostjerusalem) |
Einwohner |
3,150 Mio. Einwohner (in den
besetzten Gebieten, ohne Berücksichtigung der Siedler) |
Jerusalem:
633.700 Bew. Tel
Aviv/Jaffa: 348.100 Bew. Haifa: 265.700
Bew. Rischon Lezion 188.200
Bew. Holon: 163.100
Bew. |
Große Städte |
Gaza-Stadt (inklusive Flüchtlingslager): 328.100
Bew. Ostjerusalem: 228.200
Bew. Hebron: 133.600
Bew. Nablus: 111.000
Bew. |
79% Juden 20,8%
in Israel geboren, 32,1%
aus Europa oder USA 14,6%
aus Afrika, 12,5%
aus Asien; das "Recht auf
Rückkehr" wird allen Diaspora-Juden seit dem israelischen Bürgerrecht
von 1950 garantiert. 21% nichtjüdische Minderheiten |
Bevölkerungs- aufteilung |
3,150 Mio. Palästinenser
172 200 jüdische
Siedler im Westjordanland und Gaza-Streifen 172 000 Israelis
in Ostjerusalem |
278,8
Einw./km² (inkl. Ost-Jerusalem, ohne besetze Gebiete |
Bevölkerungs- dichte |
525 Einw./km² |
2,7 Geburten/Frau |
Geburtenrate |
5,6 Geburten/Frau |
0,6% |
Säuglingssterblichkeit |
2,1% |
Amtssprachen: Neu-Hebräisch (lwirt) und Arabisch, Umgangssprachen: Jiddisch, Russisch; Bildungssprache: Englisch; |
Landesprachen |
Arabisch |
79% Juden 15% Muslime (meist Sunniten) 2% Christen ca. 2% Drusen |
Religionen |
Westjordanland: 75%
Muslime 17%
Juden Minderheit
von Christen Gaza-Streifen: 99%
Muslime |
BIP: 110
331 Mrd. US $ Exporterlöse:
25.565 Mio. US$ Importausgaben: 29.972 Mio. US$ Arbeitslosigkeit: 8,8% Empf. Hilfsgelder: 906 Mio. US |
Wirtschaft |
BIP: 4,22 Mrd. US$ Exporterlöse: 420 Mio. US$ (überwiegend an Israel) Importausgaben: 3.062 Mio. US$ Arbeitslosigkeit: 11,8% |
[1] Der Begriff „Zionismus“ ist
zum ersten Mal am 16.Mai 1890 in der Wiener Zeitschrift „Selbst-Emancipation“
von Nathan Birnbaum (Mathias Acher)
geprägt worden, der 1893 auch ein Buch mit dem bezeichnenden Titel schrieb:
„Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande als Mittel zur
Lösung der Judenfrage“. Im Grunde beruht der Zionismus auf drei Grundannahmen:
1. Die Juden seien ein Volk und nicht nur eine Religionsgemeinschaft. Deshalb
ist die Judenfrage eine nationale Frage. 2. Der Antisemitismus und die daraus
resultierende Judenverfolgung ist eine latente Gefahr für die Juden. 3.
Palästina (Eretz Israel) war und ist die Heimat des jüdischen Volkes.
[2] Der Jordan liegt mit seinen
Zuflüssen im Zentrum des Nahostkonflikts, zwischen Syrien, Jordanien, dem
Libanon und den besetzten Gebieten des Westjordanlandes. Seine Hauptzuflüsse
entspringen in verschiedenen Ländern: der Banyas auf dem
Berg Hermon in Syrien, der Dan in
Israel, der Hasbani im Libanongebirge
und der größte Zufluss des Jordan, der Yarmuk
bildet die natürliche Grenze zwischen Syrien und Jordanien.
[3] Baruch Kimmerling, Politizid. Ariel Sharons
Verbrechen gegen das palästinensische Volk. München 2003