HOMO HOMINI LUPUS
DER MENSCH IST DES MENSCHEN  WOLF

ENTWURF 
FÜR EINE GESCHICHTE DER GEWALT
UBoeschenstein
 

6 Wann begann die Gewalt ?

Die Frage nach den Anfängen der Gewalt kann für alle Gläubigen der Vererbungstheorie einfach beantwortet werden: Gewalttätige Anlagen ererbten wir von unseren aggressiven Vorfahren. Gewalt gab es schon immer. (6.1) 

Nun haben aber Verhaltensforscher festgestellt, dass es zwar zwischen Primaten durchaus aggressives Verhalten gibt, dass aber ihre sozialen Gruppen stabil bleiben, weil sich die Tiere auch versöhnen können. Kooperation war bei unseren Vorfahren wichtiger als Konkurrenz. (6.2) In vielen Mythen wird eine Zeit beschrieben, in der Menschen “friedlich” zusammenlebten. (6.3) Hatten sich die Gene für “Aggression” damals noch nicht entwickelt? Oder wird das Verhalten von Menschen vielleicht gar nicht durch Aggressions-Gene gesteuert? 

Menschen lernen ihre Verhaltensprogramme in der Kindheit. In den letzten Jäger und Sammler-Kulturen haben Anthropologen soziale Ordnungen beschrieben, die sich von denen der Neuzeit grundsätzlich unterscheiden. Es gibt bei den”Primitiven” Erziehungsgrundsätze, die zur Kooperation erziehen, und die den Wettbewerb möglichst klein halten (6.4)  Erst in den Bauernkulturen der Bronzezeit enstanden Unterschiede zwischen Mächtigen und Armen. Mit diesen hierarchischen Sozialordnungen entstand auch der Krieg. (6.5) Wenn wir der Gewalt in allen ihren Formen begegnen wollen, müssen wir uns Gedanken machen, wie wir wieder ins Gleichgewicht kommen. Wir werden Wettbewerb und Leistungskampf anders werten müssen. (6.6)
 

6.1 Der Blick zurück

“Ein Blick zurück ist rasch getan! Die Geschichte sagt uns deutlich, dass die Menschen zu allen Zeiten Blutspuren hinterliessen. Denken wir nur an die alten Römer mit ihren Gladiatorenkämpfen und Christenverfolgungen. Dass der Mensch des Menschen Wolf ist, war schon immer so und wird sich nicht ändern!”

Es ist immer schon so gewesen, und es wird immer so sein! Das ist die billigste Ausrede zur “Erklärung” von Gewalt. Man braucht dann gar nicht mehr zu fragen, ob es nicht doch ein gewaltloses Zusammenleben von Menschen geben könnte. 

Friedliches Zuammenleben: Davon träumen die Pazifisten. Das ist eine Utopie. Schauen wir doch um uns. Wo gibt es friedfertige Menschen? 

Mitten unter uns. Wir schlagen nicht alle sofort drein. 

Ja, aber ..... Die Geschichte zeigt doch, dass es immer Krieg gegeben hat. Die Griechen, die Römer, die Germanen, die Indianer, die  ...... 

Eigenartig! Beweise für menschliche Gewalttätigkeit werden immer bei den Römern, bei den wilden Germanen oder bei den grausamen Wilden gefunden, alles Beispiele aus den letzten zweitausend Jahren. 

Das ist doch  unsere Geschichte.  Was  vorher war ,wissen wir nicht. Da  finden  die Ausgräber höchstens noch eingeschlagene Schädel.

Ja, man hat eingeschlagene Schädel gefunden. Sie sind etwa sechstausend Jahre alt. Es gibt keinen archäologischen Fund aus noch früherer Zeit, der sicher und eindeutig auf Gewalteinwirkung schliessen lässt. Wenn wir den Anfängen der Gewalt unter den Menschen nachgehen wollen, müssen wir sehr viel weiter zurückgehen als bis zu den alten Römern. Gladiatorenspiele wie in Rom hat es nicht zu allen Zeiten gegeben. 

Gewalt von Menschen gegen Menschen gab es schon immer! 

Das lehrte man uns in der Schule.  Als ich in die Schule ging,  fing “Geschichte” bei den alten Griechen an. Nur am Rand erzählte der Lehrer von den alten Sumerern, und einmal erwähnte er noch die Kultur der alten Aegypter. Vorher gab es noch keine Zivilisation. Die Menschen waren “primitiv”; sie kannten keinen “zivilisatorischen Fortschritt”, sie glaubten an “Heidengötzen”, sie waren gewalttätige Wilde. Es lohnte sich nicht, über sie zu reden.

Aber über die Zeit vor der Erfindung der Schrift wissen wir doch gar nichts Sicheres. 

Doch. Im Verlauf der letzten hundert Jahre hat sich die Spannweite der “Geschichte” von einigen tausend Jahren auf viele Millionen von Jahren vergrössert. Die Wissenschaft hat einige Fenster in die Vergangenheit aufgetan: Die Archäologen studierten Funde aus der Vorzeit, die Anthropologen beobachteten “primitive” Kulturen, und die Verhaltensforscher beschrieben die Universalien des menschlichen Verhaltens. Auch die Spur der Gewalt haben sie zurückverfolgt, bis zu den Anfängen, als Rivalen begannen, um Vorteile zu kämpfen. Wenn Gewalt “vermeidbare Schädigung eines Artgenossen” bedeutet, dann sind es die ersten Vögel und Säugetiere, die gewalttätig wurden. Wie die Verhaltensforscher  zeigten, werden  aber solche angeborene aggressive Anlagen durch ebenfalls angeborene Anlagen der Aggressionshemmung ergänzt. Bei den frühen Menschen waren diese Hemmungen der Aggression zwischen den Mitgliedern der Art zur hohen Kunst des Zuammenlebens entwickelt. 

M
Primaten und Menschen entwickelten die Kunst des Zusammenlebens.
 
 

M
GESCHICHTE DES LEBENS - GESCHICHTE DES MENSCHEN

4700 Millionen Jahre Das Sonnensystem und seine    Planeten    entstehen
4000 Millionen Jahre Die ersten einzelligen Lebewesen    entwickeln sich
600 Millionen Jahre Metazoa: Zellen schliessen sich zu    Mehrzellern zusammen
500 Millionen Jahre Vertebraten: Tiere mit einem    Rückgrat.    Fische entstehen 
400 Millionen Jahre Die Amphibien erobern das Land.
250 Millionen Jahre Dinosaurier
150 Millionen Jahre Die frühesten mausähnlichen    Säugetiere
64 Millionen Jahre Kosmische Katastrophe: Die Dinosaurier    sterben aus. Die Säugetiere besetzen    neue Nischen.
30 Millionen Jahre Simier: die ersten affenartigen    Tiere

3 Millionen Jahre Homo: Das Gehirn der Primaten    wird    grösser. Der früheste Zweibeiner mit    einem Gehirn von 750 cm3 wird “Homo”    genannt. (2,5 Mio. Jahre)
 
 

AFFEN UND MENSCHEN

7 Mio  Die Entwicklungslinien von Primaten und Menschen   trennen sich.
3.9 Mio  Früheste Funde “zweibeiniger” Affen. 
  AUSTRALO-PITHECUS (OST-AFFE)
3.1 Mio  Lucy: das älteste (fast) vollständige Skelett eines   AUSTRALOPITHECUS
2.5 Mio  HOMO HABILIS (der geschickte Mensch)
  erste “gemachte” Steinwerkzeuge
1.6 Mio  HOMO ERECTUS
  der erste Mensch, der sich ausserhalb von Afrika   verbreitet.
300 000 Jahre HOMO SAPIENS NEANDERTALENSIS
  Menschen der Eiszeit in Europa

150 000 Jahre HOMO SAPIENS SAPIENS
40 000   Jahre Die ersten Homo sapiens sapiens (Cro-Magnon-  Menschen) besiedeln Europa.
 

Misstraut den Geschichtsbüchern!

Die Überheblichkeit der “Herrenmenschen” des 19. Jahrhunderts, die sich selber als “Krone der Schöpfung” sahen, verführte zu einem traurigen Bild der menschlichen Vergangenheit. In den früheren Phasen der Menschheitsentwicklung konnten sie nur keulenschwingende Halbaffen entdecken, deren Brutalität noch nicht durch “Zivilisation” verfeinert war. 

Die “Geschichten” des 20. Jahrhunderts, Geschichten von den Millionen junger Männer, die im ersten und zweiten Weltkrieg von ihren Generälen in den Schützengräben geopfert wurden, von den Millionen Juden, die vom Führer der “besten” Menschenrasse ermordet wurden, zu den Bombenangriffen auf Dresden und Hiroshima und den “ethnischen Säuberungen” in Kambodscha, Somalia, Ruanda und Bosnien haben den Glauben an einen “zivilisatorischen Fortschritt”  zur traurigen Lüge gemacht. Sinnlose, brutale Gewalt ist in unserem Jahrhundert ins Unermessliche gewachsen. Solche “Unmenschlichkeiten” waren unseren “primitiven” Vorfahren gar nicht möglich. Sie verfügten gar nicht über die Mittel, um Hunderttausende auf einen Schlag zu erledigen. Mit unserer Überbetonung der aggressiven Gewalt, mit unserem Gewatpotential hätten sie gar nicht überleben können.  Wir Menschen sind im Lauf der letzten vier Millionen Jahre zu Menschen geworden, weil wir Interaktionsformen entwickelten, die Gewalt einschränken. Die Zeit der GESCHICHTE - das heisst die letzten 2000 Jahre - brachten keine “zivilisatorische” Gewaltreduktion. Im Gegenteil: Gewalt hat “gewaltig” zugenommen.

Sind Menschen Raubtiere?

“Der Mensch ist ein gewalttätiges Raubtier!” - diese “Wahrheit”  wurde von Evolutionsgläubigen verkündet, die in allen Formen des Lebens Kampf ums Überleben zu sehen meinten: Es gibt seit vier Millionen Jahren Menschen, also gibt es auch seit dieser langen Zeit  Mord und Totschlag, Krieg und gegenseitiges Ausrotten, Die ersten Zweibeiner waren Jäger, und “natürlich” schlugen sie sich gegenseitig  die Köpfe blutig. Ein Blick zurück zeigt den Vertretern dieser “Wahrheit” einen “nackten Affen” (Desmond Morris). 

In den letzten Jahren hat sich unter den Paläontologen ein sehr anderes Bild von den ersten “Menschen” durchgesetzt. Sie waren “harmlose” Pflanzen- und Aasfresser, und sie hatten im Verlauf einer langen Entwicklung Verhaltensmuster gelernt, die ein enges Zusammenleben in kleinen, friedlichen Gruppen möglich machte. Anthropologen beschreiben, dass die allermeisten “primitiven” Menschengruppen weitgehend friedlich miteinander umgehen. Auch unter ihnen gibt es Streit, aber Spannungen wurden durch Techniken der Versöhnung, beim Palaver und beim Sich-gegenseitig-Lausen, ausgeglichen. Unsere Vorfahren hatten Regeln des Zusammenlebens entwickelt, die sich von denen unserer modernen Zivilisationen grundlegend unterscheiden.Wir könnten von ihnen lernen, wie Gruppen organisiert sein müssen, die Gewalt auf ein Minimum reduzieren. Der Mensch hat “friedliche” Vorfahren. 

M
Wir Menschen sind im Lauf der letzten vier Millionen Jahre zu Menschen geworden, weil wir Interaktionsformen entwickelten, die Gewalt einschränkten. Frühmenschen lebten in “friedlichen” Gruppen.
Gewalt, Krieg und Völkermord in grossem Masstab sind erst in den Gesellschaften der letzten viertausend Jahre entstanden. Erst in den zwei Jahrtausenden vor der Zeitwende wuchsen die Menschengruppen und es entstanden die ersten sozialen Verbände, in denen sich “Herren” etablierten. Diese “Fürsten” üben Gewalt, sie hielten Sklaven, sie erzogen Krieger.

Bild: Kriegswagen- aus: Arther Ferill 
  The Origins of War. Thames Hudson. 1986. S. 2

ZUM WEITERLESEN:
• Thomas Hobbes Leviathan .  Luchterhand 1966
• H. Wollschläger Die bewaffneten Wallfahrten gegen Jerusalem. Geschichte der   Kreuzzüge. Zürich. Diogenes. 1973
• Gregory Bateson  Geist und Natur. Suhrkamp. 1984
• Morton Hunt  Das Rätsel Nächstenliebe. Campus. 1992
• H.Biedermann  Die Grossen Mütter. Heyne.1989
• H.Biedermann  Höhlenkunst der Eiszeit.  Dumont. 1984
• Gordon Childe  Soziale Evolution. Suhrkamp. 1975
• A.Leroi-Gouhan  Hand und Wort. Suhrkamp. 1984
 
 

6.2 Unsere “friedlichen” Vorfahren

Friedliche Vorfahren! Soll das ein Witz sein? Man braucht ja nur den  Schimpansen und den Gorillas im Zoo  zuzuschauen. Die können ganz “gewaltig”  streiten! 

Friedliches Zusammenleben heisst nicht, dass nie Streit entsteht. Es heisst, dass Streit unter allen Umständen wieder abgebrochen werden muss, damit  der Gruppenfrieden erhalten bleibt. 

Affen sind nicht friedlich! Sie streiten. Sie hören erst auf, wenn einer den andern besiegt hat. 

Nein! Der Streit wird beendet, wenn sich die Streitenden versöhnt haben und sich gegenseitig lausen. Den Schimpansen sind “stabile Beziehungen” wichtiger als der Sieg über den Gegner. 

Aber es gibt bei den Affen immer einen Pascha, der die anderen beherrscht, der bei allen Kämpfen siegt. 

Irrtum. Der sogenannte Pascha  beherrscht die anderen nicht. Er kann nicht befehlen. Die anderen schulden ihm keinen Gehorsam. Verhaltensforscher beschreiben, wie Vögel und Säugetiere dank der Brutpflege “affiliatives” Verhalten entwickelten. Sie lernten Beziehungen zu pflegen. 

Beziehungen lernen!

Bei einfacheren brutpflegenden Tieren dauern diese Beziehungen nur während der Zeit der Aufzucht, später werden die Tiere zu Rivalen. Säugetiere aber, die in kleinen Gruppen ständig zusammenleben, unterhalten langfristige, ja sogar lebenslängliche Beziehungen zueinander. Das ist nur möglich, wenn sich die Tiere “persönlich” kennen und wissen (das heisst “vorauswissen”) können, wie sich ihre Gruppengenossen verhalten. Gruppentiere müssen  Verhaltenformen entwickeln, die die Stabilität der Gemeinschaft erhalten. In kleinen Gruppen kann es keinen endgültigen Sieg eines Stärkeren über einen Schwächeren geben. Es bringt nichts, zu gewinnen. Schimpansen mussten lernen, flexibel zu sein. Man muss seine Ansprüche zurückstecken können. Man muss sich anpassen. Der Sieg im Konkurrenzkampf bringt nichts. Die Gruppe überlebt nur, wenn die Mitglieder kooperieren. Unter den Verhaltensforschern hat sich in den letzten Jahrzehnten die Erkenntnis durchgesetzt, dass nicht die Konkurrenz um Vorteile das Zusammenleben der ersten Zweibeiner bestimmte, sondern ihre Fähigkeit zur Kooperation. Die Beziehungen zwischen den Guppenmitgliedern und zwischen den Gruppen sind viel wichtiger; sie verlangen die Fähigkeit der Kooperation, des Ausgleichs, des Einfühlens. Die Fähigkeit der Einfühlung hat es den frühesten Menschengesellschaften ermöglicht, aggressive Spannungen innerhalb der Gruppen  durch “Versöhnungen” abzubauen und so immer wieder neu das Gleichgewicht in den Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Gruppe zu erhalten. Bei den Primaten sind bei dieser Gleichgewichtssuche soziale Systeme entstanden, die sowohl das Autonomiestreben der Individuen wie auch die notwendige Grundlage der Geborgenheit in der Gruppe gewährleisten. Was in den Primatengesellschaften während Millionen von Jahren geübt wurde, ist in den Menschengesellschaften weiterentwickelt worden. Toleranz und Versöhnung waren die wichtigsten Lernergebnisse der kulturellen Evolution.


Die GLADIATOREN-SHOW:
Die in der Biologie vorherrschende Perspektive betrachtet das Leben als einen “unaufhörlichen, offenen Kampf” oder als “Gladiatoren-Show” (Thomas Huxley). Im Brennpunkt liegen rücksichtsloser Wettbewerb und die Vorteile, die die Tiere aus ihren Beziehungen zueinander ziehen. Dass sich Tiere in einem Existenzkampf befinden, ist unbestreitbar; im Falle eines Interessenkonflikts können sie erstaunlich gewalttätig sein. Aber nicht alles, was sie tun, geht auf Kosten anderer. Viele Arten schliessen sich in kooperativen Gruppen zusammen, die zumeist den Eindruck von Harmonie vermitteln. Unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, bilden stabile soziale Beziehungen aus. 
                  Frans de Waal 1989. S.7


....Primaten haben Methoden entwickelt, um Frieden zu stiften. Jedem Tier, das es vorzieht, in Gruppen zu leben anstatt als Einzelgänger, bietet sich einfach keine andere Möglichkeit. 
In einem Jahrhundert, in dem sich Frieden zum einzigen und wichtigsten öffentlichen Thema entwickelt hat, ist es von essentieller Bedeutung, das anwachsende überzeugende Beweismaterial vor Augen zu führen, dass auch für Menschen Friedenstiften ebenso natürlich ist wie Kriegführen.               Frans de Waal 1989. S. 13/14
 


Unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, bilden stabile soziale Beziehungen aus. Die Mitglieder dieser Gruppen sind gleichzeitig Freunde und Rivalen, die sich um Nahrung und Partner zanken, zugleich aber voneinander abhängig sind und ein starkes Bedürfnis nach beruhigendem und tröstendem Körperkontakt haben. Diese Tiere müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass sie manchmal einen Kampf nicht gewinnen können, ohne einen Freund zu verlieren. Der Ausweg aus dem Dilemma ist entweder, den Wettbewerb zu reduzieren, oder aber, den Schaden im Nachhinein zu reparieren. Die erste Lösung ist als Toleranz bekannt, die zweite als Versöhnung.       Frans de Waal 1989, S. 9
 

Friedliches Zusammenleben heisst für Menschenaffengruppen nicht ein Leben ohne Streit; es heisst Zuammenleben ohne zerstörerische Gewalt. 
Schimpansen streiten viel; sie verbringen aber auch einen Grossteil  ihrer Zeit beim Lausen, bei der Pflege ihrer Beziehungen. Diese sozialen Verhaltensmuster sind den Tieren nicht angeboren. Sie werden von den Jungtieren gelernt. Sie werden als “kulturelle” Erfahrungen weitervermittelt. 

Das Milgram-Experiment bei Affen: 

Dass Rhesusaffen nicht nur garstig sind, wird durch ein Experiment belegt. Einigen Affen wurde beigebracht, an Ketten zu ziehen, um Nahrung erhalten. Nach Erlernen dieser Reaktion wurde ein anderer Affe in einem benachbarten Käfig untergebracht; jetzt verursachte das Ziehen der Kette zudem, dass der Nachbar einen elektrischen Schlag erhielt. Die meisten Affen verzichteten lieber auf das Ziehen der Kette und die anschliessende Nahrungsbelohnung, als ihren Kameraden leiden zu sehen. Manche fasteten fünf Tage lang. Die Forscher stellten fest, dass dieses Opfer bei denjenigen Individuen wahrscheinlicher ist, die selbst einmal in der unglücklichen Position des anderen Affen gewesen waren. 
Dieses Ergebnis kann Stanley Milgrams berühmten Experimenten gegenübergestellt werden, bei denen Menschen anderen Menschen elektrische Schläge versetzten. (vgl. Kap. 3.6) Der Unterschied zu der Rhesusstudie ist, dass die menschlichen Versuchspersonen irregeführt worden waren: Ihnen war erzählt worden, dass es das Ziel sei, die Wirkung von Bestrafung auf das Gedächtnis zu untersuchen, wohingegen die tatsächliche Absicht war festzustellen, wie gehorsam sie selber waren. Wir neigen dazu, das Ausmass zu unterschätzen, in dem Rang und Autorität unser Verhalten beeinflussen. 
   Frans de Waal 1989, S. 105

M
Bei Affen ist das Mitleidenkönnen so weit entwickelt, dass sie ihren Nächsten keine Gewalt antun können. 

Bei den Rhesusaffen, die fünf Tage fasteten, war offenbar das Mitleidenkönnen so stark entwickelt, dass nichts sie dazu bringen konnte, gegen den anderen gewalttätig zu werden. Sie konnten dem Nächsten keinen Schaden zufügen. Dabei sind - so sagen die Verhaltensforscher - Rhesusaffen die aggressivsten unter den Primaten. Sie kämpfen oft miteinander. Wie entscheidet ein Rhesusaffe, ob er zu seinem Vorteil den anderen plagen will? Kann er darüber nachdenken, wie er sich verhalten soll? Verhält er sich “automatisch” zum Vorteil der andern? Wie das Experiment zeigt, können die Primanten sich “Leiden” im anderen vorstellen. Sie denken über ihre Reaktionen nach. Die erschreckenden Ergebnisse des menschlichen Milgram-Experiments zeigen, dass Menschen zwar über ihr Verhalten reflektieren können, dass sie aber Anpassungsprozessen unterliegen, die Gehorsam gegenüber einer Autorität im Verhalten festschreiben. Solcher “Kadaver-Gehorsam” konnte in den frühen Gruppen gar nicht entstehen. Er ist ein Produkt späterer, autoritätsgläubiger Zivilisationen. Die Evolution hat den Lebewesen die Fähigkeit, sich zu behaupten, sich am Leben zu erhalten, “angezüchtet”. Dazu gehören auch aggressive Verhaltensmuster. Was die Natur den Menschen aber nicht mitgegeben hat, ist ein Drang zum Töten. 
Krieg, Mord und Gewalt sind kulturelle Errungenschaften. 
M
Menschen lernten zuviel Gehorsam. Sie verloren dabei ihre Fähigkeit zur Einfühlung in ihre Nächsten.

M
Krieg, Mord und Gewalt sind kulturelle Errungenschaften.
 
 

Gewalt ist überlebensnotwendig!

Lebewesen müssen sich verteidigen können; sie müssen ihre  Autonomie bewahren. Wahrscheinlich haben sich die frühen herumziehenden  Menschen viel “hemmungsloser” gestritten. Aggressive Reaktion führen leicht zur Eskalation des Streits. Menschen haben beim Zusammensein am gemeinsamen Lagerplatz gelernt, Streit unter andern Gruppenmitgliedern zu schlichten. Als letzte Möglichkeit konnten die Streithähne die kleine Gruppe für einige Zeit verlassen und sich einer anderen Gruppe des Stammes anschliessen, bis Gras über die Sache gewachsen war. 

Unter den Jägern und Sammlern war Streit nie ein dauernder Zustand. Sie entwickelten soziale Regeln, um den Frieden in der Gruppe zu bewahren und im Frieden mit anderen Gruppen zusammenzuleben. Menschen streben nicht nur egoistisch nach Selbständigkeit, sie suchen nicht nur ihren “privaten” Vorteil. Sie brauchen auch Geborgenheit in der Gruppe.  Das zeigt sich im Aufbau und in der Organisation der sozialen Gefüge, der Horden und Stämme.

Dominanzhierarchien gab es in den frühen Menschengruppen nicht. Verhalten wird nicht befohlen. Unsere Vorfahren hatten im Laufe der letzten drei Millionen Jahre “archaische”, d.h. ursprüngliche Formen des Zusammenlebens entwickelt, die auf einem hochentwickelten  Einfühlungsvermögen und auf intensiver Zusammenarbeit in der Gruppe basierten. Sie hatten gelernt, sich zu ver-stehen. Die Menschen vor 100 000 Jahren waren nicht primitiver, nicht tierischer als wir. Ihre emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten waren den unseren ebenbürtig. Sie konnten sprechen und besassen eine hochentwickelte Fähigkeit, ihre Gedanken in Bildern auszudrücken.  Das Erbe der Rentierjägerkultur ist nicht wilde, unkontrollierte Brutalität. Die Entwicklung der sozialen Fähigkeiten hat unseren “wilden” Vorfahren ermöglicht, in den riesigen Weiten der eiszeitlichen Tundra vom Ural bis zum Atlantik Verbände zu bilden, die gegenseitige Hilfe ermöglichten. 

In Primatengruppen musste die Ordnung der Gruppe durch einen ständigen Rangkampf immer wieder etabliert werden. Kämpfe sind aber Augenblicksreaktionen, sie sind schnell vergessen, und die Streitenden sind schon bald wieder miteinander beim Lausen. Im engen Körperkontakt werden die Spannungen wieder abgebaut. Gegenseitige Hilfe lässt soziale Gefühle entstehen. 

M
Der Mensch der technisch zivilisierten Massengesellschaft sieht sich mit Anpassungsschwierigkeiten konfrontiert.         I. Eibl-Eibesfeldt 1991
 

Soziale Ordnungen

Die sozialen Gefühle der  Homo-sapiens-Gruppen sind Werkzeuge der Ordnung. Sie sind - wie die Ordnung der Gedanken - eine Folge der Entstehung der Sprache. Menschen brauchen in ihren engen Verbänden mehr Spannungsabbau-Rituale als Schimpansen. Auch sie kennen das Lausen, den engen Körperkontakt. Sie haben aber auch die Möglichkeit, sich Gefühle mitzuteilen. Sie können miteinander reden und Spannungen, das heisst Meinungsverschiedenheiten ausgleichen.
 
 

HOMO HOMINI LUPUS

Der Mensch ist des Menschen Wolf. Seit zweitausend Jahren behaupten dies die Pessimisten unter den Menschenbeobachtern. Sie sahen, wie sich Menschen gegenseiig zerfleischen, und sprachen von angeborenen aggressiven Merkmalen des Verhaltens. Diese Pessimisten wollten nicht sehen, dass die Anpassungen, die sich im Laufe der vier Millionen Jahre dauernden menschlichen Evolution als wichtig erwiesen, genau das Gegenteil von Aggression förderten. Menschen lernten die Kunst des Zusammenlebens in überblickbaren, engen Gruppen, in denen der Nächste nicht ein böser Wolf sein durfte. Sie entwickelten Gruppengefühle. 

Gruppengefühle müssen  sich in Gesellschaften von Tieren ausbilden. Ohne Versöhnungsrituale als Ausgleich zum Rangkampf wird eine Gruppe instabil und zerfällt. Das ist es, was in unseren  Massengesellschaften gefährlich wird, in denen namenlose Fremde sich nur einmal und dann nie wieder begegnen. Zusammenleben ist nur möglich, wenn die Kontakte regelmässig sind und jeder damit rechnen muss, dem Nächsten wieder und wieder zu begegnen. Diese Form der Gesellschaften hat das Leben der Menschen bis vor wenigen Generationen geprägt. Noch um 1800 lebten nur 2% aller Menschen in anonymen, urbanen Grossagglomerationen von mehr als 1000 Individuen. Heute leben dagegen mehr als 50% aller Menschen in  atomisierten Massenansammlungen. Wir betrachteten noch bis vor kurzem das Bevölkerungswachstum als etwas Positives. (Wachsen ist ja grundsätzlich GUT.)  Ob es aber überhaupt möglich ist, Menschen zu einem “menschlichen” Zusammenleben mit anonymen Milliarden zu erziehen, wissen wir nicht. 

Verhaltensmuster sind bei Menschen über viele Generationen gewachsene Überlebensregeln für Gruppen. Gruppen überleben, nicht die einzelnen Individuen. Gruppen bestimmen deshalb die “Moral” der Emotionen. Dass in unserer Gesellschaft das Zusammenleben nicht mehr spielt, dass wir unter wachsender Gewalt in unseren Städten leiden, hat seinen Grund in unserer Unfähigkeit, die Werte der Gruppe über die Freiheit des Einzelnen zu stellen. Alle männerdominierten Kriegergesellschaften der letzten viertausend Jahre sind durch Überbewertung der Konkurrenz, durch Belohnung der Tapferen und Mutigen, in gefährliche positive Rückkoppelungskreise geraten, sind “gewaltig” gewachsen und wurden instabil. Keine “Hochkultur” hat länger als ein paar hundert Jahre überdauert. Die “Primitivkultur” der Aborigines in Australien “lebte” fünfzigtausend Jahre lang, bis 1788  wir Weissen anfingen, sie zu zerstören. Weisse “Sieger im Überlebenskampf” haben sich überall auf der Welt das Recht angemasst, ihre “höhere Lebensmoral” den Primitiven mit aller Gewalt zu vermitteln. Wir waren ja gescheiter als die Wilden. Wir hatten die besseren Waffen!  Die “Wölfe” - das sind Männer, kämpferische Krieger, die meinen, mit von oben verordneter Gewalt die “Masse” zu beHERRschen. 

Die frühen Menschengruppen brauchten keine befohlene Ordnung. Sie  brauchten das Lachen zum Fiedenstiften. Es erhielt die Ordnung der Gruppe. Wer von der verpflichtenden Tradition des Verhaltens abweicht, wird ausgelacht und dadurch ohne Strafe, ohne Gewalt diszipliniert. In frühen Menschengruppen gibt es noch keine Institutionen der Macht. Verhalten wird nicht befohlen. Es brauchte keinen Zwang. Die Fürsorge der Alten, der Eltern und der übrigen Menschen in der Gruppe lassen die Kinder in vertrauenvoller Geborgenheit lernen, wie “man” sich zu verhalten hat, um die anderen nicht zu stören. Kinder müssen nicht gezwungen, nicht “er-zogen” werden. Sie wachsen natürlicherweise in ihre erwachsene Selbständigkeit, wenn sie Gelegenheit haben zu spielen. Sie erkunden ihre Umwelt selbständig. Sie passen sich an die Regeln dieser Umwelt an. 

Wenn diese Regeln Wettbewerb und Egoismus sind, dann lernen Kinder, um Rang zu kämpfen. Sind die Regeln “Ausgleich und Kooperation”, dann übernehmen Kinder diese Formen ebenso natürlich. Zum Lernen dieser Umgangsformen braucht es keinen Zwang. 
 

Bild: Abschuss von Aborigines: 
in:  Bruce Trigger: A History of Archeological Thought 
Cambridge University Press. 1989. S. 142
vgl. Fotokopie
 

ZUM WEITERLESEN:

• Frans de Waal  Wilde Diplomaten. Hanser 1989
• I. Eibl-Eibesfeldt   Der Mensch das riskierte Wesen. Piper 1991
• J.McCrone  Als der Affe sprechen lernte. Krüger 1990.
• J.Herbig  Im Anfang war das Wort. DTV1986
• J.A.Gowlett Auf Adams Spuren. Herder. 1985
• F.Klix  Erwachendes Denken.  Spektrum 1993.
 
 
 

6.3 Der Traum vom goldenen Zeitalter!

Tiere, die  ohne Gewalt zusammenleben!  Menschen, die  nicht streiten. Das erinnert an das Märchen vom Paradies in der Bibel. Da fressen sogar die Löwen Gras. Wir leben aber nicht in einem Paradies. Wir sind daraus vertrieben worden. Die Realität ist anders; da fressen die Starken die Schwachen. 

Das ist auch ein Märchen, das Märchen vom Überleben des Stärksten. Es ist ebenso falsch wie die Geschichte vom grasfressenden Löwen. Es ist nicht der Stärkste, der durch seinen Sieg über die Schwachen überlebt, es ist der am besten Angepasste. Die Evolutionstheoretiker nannten das Auswahlprinzip “survival of the fittest”. 

Das Leben ist aber doch ein ständiger Kampf. Der Grosse frisst den Kleinen. 

Richtig. Die grossen Fische fressen die kleinen Fische. Aber die Kleinen überleben im Schwarm, weil sie sich zusammenschliessen. Seit die Lebewesen gelernt haben, Gruppen zu bilden, können sie sich in diesen Gemeinschaften schützen. In den kleinen Horden der Primaten ist darum nicht der Kampf untereinander für das Überleben wichtig, sondern die Erhaltung der Gruppe. In der Gruppe geht es immer um die Erhaltung des Friedens. Soziales Verhalten braucht Ausgleich, Erhalten des Gleichgewichts. 

Und dafür sorgt der Stärkste in der Gruppe, der Ordnung schafft!

Nein. Für den Ausgleich sorgen alle. Die frühen Menschen hatten gelernt, in der Gruppe ihre Nahrung zu teilen. Die Ordnung der Gruppe ist das Teilen. Es gibt keinen Starken, der befiehlt. Der Zusammenhalt der Gruppe ergibt sich aus dem Miteinander, aus dem Miteinander-Teilen. Die Menschen teilten auch Gefühle. Sie lernten sprechen, um ihre Gefühle miteinander zu teilen. Sie können kommunizieren, sich mit-teilen. 

Und dann streiten sie miteinander. Streiten kann man auch mit Worten. 

Stimmt! In den Gruppen wird auch gestritten. Aber die Sprache dient vor allem dem notwendigen Konsens. Am Lagerfeuer wird geredet, um Streit zu schlichten.  Die Menschen erzählen sich am Lagerfeuer auch Geschichten. Seit sie sprechen können, bewahren sie ihre Erfahrungen in Geschichten und geben sie so an die nachfolgenden Generationen weiter. So sind alle Mythen entstanden, als Geschichten der Vorfahren. 

Und die erzählen von den Kriegern, den Helden, die Grosses geleistet haben. 

Das stimmt nicht. Die ältesten Geschichten erzählen nicht von Helden, sie berichten von einer friedlichen, goldenen Zeit, in der die Menschen keinen Krieg kannten. Die ersten Menschen lebten im Paradies, erzählt die Bibel. In anderen Kulturen entstanden Mythen vom “Goldenen Zeitalter”.

Die Weltalter - Die Goldene Zeit

Ein goldnes Geschlecht wurde zuerst erschaffen, das ohne Beschützer aus eigenem Trieb und ohne Gesetz die Treue und Redlichkeit übte. 

Strafe und Furcht waren fern, man las noch keine drohenden Worte auf ehernen Tafeln, und keine um Gnade flehende Menge bebte vor dem Angesicht ihres Richters: ohne Richter waren sie sicher. 

Noch war nicht, in den Bergen gefällt, die Fichte in die klaren Wogen hinabgestiegen, um eine fremde Welt zu besuchen. Keine Küsten kannten die Sterblichen - ausser der, die sie selbst bewohnten. 

Noch schlossen keine tiefen Gräben die Städte ein, weder gerade Trompeten noch krumme Hörner formte man aus Erz, es gab heine Helme, keine Schwerter. Ohne daß es eines Kriegers bedurft hätte, lebten die Völker sorglos in friedlicher Musse. 

Frei von Zwang, von keiner Hacke berührt, von keiner Pflugschar verwundet, gab von sich aus alles die Erde. Linder Westwind fächelte mit lauen Lüften die Blumen, die niemand gepflanzt hatte. Bald trug ungepflügt die Erde auch Früchte des Feldes, und ohne je einer Ruhepause zu bedürfen, wurde die Flur gelb von schweren Ähren.     Ovid Metamorphosen

Das muss ein “Märchen” sein!  Zweitausend Jahre lang glaubte niemand, dass diese Geschichte ein Bericht sein könnte. Im Weltbild der Männer muss es Gewalt schon immer gegeben haben. Vorstellungen einer gewaltlosen Welt mussten als “Utopien” angesehen werden. Erst die Ergebnisse der Frühgeschichtsforschung und der Völkerkunde haben aufgezeigt, dass frühe Menschenkulturen so organisiert waren, wie es Ovid  beschreibt: eine Welt ohne Strafe und Furcht, ohne Gesetz und Richter, ohne Krieger. Eine Welt, in der Menschen friedlich zusammenlebten. Für die christlichen Denker der letzten zweitausend Jahre musste es schon immer Herren und Krieger gegeben haben. Eine Welt ohne Krieg und ohne Gewalt war gar nicht vorstellbar. So hatte Gott die Welt eingerichtet. Er hatte einen Stellvertreter  auf Erden eingesetzt, der seine Macht hier unten verkörperte. Gott hatte Herren und Sklaven geschaffen, und das Volk brauchte einen Herren. Ordnung war nur vorstellbar als von oben eingesetzt. Diese “Weltordnung von oben” war die “wahre Ordnung”. Es gab nur eine  Wahrheit, und die Herren verordneten sie. Ihre Welt war die Welt des Eisens. 

Von hartem Eisen ist das letzte Geschlecht, und gleich mit ihm brach in dieser Zeit des schlechteren Metalls jeglicher Frevel hervor. 

Es flohen Scham, Wahrheit und Treue. Deren Platz nahmen Betrug und Hinterlist ein, Heimtücke, Gewalt und heillose Habsucht. 
Grund und Boden, früher Gemeingut wie Sonnenlicht und Luft, teilt nun genau der Feldmesser ein durch lange Grenzlinie. 

Überwältigt liegt die Nächstenliebe am Boden, und als letzte der Himmlischen verlässt die Göttin der Gerechtigheit, die Jungfrau Astraia, die vom Mord bluttriefende Erde. Ovid

Bild: Narmerpalette. Aegypten. 3. Jahrtausend v. Chr. 
aus.   Arther Ferill 
  The Origins of War. Thames Hudson. 1986. S. 32
 

ZUM WEITERLESEN:

• Sproul Barbara  Schöpfungsmythen. Diedrichs 1993

6.4 Jäger und Sammler
 

“Ohne daß es eines Kriegers bedurft hätte, lebten die Völker sorglos in friedlicher Musse.”   Ovid

Sorglos, in friedlicher Musse?  Die Frühmenschen lebten doch während der Eiszeit. Es war kalt. Die können doch gar nicht sorglos gelebt haben. 

Ja, und sie lebten in Höhlen und hatten ständig Hunger, und sie wurden von den wilden Tieren gefressen. Sie hatten nur Felle als Kleidung und und und.......  Das sind die Cliché- Vorstellungen, die im Geschichtsunterricht verbreitet wurden. Moderne Forscher haben bei den Eskimo gelebt und ihre Technik der Jagd studiert: Sie haben keinen Hunger, sie leben sogar im Überfluss.

Die Eskimo! Man kann doch nicht die heutigen Eskimo mit den Höhlenbewohnern vor 10 000 Jahren vergleichen. Über jene Zeit können wir doch gar nichts  Genaues wissen. Da gibt es keine Dokumente. 

Es gibt sogar sehr viele Dokumente. Die Archäologie hat in den letzten hundert Jahren Methoden entwickelt, die aus mikroskopischen Funden Schlüsse auf die Ernährung, auf den Gesundheitszustand und auf die Jagdtechnik erlauben. Wir wissen sehr viel über die Lebensumstände der Menschen der Eiszeit. Und alles, was die Frühgeschichtsforscher aus den Funden ableiten, deutet darauf hin, dass diese Gruppen wirklich friedlich lebten.

Kämpfe entstehen immer um Territorien. Die müssen doch ebenfalls mit allen Mitteln ihre Territorien verteidigt haben. Für mich ist das Krieg. 

Als die Weissen vor zweihundert Jahren nach Australien kamen, staunten sie darüber, dass es bei den Aborigines in der Wüste keine Grenzen zwischen  den Gruppen gab. Sie teilten offenbar ihren Lebensraum anders ein als wir Weissen. Es gab keine Kämpfe um Territorien. Ja, es gab gar nichts, was man mit unserem Begriff “Territorium” beschreiben konnte. Sie kannten sehr wohl Besitztümer, jeder besass seine “Sachen”, aber Besitz an Land war ihnen völlig fremd. 

Soll das heissen, dass es bei ihnen keinen Krieg gab?

Es gibt bei den Jäger- und Sammlervölkern nicht nur keinen Krieg, es gibt auch keinen Neid um Besitz. “Haben” ist für mobile Wildbeuter kein wünschenswerter Zustand.

M
Wo Wettbewerb “herrscht”, wo Menschen gewinnen müssen im Spiel des Lebens, entsteht Gewalt als Form der Interaktion. 
 

Die prähistorischen Jäger hatten keine Gelegenheit, ein leidenschaftliches Besitzstreben oder Neid gegenüber den Besitzenden zu entwickeln, weil es einen Privatbesitz, nach dem man hätte streben können, gar nicht gab, und weil die wirtschaftlichen Unterschiede so geringfügig waren, dass sie kaum Neid erregen konnten. Im Gegenteil war die damalige Lebensweise dazu angetan, die Zusammenarbeit und ein friedliches Miteinanderleben zu fördern. In einer Gesellschaft, in der wirtschaftlich und sozial keine Basis für eine solche Ausbeutung vorhanden ist, wäre der Gedanke absurd, die physischen und psychischen Kräfte eines anderen Menschen für seine Zwecke ausnützen zu wollen.    Erich Fromm  1974, S. 142 

Andere Menschen für seine Zwecke ausnützen! Das ist das Grundverhalten in unserer modernen Gesellschaft. Wir feiern Wettbewerb und Leistung als grosse Errungenschaften des zivilisatorischen Fortschritts. Wo aber Wettbewerb “herrscht”, wo Menschen gewinnen müssen im Spiel des Lebens, entsteht Gewalt als Form der Interaktion. 

Die guten Wilden

Als Jean-Jacques Rousseau 1751 über die “guten Wilden” schrieb, war das eine Provokation für die “nobilité”. Zivilisation konnte es nur geben, wenn gute Herren für die gute Ordnung sorgten. Die Wilden waren Barbaren und frassen sich gegenseitig. Seither sind viele “primitive” Völker beschrieben worden, und die Anthropologen haben bei den “Wilden” Menschen gefunden, die gar nicht wild waren. Zu ihrem grossen Erstaunen gab es Menschengruppen, “die ohne Krieger in friedlicher Musse lebten”, in denen Wettbewerb und Sieg kein Ansehen erbrachten. Sie nannten diese Gesellschaften “Jäger und Sammler”-Völker.
 

Jäger und Sammler

Diese Bezeichnung stammt aus dem 19. Jahrhundert. In der Vorstellung der Forscher kamen die Jäger zuerst. Menschen waren Jäger. Auch der zweite Begriff “Sammler” steht für Männer. Nach dem Modell der patriarchalischen Familie sorgte der Mann für die Nahrung. Die Frauen sorgten am Herd für die Kinder. Wir wissen heute, dass die Sammlerinnen mehr als die Hälfte der Nahrung für die Gruppe beitragen. In den meisten Wildbeutergruppen ist der Beitrag der Jagdbeute nicht mehr als 20%. Wir müssten deshalb heute von Sammlerinnen und Jäger-Kulturen reden.
 
 

Bild: Jäger und Sammlerinnen
aus:  Lewis Binford
  In Persuit of the Past.
  Thames and Hudson. 1988
  S. 173
 

M
Die Sammlerinnen sind wichtiger als die Jäger. 
 

Die Jagd wurde von den frühen Anthropologen als Beweis für die entwickelte Intelligenz der Homo angesehen. Beim Jagen - so meinte Mann - hatte sich das Denken entwickelt. Die Jagd hatte auch den Tötungstrieb bei den Menschen wachsen lassen. Menschen waren Raubtiere, die aus Lust töteten. Aus der Jagd wuchs in dieser Sicht auch der Trieb zum Krieg, zum Töten von Artgenossen. Die Völkerkundler konnten aber nirgends bei diesen “ Jäger und Sammler”- Völkern Lust am Töten feststellen. Ganz im Gegenteil. Überall, wo Jäger Wild töten, müssen sie sich bei den Tieren entschuldigen. Sie müssen die Herrin der Tiere beruhigen, und sie versprechen, nur soviel Wild zu töten, wie sie zum Leben brauchen. 

Der Beitrag der Frauen

Weitaus der grösste Teil der Nahrung wird bei heute lebenden Jäger und Sammler -Gruppen von Frauen gesammelt. Es ist dies bei all diesen Völkern eine Tätigkeit, die von den Frauen gemeinsam unternommen wird. Frauen sammeln im Kollektiv für das Kollektiv. Alle Nahrung wird ins Lager zurückgebracht und dort verteilt.
Um genügend Pflanzennahrung zu sammeln, brauchen die Frauen ein riesiges Wissen über die Planzenwelt. Sie kennen Hunderte von essbaren Pflanzen und wissen, wo und wann sie wachsen. Dieses Wissen vermitteln die Frauen ihren Kindern. Sie zeigen den Jungen, wo frau suchen muss. Sie erzählen auch Geschichten der grossen Mutter, die alle Nahrung gibt. 

Bild: Der Mörderaffe - Australopithekus
aus:   Erhard Oeser
  Psychozoikum
  Paul Paray. Berlin und Hamburg. 1987
  S. 159

Das Märchen von den Mörderaffen

In den letzten siebzig Jahren mussten die Archäologen ihr Bild vom Frühmenschen gründlich revidieren. “Mörderaffen”, so nannte noch 1925 der Paläontologe Raymond Dart  die frühesten Zweibeiner, die Australopithekinen. Er fand ihre eingeschlagenen Schädel und ihre Kampfwerkzeuge. Für Dart war klar, dass schon die frühesten Menschen ihr Überleben der Überlegenheit im Kampf verdankten. Menschen waren Menschen geworden, weil sie sich besser verteidigen konnten. Behauene Steine waren Waffen. Mit diesen Waffen haben sich die Frühmenschenhorden gegenseitig den Kopf eingeschlagen. 
 
 

Bild: Frühmenschen
aus:  Helen Fisher
  Anatomie der Liebe
  Droemer/Knaur. 1993
  S. 184

Heutige Frühmenschenforscher studieren dieselben Funde, sie erkennen dieselben behauenen Steine, aber sie interpretieren sie als Werkzeuge. Es gibt vor der Bronzezeit  keine Waffen. Es gibt nur Jagdwerkzeuge. Die Erforschung der Lebensweise der vorgeschichtlichen Eiszeitkulturen hat gezeigt, dass die soziale Struktur dieser Völker mit denen heutiger “Wildbeuter” identisch waren. Wir wissen, dass bis vor 10 000 Jahren alle Menschen auf der Erde als Jäger und Sammler lebten. Heute sind es nur noch winzige 0,02% der Erdbevölkerung. Jäger und Sammler leben heute nur noch in Gegenden, in denen  sesshafte Bauern nicht überleben können. Zu ihnen zählen die Eskimo (Inuit) im Norden, die Buschleute in der Kalahariwüste, die Aborigines in den Trockengegenden von Australien und viele kleine Gruppen in Borneo und Guinea. Alle diese Menschengruppen haben bestimmte Merkmale der sozialen Organisation gemeinsam. Wie hängen diese Merkmale mit der “Friedensliebe” der Jäger und Sammler zusammen? 
 
 
 

M
Mutter Natur ist freigiebig. 
 

“Wenn wir heute nichts zu essen haben, werden wir es  morgen haben.”

Diesen Ausspruch eines Punan  (Jäger und Sammlervolk in Borneo)
überliefert Marshall Sahlins. Er prägte den Ausdruck von der eiszeitlichen “Überflussgesellschaft”. Es gibt bei den “Sammlerinnen” keine Vorratshaltung, wie wir sie heute für selbstverständlich halten. Sammlerinnen kennen ihre Umwelt und wissen, wo zu allen Jahreszeiten genügend Nahrung zu finden ist. Alle diese Völker haben ein umfassendes Wissen über die essbaren Pflanzen in ihrem Gebiet und vermitteln dieses Wissen in Geschichten und Mythen an die nachkommende Generation. In ihrer Vorstellung ist “Mutter Natur” freigiebig. Es gibt genug Nahrung für alle. Nahrungsmittel können nicht lange aufbewahrt werden. Es lohnt sich nicht, “Besitz” aufzuhäufen. Eine erstaunliche Feststellung war für viele Anthropologen, dass die Wildbeuter nur einen sehr kleinen Teil ihrer Zeit der Nahrungssuche widmen. Es sind im Tag meistens nicht mehr als zwei bis drei Stunden. Voraussetzung, um zu allen Zeiten Nahrung zu finden, ist Beweglichkeit. Jäger und Sammler sind mobil. Ihre Wandergebiete sind ausgedehnt. Wenn die Bäume und die Knollen, Pilze und Beeren an einem Ort abgeerntet sind, wandert die Gruppe weiter. Bei den meisten Wildbeutern bestehen diese wandernden Gruppen aus nicht mehr als 20- 30 Menschen.

Bei den “!KUNG”-Buschmännern in der Kalahariwüste:
An einem normalen Tag verschwinden die gesunden Männer gewöhnlich einer nach dem anderen zur Jagd, während die Frauen in kleinen Gruppen zum Nahrungssammeln ausziehen. Die übrigen Männer und Frauen bleiben mit den Kindern im Lager, manche arbeiten, manche faulenzen; niemand bestimmt, wer sammeln gehen oder arbeiten muss oder wieviel jeder zu tun hat. Abends kommen die Jäger zurück und haben Schlangen, eine Ratte, ein großes Perlhuhn gefangen, die Frauen bringen Nüsse, Früchte, ein paar Flaschenkürbisse, ein Straußenei. Die Nahrung wird feierlich aufgeteilt und an alle im Lager ausgegeben - auch an die, die zu Hause geblieben sind und nicht gearbeitet haben -, wobei es zwar viel Geschrei und Gerede, aber keinen Neid, keine scheelen Blicke und keinen Streit gibt.   Morton Hunt  1992,  S.159
 
 

Jäger und Sammler-Gesellschaften sind klein. 

M
Jäger und Sammlergruppen sind immer klein. Die Frühmenschen vermehrten sich nicht.

Auch der grössere Verband, der Stamm, umfasst nicht mehr als 150 Menschen. Die einzeln wandernden Familiengruppen gehören zusammen zu einem solchen Stamm. Wenn die Jahreszeit viel Nahrung wachsen lässt, treffen sich die wandernden Stämme zu regelmässigen Festen. An solchen Anlässen können bis zu 400-500 Menschen zusammenkommen. Wichtig ist, dass die Bevölkerungszahl  über sehr lange Generationen stabil bleibt. Jäger und Sammler-Gruppen wissen, dass sie nicht wachsen dürfen. Alle Jäger und Sammler-Völker kennen die Geburtenkontrolle. Frauen säugen ihre Kinder vier Jahre lang und verhindern damit eine neue Schwangerschaft. !Kungfrauen haben nur alle vier bis fünf Jahre ein Kind und meist in ihrem Leben nicht mehr als drei oder vier Geburten. Würden die Gruppen wachsen, wäre ihr Überleben gefährdet. Mutter Natur gibt zwar alles und in ausreichender Menge, aber sie sorgt nur für eine kleine Zahl von Menschen. Wenn sich die Gruppen nicht vergrössern und wenn sie sich nach bewährten Mustern über ihre Wandergebiete verteilen, reicht die Nahrung - für alle! 

Manchmal kommen ein paar !Kung von einer entfernteren Gruppe und holen sich die Erlaubnis, in der Nähe ein Lager errichten und Nahrung sammeln zu dürfen. Die bekommen sie auch immer, aber erst nach vielem Gefrotzel und sonstigem Hin und Her, währenddessen ihnen von allen Seiten zu essen angeboten wird. So karg das Leben der !Kung in bezug auf Nahrung und Handwerkserzeugnisse ist, so idyllisch ist es grösstenteils in sozialer Hinsicht. Männer und Frauen unterhalten sich unentwegt und tanzen und singen viel, auch bei mühseligen Arbeiten, etwa wenn sie während der Trockenzeit Wurzeln ausgraben und sorgfältig Flüssigkeit zum Trinken aus ihnen herauspressen, sind sie vergnügt und freundlich. Kleine Kinder werden liebevoll, grössere nachsichtig behandelt und kaum ausgeschimpft oder geschlagen. Heiler tun - unentgeltlich - ihr Bestes für die Kranken, und es ist ganz selbstverständlich, daß sich Erwachsene wie Kinder immer, wenn sie auf einen Schwatz zur Hütte des Nachbarn kommen, von den Nüssen nehmen können, die an der Tür aufgehäuft liegen. Natürlich geht es nicht immer friedlich und freundlich zu: man zieht kräftig über einen Nachbarn oder einen Besucher aus einer anderen Gruppe her, der sich knauserig gezeigt hat (was für die !Kung eine Todsünde ist). Im grossen und ganzen jedoch kommt es untereinander zu nichts Schlimmerem als Geschrei und Geschimpfe.  Morton Hunt 1992

Es gibt bei den !Kung keine Territorienkämpfe. Es gab sie auch nicht bei den Aborigines in Australien. Jäger und Sammler grenzen ihren Lebensraum nicht ein. Es gibt zwar Rechte einzelner Gruppen, Rechte auf die Nutzung von Wasserstellen, und Pflichten zum Unterhalt heiliger Stätten der Ahnen, aber Besitz von Territorien gibt es nicht. 

M
Gesellschaften, die den Wettbewerb um Besitz zum obersten Prinzip erklären, werden mit übermässiger Gewalt leben müssen. 

Narr
Eine Welt ohne Besitz! Da träumt wohl einer den längst ausgeträumten Traum vom sozialistischen Paradies. Vor denen muss Mann sich in Acht nehmen, die wollen einem den Besitz wegnehmen. 

Da warnt der Narr: Es geht nicht ums Wegnehmen oder Umverteilen. Es geht um die Frage nach Gesellschaftsstrukturen, die Gewalt fördern oder einschränken. Gesellschaften, die den Wettbewerb um Besitz zum obersten Prinzip erklären, werden mit übermässiger Gewalt leben müssen. Gesellschaften die keinen “Besitz” kannten, waren friedlich. 

Alle für einen, einer für alle -  Das ist nur möglich in einer Gruppe, in der jeder den anderen persönlich kennt. Teilen und Fürsorge für die Schwachen sind in Gemeinschaften enstanden, die klein genug waren, dass “stabile Beziehungen” bestanden. Solche Beziehungssysteme gibt es schon bei den Primaten. Es sind dort Horden von nicht mehr als fünfzig Tieren. Die Erinnerungskapazität der Primatenhirne reicht nicht aus, um eine grössere Zahl von Beziehungen zu speichern und ständig auf dem aktuellsten Stand zu halten. Primaten brauchen sehr viel Zeit, um ihre Beziehungen zu pflegen. Es kann immer nur ein Tier ein anderes lausen. Menschen haben mit der Sprache ein “Beziehungspflegemittel” geschaffen, dass viel effizienter ist. Menschen können sich “verbal” lausen. Anthropologen haben untersucht, wie gross normale Gesprächsgruppen sind: ein Sprecher hat durchschnittlich 2,7 Zuhörer. Die Diskussionsgruppen umfassen also 3,7 Personen. Sprechende Menschen können gleichzeitig drei Beziehungen “pflegen”.

Haben die Probleme der Gewalt in unseren modernen Gesellschaften mit der Grösse unserer Gruppen zu tun? Sind wir vielleicht überfordert, wenn keine stabilen Beziehungen mehr die Menschen verbinden, wenn wir “Fremde” lieben sollen? Sind wir auch überfordert, wenn wir ständig Fremden begegnen, im Tram, auf der Strasse, in der Beiz? Macht Anonymität krank? Fördert Einsamkeit die Bereitschaft zu gewalttätigem Verhalten?
 
 

Bei Jägern und Sammlern befiehlt niemand. 

M
Die Gruppe sorgt dafür, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen, dass kein Ungleichgewicht zwischen den Menschen entsteht.

Die Gruppe sorgt dafür, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen, dass kein Ungleichgewicht zwischen den Menschen entsteht. Die !Kung leben in einem abgelegenen Gebiet, kennen aber die Sozialordnung der umliegenden Bantu-Stämme. Dort gibt es Häuptlinge, die befehlen und Macht ausüben. Sie wollen das nicht. Das Zusammenleben der Jäger und Sammler-Gruppen ist durch Regeln bestimmt, die in jahrtausendelanger Kooperation entstanden sind, ohne dominierende Individuen, ohne Befehl und ohne Druck von oben. Ihre Entscheidungen treffen Jäger und Sammler gemeinsam, unter Anleitung der “Alten”. Eine solche Form der Gesellschaftsorganisation nennen die Soziologen “regulierte Anarchie”. 

Die !Kung achten auffallend darauf, die Gefühle anderer nicht zu verletzen. Hat ein Jäger etwas weiter weg ein großes Tier erlegt - eine Antilope, für deren Transport er Hilfe braucht -, kommt er gewöhnlich ins Lager zurück, setzt sich hin und sagt gar nichts. Fragt dann irgendjemand: »Was ist dir denn heute über den Weg gelaufen?«, antwortet er vielleicht: »Ach, ich tauge nicht zur Jagd, mir ist gar nichts über den Weg gelaufen ... bloss etwas ganz Kleines.« Dann wissen alle, daß er ein grosses Tier erlegt hat, aber nicht will, dass die anderen Jäger das Gefühl haben, er wäre besser als sie. Wenn am nächsten Tag andere Männer mit ihm ausziehen, um die Antilope zu zerlegen und das Fleisch nach Hause zu bringen, machen sie Witze darüber, wie klein und wertlos das erlegte Tier ist, und er stimmt mit ein. Der Heiler Tommazho erklärte Lee das so: “Wenn ein junger Mann viel Fleisch jagt, hält er sich am Ende noch für einen Häuptling oder einen grossen Mann und uns für seine Diener oder Untertanen. Das wollen wir natürlich nicht. Wer sich rühmt, wird zurechtgewiesen, damit er nicht eines Tages so eingebildet wird, dass er jemanden umbringt. Daher sagen wir immer, dass das Fleisch nichts taugt. Auf diese Weise dämpfen wir seinen Übermut, und er bleibt umgänglich.” 
    M. Hunt 1992

Diese herrschaftslose Ordnung, in der das Teilen die Grundlage des Sozialgefüges ist,  macht es den Menschen möglich, einen grossen Teil ihrer Zeit im gemeinsamen Spiel zu verbringen. Sie brauchen nicht zu arbeiten. Sie kennen den Begriff “Arbeit” nicht. Nahrungssuche und Jagd beschäftigen Jäger und Sammler nur ein paar Stunden am Tag. Die ganze übrige Zeit wird mit Basteln und “Palavern” verbracht. Diese “nutzlos” verbrachte Zeit ist aber für das Funktionieren der Gruppe alles andere als nutzlos. Die zusammen verbrachte Zeit macht es möglich, Spannungen abzubauen, Streit zu schlichten und - das Wichtigste - miteinander zu sein. Dabei wird auch Wettstreit um Rangposition bei Frauen und Männern entstehen. Gesunde menschliche Beziehungen sind nie konfliktlos, sie brauchen aber viel Zeit. 
 
 
 

Lasst uns fröhlich sein und singen! 
Das Beste im Leben ist das Zusammensein beim Fest! 

 M
 Me mues rede mitenand ! 

In den Gesellschaften der Jäger und Sammler werden die Konflikte des Alltags in Ritualen der Gleichgewichtssuche ausgeglichen.” Me mues rede mitenand”. Die Menschen der archaischen Jäger und Sammlerkulturen brauchen die Hälfte ihrer Zeit für die Suche nach diesem Gleichgewicht. Es wird da stundenlang palavert. 
Die Beziehungen zwischen sprechenden Menschen können nur Bestand haben, wenn Konflikte der Interessen immer wieder ausgeglichen werden. Dazu feierten Jäger und Sammler ihre gemeinsamen Feste. Hier war es möglich, auch zwischen entfernten Freunden und Freundinnen Verträge zu bilden, die auf persönlichem Vertrauen basierten. Das setzt eine gemeinsame Welt voraus, die frei ist von einseitiger Macht und Herrschaft. 

M
Lausen dient bei Affen der Pflege von Beziehungen. Die Menschen erzählen sich Geschichten. 

Beobachtungen von Primatenhorden haben ergeben, dass die Tiere sich fast die Hälfte ihrer Zeit gegenseitig lausen. Diese Form der Körperpflege dient nicht nur dem Entfernen von Parasiten. Lausen dient der Pflege von Beziehungen. Auch die herumziehenden Wildbeuter verbringen nur einen geringen Teil ihrer Zeit beim Nahrungssuchen und widmen den weitaus grössten Teil des Tages der gemeinsamen “Beziehungspflege”. Etwa 700 Stunden im Jahr “arbeiten” sie für ihre Nahrung; der “Arbeit am Frieden” widmen sie jeden Tag mehr als 10 Stunden, im Jahr also 3600 Stunden. Es gibt viel Anlässe zum Festen: Wenn bei den Pygmäen im Kongo-Urwald, bei den Mbuti,  zwei Individuen Streit haben, müssen alle Mbuti eine Nacht lang miteinander singen, um die Mutter Wald zu beruhigen. 
Die gemeinsamen Rituale, zu denen sich Gruppen regelmässig finden, ermöglichen  einen “friedlichen” Zusammenhalt auch mit “Fremden”. Diese “Fremden” sind nie ganz fremd. Für die herumziehenden Sammler und Jäger ist es lebensnotwendig, sich immer wieder zu finden. Die Religion bindet die Gruppen zu grösseren Stämmen zusammen. Im eiszeitlichen Europa vor 20 000 Jahren gab es wahrscheinlich ein ähnliches Netzwerk der Jäger und Sammlergruppen wie in Australien. Bei den Aborigines sind alle miteinander rituell verwandt. Ein Aborigine begegnet nie einem gänzlich Fremden. Er weiss immer, woher der andere kommt und wie er mit ihm verbunden ist.

M
Geschichten verbinden die Menschen. 
 

Bild: Göttin
aus:  B.etG. Delluc
  La Préhistoire en Perigord
  Sud-Ouest. 
  S. 29
 

Narr
“Schön! Sehr schön!” sagt da der König zum Narren.”Aber”, so fährt er fort, “du erzählst eine Geschichte aus einer anderen Zeit. In unserer Welt von heute müssen wir arbeiten, nicht feiern. Wir leben nicht mehr im Paradies, wir müssen  unseren Unterhalt verdienen. Ich muss meine Menschen zur Arbeit erziehen.” 

Unser Narr schüttelt den Kopf, dass die Schellen klingen:  “Als die Menschen anfingen, im Schweisse ihres Angesichts Nahrung zu pflanzen,
gab es niemanden, der sie zur Arbeit erzog. Zwar wurde ihr Einsatz für die Nahrungsbeschaffung etwas grösser. Frühgeschichtler rechnen mit einem jährlichen Aufwand von 800 Stunden. Das liess für das Zusammensein noch viel Zeit. Auch die Gesellschaften der frühen Bauern waren geprägt durch ihre Feste, durch gemeinsames Essen und gemeinsames Tanzen und Singen, Geschichtenerzählen. 

Die Wichtigkeit der gemeinsam verbrachten Zeit, am Lagerfeuer, beim Fest, bei Tanz, Gesang und Essen ist auch im europäischen Mittelalter für den allergrössten Teil der Bevölkerung erwiesen.  An 111 Tagen im Jahr und an den 52 Sonntagen “verbot ” die christliche Religion das Arbeiten. An diesen 163 Tagen im Jahr arbeiteten die Menschen am Frieden im Zusammensein mit den anderen. Man könnte daraus ableiten, dass Menschen schon immer wussten, dass Zusammen-Sein und Zusammen-Tun zum Abbau von Spannungen beiträgt, ja dass “friedliches” Zusammenleben nur möglich ist, wenn Menschen die Hälfte ihrer Zeit miteinander feiern. 

Schwierigkeiten im Zusammenleben ergeben sich aus einem Mangel an gemein-sam verbrachter Zeit. Wachsendes gewalttätiges Verhalten entsteht aus der Unfähigkeit, den Nächsten zu verstehen. Menschen müssen ihr Einfühlungsvermögen trainieren. Dazu brauchen sie offenbar viel Zeit. In Gesellschaften, die das Empathietraining vernachlässigen, weil sie ihren Mitgliedern beibringen, dass jeder für sich selber zu sorgen hat, wird die Krankheit der Gewalt zunehmen. Wer sich nicht die Zeit nehmen kann, den anderen, den Fremden kennenzulernen, ihn zum Nächsten zu machen, wird an Einsamkeit leiden und vor den “bösen Fremden” Angst haben müssen. Er wird als Antwort auf missglückte Beziehungen “gewalttätig”.

M
Friedliches Zusammenleben ist nur möglich, wenn die Menschen die Hälfte ihrer Zeit miteinander feiern.
 

Verschieden, aber gleichberechtigt! 

In Jäger und Sammlergesellschaften sind Frauen und Männer gleichberechtigt. Keine Frau ist dem Manne untertan. Zwar gibt es durchaus Unterschiede in den Aufgaben der Geschlechter: die Frauen sammeln, die Männer jagen, und das Ansehen der Jäger ist in den meisten Wildbeuterkulturen deutlich grösser; aber es gibt  keine Verfügungsgewalt der Männer über die Frauen. 

Dass es weder eine Hierarchie noch Häuptlinge gibt, ist um so bemerkenswerter , als nach einer weitverbreiteten Klischeevorstellung derartige Kontrolleinrichtungen, die praktisch in allen zivilisierten Gesellschaften zu finden sind, auf ein genetisches Erbe aus dem Tierreich gründen. Die sozialen Beziehungen der Primitiven zeigen, das der Mensch genetisch nicht für diese Art der Dominanz-Unterwürfigkeits-Psychologie angelegt ist. Eine Analyse der historischen Entwicklung der Gesellschaft, in der fünf- oder sechstausend Jahre lang eine Mehrheit von der herrschenden Minderheit ausgebeutet wurde, zeigt deutlich, dass die Dominanz-Unterwürfigkeits Ideologie eine Anpassung an die soziale Ordnung und nicht ihre Ursache ist.            E. Fromm 1974 

Am Ende des 19. Jahrhunderts enstand der Ausdruck Matriarchat. Das Wort bedeutet Herrschaft der Frau. Gesellschaftsforscher waren der Ansicht, dass in Urzeiten die Frauen über die Männer geherrscht hätten. Die Völkerkundler haben in keiner einzigen Volksgruppe eine solche “Weiberherrschaft” gefunden. Ein Matriarchat hat es nie gegeben. Um die Ordnung in Frühmenschengruppen zu beschreiben, müssten wir eigentlich ein neues Wort erfinden: An-archat, eine Ordnung ohne Herr-schaft. Denn Herrschaft gibt es nur in Männergesellschaften.
In ihnen herrschen die Priester und die Krieger über alle anderen. Wir haben in unserer “westlichen Zivilisation” diese Form von Herrschaft von unseren Vätern übernommen. Wir nennen sie Väter-Herrschaft oder “Patriarchat”.
 

“Geben ist seliger denn Nehmen!” 
  ( Apostelgeschichte 20, 35)

Do ut des! Gib, damit dir gegeben wird! Das ist der Grundsatz der Sammlerinnen und Jäger, die an ihren Festen Geschenke tauschen.  Geschenke schaffen gegenseitige Verpflichtung. Geben ist nicht ein Gebot, es ist eine Regel, die aus der Erfahrung unzähliger Generationen abgeleitet ist.  Das Geben ist wichtigstes Anliegen. Bei den “Wilden” gibt es keinen angeborenen Egoismus, der durch Gebote gezügelt werden muss. Das gleichberechtigte Tauschen, das Geben und Nehmen, ist in allen primitiven Gesellschaften selbstverständliche Voraussetzung des Zusammenlebens. 

Narr
“Sammlerinnen und Jäger und ihr “Paradies”! sinniert der König.”Du erzählst Geschichten von früher, Narr. Die Menschen sind aus dem Paradies vertrieben worden. Sie haben sich zivilisiert und begannen den Fort-schritt.” 

“Ja”, sagt darauf der Narr.” Der erste Schritt war ein Mord: Kain der Ackerbauer tötet seine Bruder Abel, den Hirten.”

ZUM WEITERLESEN:

• GüntherDux Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter.
   Suhrkamp 1992
• M.Hunt Das Rätsel Nächstenliebe. Campus 1992
• Uwe Wesel  Der Mythos vom Matriarchat. Suhrkamp 1990.
• Marcel Mauss Die Gabe. Suhrkamp 1990.
• Ch.Osterwalder Fundort Schweiz. AARE 1990
 

6.5 Kain erschlägt Abel
 Gewalt beginnt bei den Hirten und Bauern!

Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist Dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiss nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?  Genesis 4, 8-9

Bild: Die Ermordung Abels: 
aus:  Bild aus der Bilderbibel (Stil 1900) 
 
 
 

Und wann soll dieser Brudermord stattgefunden haben? 

Die ersten organisierten Überfälle von räuberischen Hirten-Nomaden auf ihre friedlichen Bauern-Nachbarn werden auf 4000 v. Chr. datiert. In der Geschichte der Prähistoriker haben allerdings die Abels die Kains umgebracht. Denn Abel war ja ein Hirte. Es waren die Hirten, die gewalttätig wurden. 

Und warum sollen Bauern friedlicher sein?

Es waren Bäuerinnen! Man nennt jene Phase des frühen Anbaus von Nahrungspflanzen “Hortikultur”- Gartenbau. Es waren die Frauen, die 
das Brot machten. “Machen” hiess ursprünglich kneten. Die Frühgeschichtler sind sich einig darüber: Die Erfindung der Landwirtschaft verdanken wir den Frauen. Den Krieg haben aber die Frauen nicht erfunden.

Und die Amazonen? Frauen, die sich die Brust abschnitten , um besser mit dem Bogen umzugehen?

Über die ist viel geschrieben worden. Es war den Männern schlechterdings nicht vorstellbar, dass Frauen kämpfen. Ich vermute, dass die räuberischen Hirten auf ihren Raubzügen in die Gegenden ums Schwarze Meer, wo eine Gartenbaukultur blühte, auch ab und zu mit Frauen zu kämpfen hatten, die ihre Siedlungen verteidigten. 

Dann mussten also Frauen lernen, sich zu verteidigen?

Ja! und ich meine, sie lernten es sehr gut. In den “Hortikulturen”, musste frau sich wehren können, wenn räuberische Invasoren aus dem Osten eindrangen. 

Der Anfang des Krieges? 

Kriegerisch wurden die Menschen in Europa lange nach der ersten Landnahme. Die Bäuerinnenkultur verbreitete sich um 5600 v. Chr.  der Donau entlang bis an die Seine. Anzeichen von Kämpfen finden die Archäologen jedoch erst nach 3600 v. Chr. Die ersten Bauern in Europa müssen eine friedliche Kultur gepflegt haben. 
Von 2500 v. Chr. an wurden die Völker Europas kriegerisch. Damals entstanden die ersten Verteidigungsanlagen, die ersten Burgen und Städte. 

Warum sollte sich nach einer dreitausend Jahre dauernden Friedenszeit der Krieg ausbreiten?

Die Menschen vergassen, dass sie ihrers Bruders und ihrer Schwester Hüter sind. In den ursprünglichen Jäger und Sammlergruppen waren die Menschen für einander verantwortlich. In den Bauerngesellschaften entstanden  soziale Unterschiede. Es gab Herrschende und Sklaven. Die Menschen hatten gelernt, andere Menschen auszunützen. 

M
Die Sammler, primitiven Jäger und Bauern sind die am wenigsten kriegerischen. Die weiter fortgeschrittenen Ackerbauern sind kriegerischer, und die am höchsten stehenden Ackerbauern und die Hirten sind die kriegerischsten von allen. 
     Q. Wright 1965 
 

Die Kulturen der Bauern

Die frühesten Bauernkulturen in Europa entstanden um 7000 v.Ch. Die Frühgeschichtsforscher nehmen an, dass diese ersten  Gruppen  von Kleinasien nach Griechenland kamen und ihre Tiere und ihr Saatgut mitbrachten. In nur tausend Jahren verbreiteten sich diese ersten sesshaften Kleingruppen der Donau entlang bis nach Oesterreich, und weitere tausend Jahre später finden die Archäologen Bauernsiedelungen in Frankreich. Diese Bauern besiedelten nicht unbewohntes Gebiet. Schon seit mehr als 500 000 Jahren wohnten in Europa Menschen. Jäger und Sammlerinnen lebten verstreut in kleinen Gruppen. Sie hatten keine festen Wohnplätze und wanderten im Laufe des Jahres durch ihr Grossgebiet. Die neue Bäuerinnen-Kultur war sesshaft. Die Männer rodeten Wald und bauten feste Häuser; die Frauen pflanzten ihre Gärten.

Die Bevölkerungsexplosion

In ihrem sozialen Zusammenhalt unterschieden sich die Gartenbauern und die Sammler und Jäger nicht. Beide Kulturgruppen lebten in kleinen Familiengruppen, kannten keine sozialen Rangunterschiede und  anerkannten als Autorität nur die Alten der Gruppe. Sie, die Alten - Frauen und Männer - kannten ihre Welt, sie hatten die Welt er-fahren. Sie kannten die Geschichten des Stammes, die Rituale, die Feste, die Geschichten der Ahnen. Die beiden Gruppen unterschieden sich nur in einem entscheidenden Punkt: Die Gruppe der Bauern wuchs. Sammler brauchen 10km2, um genügend Nahrung für einen Menschen zu sammeln. Bauern können auf der gleichen Fläche fünfzig Mal mehr Individuen ernähren. Mit den Bauern beginnt die Bevölkerungs-Explosion.


8000 v. Ch.  5 - 10  Millionen
Christi Geburt  250      Millionen

1500   500      Millionen
1820   1000    Millionen
1920   2000    Millionen
1960   3000    Millionen
1994   5700    Millionen

2025   8500    Millionen
2050   10500  Millionen

Die Bevölkerung war viele Jahrtausende, von 40 000 v. Chr. bis etwa 4000 v. Chr., nicht gewachsen. Man rechnet, dass damals auf dem ganzen Globus etwa fünf bis zehn Millionen Menschen lebten. Zu Beginn unserer Zeitrechnung waren es fünfundzwanzig mal mehr. Die Menschheit wuchs - es scheint ins Unermessliche.

Die Prähistoriker nennen die Entdeckung der Nahrungsmittelproduktion die neolithische Revolution. Es war eine Umwälzung, die sich über 10 000 Jahre erstreckte. Wichtigstes Resultat war das Wachsen der Menschenzahl. Die wichtigsten Veränderungen betrafen die Ordnung des Zusammenlebens der Menschen: Männer fingen an, über andere Macht auszuüben, über die Frauen, über die Sklaven, über die “Dinge” der Natur.
 

Die Menschen lernten das “Machen”!

Der Mensch erkannte, dass er mit seinem Willen und seinen Absichten etwas “bewirken“ konnte, anstatt dass sich die Dinge einfach “ereigneten”. Die Behauptung, dass die Erfindung des Ackerbaus die Grundlage allen wissenschaftlichen Denkens und der späteren technologischen Entwicklung war, dürfte kaum übertrieben sein. 
    E. Fromm 1974,  S. 136 

Bild: Werkzeugmachen
aus:   Christin Osterwalder
  Fundort Schweiz
  AARE Verlag. Solothurn. 1990
  S. 8/9 und 25
 
 

Das Machen mussten die Menschen in einem sehr langen Prozess lernen. Die frühesten Werkzeuge, von denen wir Kenntnis haben, sind 2,5 Millionen Jahre alt. Es sind behauene Steine. Wir wissen nicht, ob nicht schon viel früher Werkzeuge aus Materialien “gemacht” wurden, die verrottet sind.  Über zwei Millionen Jahre hatten Menschen das Fabrizieren geübt, aber erst mit dem “faber”, dem Schmied, begann der Fortschritt. “Machen” ( indogermanisch: *mag- ) wurde von der weiblichen Tätigkeit des Knetens zur männlichen Funktion des Herstellens, des Bewirkens, des Tuns. 

Um etwa 6000 v. Chr. “machten” (kneteten) die Frauen Lehm und brauchten die ersten Tongefässe, um Vorräte zu sammeln. Tongefässe mussten gebrannt werden, um haltbar zu sein. In der Brennerei wurden auch die ersten Metalle bearbeitet. Um 4000 v. Chr. verbreitete sich diese neue Technik. Die Menschen waren Macher geworden. Sie schufen sich dann auch Götter, die machten, und verwandelten ihre alten Muttergöttinnen in blosse Ehefrauen der Machergötter: Fiat lux! Ein Befehl erschuf alles. 

M
Die Menschen werden Macher. Der wissende Mensch (Homo sapiens) wird zum Schmied-Menschen, zum Fabrikanten (Homo faber).
 

Die Menschen lernten das Sitzen und das “Be-Sitzen”!

Die neue Technik des Gartenbaus und die Kunst, Tiere zu zähmen, machte es den Menschen möglich, sesshaft zu werden. Aus den Zelten, in denen sie Tausende von Jahren gelebt hatten, wurden feste Häuser. Sie waren zwar nicht  für die Ewigkeit gebaut - unsere direkten Vorfahren, die Pfahlbauer, musste ihre Gebäude alle Generationen ersetzen - , aber sie standen auf Plätzen, die der Gruppe gehörten, und Anrechte auf solche Bauplätze mussten “vererbt” werden. Das kann über die Linie der Ahnen der Mutter geschehen oder über die Linie des Vaters. Im ersten Fall bleiben die Töchter bei der Mutter, und die jungen Männer ziehen ins Haus der “Mutter”, oder - im zweiten Fall - die Töchter werden an die Häuser der Väter vermietet. Man nennt dieses neue Heirats- und Erbrecht  matrilokal und patrilokal. 

M
In sesshaften Gesellschaften entsteht ein Recht auf Besitz. Man kann auch andere Menschen besitzen.

In sesshaften Gesellschaften entstand ein Recht auf Territorien. Es waren die verehrten Ahnen, die solche Rechte schufen und vererbten. Diese revolutionäre Form der Landnutzung über Generationen schuf Abgrenzungen, es entstanden Grenzen, und an Grenzen kann Mann ”mit dem Zaunpfahl winken”. Man kann auch um Grenzen kämpfen. Solche Territorialkriege waren aber eine sehr späte Entwicklung. Angefangen hat der Krieg als Raub. Wo Herden gehalten wurden, konnten Räuber Herden stehlen. Am Anfang der Gewalteskalation unter den Menschen stand der Viehraub. Bald aber wurden auch Menschen als Vieh behandelt. Durch den Frauenraub entstand die Sklaverei.

Im frühen Neolithikum entstand eine neue Art der sozialen Organisation: sie war nicht mehr in kleinen Einheiten im Land verteilt, sondern zu einer einzigen grossen verbunden; sie war nicht mehr “demokratisch”, das heisst sie gründete nicht mehr auf nachbarliche Vertrautheit, hergebrachte Sitten und ein allgemeines Einverständnis, sondern sie war autoritär, zentral gelenkt und unterstand der Kontrolle einer dominierenden Minderheit; sie war nicht mehr auf ein beschränktes Territorium begrenzt, sondern sie überschritt energisch die Grenzen, um Rohmaterialien an sich zu reissen, um hilflose Menschen zu versklaven, um Herrschaft auszuüben und Tribute einzuziehen. Diese neue Kultur diente nicht mehr der Förderung des Lebens, sondern der Ausdehnung kollektiver Macht.     Lewis Mumford 

Bild: Krieger
aus   Arther Farill
  The Origins of War
  Thames and Hudson. 1986.
  S. 49
 

Sklaverei und Unterdrückung der Frauen

Frauen wurden zum Besitz, und Frauenbesitz verschaffte Ansehen. In den Hackbaukulturen im Pazifik erwirbt ein Mann Ansehen durch seinen Beitrag für das gemeinsame Fest. Männer, die viele Frauen “haben”, können mehr Schweine ans Fest bringen und werden als “Big Men” geachtet. Prestige können Männer auch durch den Besitz von Luxusgütern erwerben. Wer mehr hat , ist mehr!  Die ersten Spezialisten, die Handwerker, arbeiten für eine Elite. Der Kampf ums Ansehen wurde in den sesshaften Gesellschaften zur wichtigsten Aufgabe. Es entstand eine Wettbewerbs- und Leistungsgesellschaft, eine Männerherrschaft. 

 M
Die Prestigekämpfe der Männer sind die eigentliche Wurzel aller Gewalt unter den Menschen.

Narr
Es fängt an mit dem Sesshaftwerden, sagt der Narr. Sitzenbleiben führt zum Besitz, und um Besitz wird gekämpft. Vom Sitzen zum Besitzen war aber ein weiter Weg.

Der Kampf ums Ansehen war in den Anfängen wichtiger als der Kampf um Besitz. Ums Ansehen spielten die Männer ihre Spiele. Es waren nun nicht mehr Spiele, die man miteinander  spielt, es wurden Nullsummen-Spiele, in denen es Gewinner und Verlierer gibt. Und schon bald waren die Spieler sportlich gestählte Krieger, die um den Sieg kämpfen und die Ansicht verbreiten, das Leben sei ein Kampf ums Überleben, der Schaden des Verlierers sei natürlich. In Gruppen mit dieser Geisteshaltung wuchs Gewalt: Schädigung des Spielpartners ist der Gewinn des Siegers. In diesen Prestigekämpfen der Männer liegt die eigentliche Wurzel aller Gewalt unter den Menschen: Es wird möglich, andere Menschen für seine Zwecke auszunützen. Es gibt Menschen, die mehr vermögen als andere. Das Wort “Macht” ist vom Verb “mögen” abgeleitet. Vermögen bedeutet Macht über andere. 

M
Es gibt Menschen, die mehr vermögen als andere. Vermögen bedeutet Macht über andere. 

M
Es wurden den Menschen die Augen aufgetan, sie lernten “Wissen” zu besitzen.
 

Und da wurden ihnen die Augen aufgetan!

Gott weiss: an dem Tag, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Und das Weib sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und ass und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er ass. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan.    1.Mose 3, 5

Die Menschen lernten “Wissen” zu horten. Gruppenwissen war bis anhin immer geteilt worden, in den archaischen Menschgruppen gab es keinen “privilegierten”  Zugang zum Wissen. In den Bauerngesellschaften aber entstand “Geheimwissen”, das Macht verschaffte. Wer die Kalenderberechnung  kontrolliert, kontrolliert das Denken der anderen, er beherrscht die Zukunft.  Zeitmessung war für die Bauern eine Notwendigkeit, sie mussten den Zeitpunkt von Aussaat und Ernte bestimmen können. Für die Abmachungen der Jäger und Sammler genügte früher ein Mondkalender, die Bauern berechneten nun den Jahresablauf am Gang der Sonne. Der Übergang vom Mond- zum Sonnenkalender ist nicht nur eine neue Zeitmessungstechnik. Mit diesem Übergang veränderte sich auch die ganze Kosmologie. Es entstand ein völlig anderes, neues Weltbild - ein Weltbild der Kontrolle. Die Priester waren die ersten Spezialisten, die Wissen sammelten und  es zu ihrem Vorteil einzusetzen wussten. In den sehr viel zahlreicheren Gruppen der Bauern waren es diese Spezialisten des Rituals, die nun die Aufgabe hatten, Feste für viel mehr Menschen zu organisieren. Sie bestimmten den Zeitpunkt der Rituale, sie bestimmten den Beitrag, den jeder und jede für das Fest zu leisten hatte. Sie verfügten über den Rest der Gruppe und waren die ersten Herren unter den Menschen. Man kann in  Genesis 2, 17-30  nachlesen, was das “Volk” den neuen Herren schuldete. 

Für die Männerpriester konnten auch nicht mehr Frauengötter im Zentrum der Rituale stehen, sie erfanden Männer-Götter, die Donnerer und Blitzeschleuderer . Zwischen 4000 und 1000 v. Chr. veränderten sich die Religionen der Bauernvölker. Die Muttergottheiten wurden abgewertet und verschwanden in vielen Religionssystemen ganz. Es war ein Herr-gott, der die Macht übernahm. 

Die Macht der Väter, das Patriarchat!

Schon in den Jäger und Sammlergesellschaften beschreiben die Ethnologen eine Arbeitsteilung zwischen Frau und Mann. Die Männer jagen, die Frauen sammeln. 
Die Teilung geht aber weiter: Männer sind für den Aussenbereich verantwortlich, Frauen für den Innenbereich. Männer schliessen Verträge mit den Gruppen, die im gleichen Gebiet leben, sie pflegen Freundschaften, sie tauschen Geschenke, sie werden Blutsbrüder. Frauen sorgen für die Kinder; ihr Bereich ist die Verteilung der Nahrung. In Bauerngesellschaften wird der Aussenbereich wichtiger. Männer “benützen” ihre Töchter, um mit anderen Familien Verträge zu schliessen. Väter verfügen über ihre Töchter, und Väter hinterlassen ihre Macht, ihr “Vermögen” den Söhnen. Nur Söhne erben. In Gesellschaften mit einem solchen Vaterrecht wird ursprünglich nicht Besitz vererbt, sondern eben Vermögen, das heisst Ansehen und Verfügungsgewalt. Es entstehen auf diese Weise die ersten Institutionen, die ersten Ämter, die sich vom Vater auf den Sohn vererben. Der “pater familias” kann über die ihm unterstellten Töchter und Söhne verfügen. Im alten Rom hatte er auch Gewalt über Leben und Tod seiner Angehörigen. Vatergesellschaften sind durch die Konkurrenz um Vorteile geprägt. Väter können Macht ansammeln und weitergeben. Es lohnt sich in patriarchalischen Gesellschaften, Vorteile zu erobern, und es lohnt sich zu wachsen. Mehr ist besser als wenig.

Wo die Frauen an der Verteilung von “Vorteilen” noch beteiligt waren, sorgten sie für Ausgleich; sie waren auf Kooperation bedacht. Vatergesellschaften bauen ihre Macht auf der Konkurrenz; dort heiligt der Zweck die Mittel. Gewalt hat dort ein hohes Ansehen. 

M
Gewalt hat in patriarchalen Gesellschaften hohes Ansehen.
 

Nach allem, was wir über die archaischen Gesellschaften wissen, gab es bei ihnen keine Grossen, die Untertanen knechteten, es gab keine erblichen Häuptlinge. Erst in den Gesellschaften der Bronzezeit entstanden Unterschiede zwischen verschiedenen Schichten der Gruppe; die “potentes”, die Mächtigen behaupteten sich oben, die “pauperes”, die Schwachen, duldeten.  Gewalt - das heisst ursprünglich stark sein, Herr-schaft ausüben. Die Starken oben “ge-walten”.
 
 

M
Die Gewalt der Grossen - das ist die Geschichte der letzten viertausend Jahre.

Die Macht der Grossen - das ist die Geschichte der letzten viertausend Jahre - die Geschichte der sogenannten Hochkulturen. Es ist eine weitverzweigte Spur von ständig wachsender Gewalt zwischen den Menschen. Fortschritt hat es vor allem in den Methoden des Tötens von Artgenossen gegeben. Geschichtsbücher erzählen von Kriegern, deren Handwerk das Töten ist. Seit die Menschen schreiben können, haben sie die Geschichten ihrer gewaltigen - das heisst gewalttätigen -  Krieger aufgeschrieben.  Wir können die Namen der tapferen Kämpfer über fünftausend Jahre zurückverfolgen: Odysseus, Achilles, Herkules, Aeneas, Hildebrand, Beowulf, Tell und Winkelried. Die Geschichten sind alle gleich: Der grosse Held besiegt mit seinen Gefährten die “bösen” Feinde. Der Held handelt immer im Auftrag eines “grossen” Gottes und hat von Gott das Recht, die “Bösen” zu töten. Krieger sind immer Männer. Sie müssen zum Kämpfen gestählt werden, und sie lernen es von Kindsbeinen an. “En rächte Bueb mues sich chönne weere!”  Männer müssen kämpfen. Geschriebene Geschichte handelt von diesen gewalttätigen Männern. Im Geschichtsunterricht wurde uns beigebracht, dass die Gewalt der Männer “natürlich” sei. Männer sind eben zu Kriegern geboren. 
M
 Ihr wisset, dass die, welche als Fürsten der Völker gelten, sie knechten und ihre Grossen über sie Gewalt üben. Unter euch ist es aber nicht so, sondern wer unter euch gross sein will, sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, sei der Knecht aller.    Markus 10, 42-45

Narr
Konkurrenz zwischen den Männern sei ein angeborenes Merkmal der Menschen, behaupten die Grossen. Konkurrenz und Machtkampf der Männer hat aber erst im Verlauf der letzten zweitausend Jahre die  Geschichte bestimmt. 
In den selben zweitausend Jahren hat die “Friedensreligion” des Christentums erfolglos versucht, das Zusammenleben der Menschen anders zu gestalten; gegen die Krieger-Herrschaft haben sich die Friedensapostel nicht durchsetzen können. Die Welt, in der Jesus seinen Jüngern predigte, war durch Hierarchien geprägt. In ihr lebten Fürsten und Sklaven, Herren und Knechte. In dieser Welt gibt es Gewalt, öffentliche und private. Wo Menschen Macht üben, schaffen sie Leiden, wo Zwang herrscht, entstehen kranke Beziehungen.

Machtmittel sind in all diesen Konkurrenzgesellschaften Unterdrückung und das Verbreiten von Angst. Die Krieger und ihre Priester machen den Untertanen die Hölle heiss. Sie verbreiten Angst. Sie üben Macht durch Angst. Die “Herren” haben sich ein Weltbild geschaffen, das Konkurrenz und Wettbewerb, Leistung und Erfolg als wichtigste Vorbilder für die nachwachsende Generation festschreibt. Gewalt entsteht - so sagt das Weltbild der Krieger -, wenn Individuen mit schlechten Erbanlagen die Verhaltensregeln der Herren, die Tugenden der Anpassung brechen und sich der Kontrolle der guten Herren entziehen. Gewalt hat es schon immer gegeben, sagen uns die “Herren”, es wird sie auch immer geben, sie ist den Menschen angeboren. 

Das ist falsch. Die “Primitiven”, die “Wilden”, die Aborigines und die Buschmänner leben in kleinen Gruppen, die zur Zusammenarbeit erziehen und Leistung und Wettbewerb möglichst nicht allzu wichtig werden lassen. In solchen Gruppen ist “GEWALT” kein Überlebensproblem. Es braucht auch keine Kontrolle von oben, um die Menschen daran zu hindern, sich gegenseitig zu zerfleischen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Erfahrung der Alten genügen, um Streit, Wettbewerb und Machtkampf zu verhindern. 

In unseren modernen Gesellschaften hat Gewalt ein sehr hohes Ansehen. Wir feiern die Helden, die sich kämpferisch durchsetzen, wir belohnen die Sieger und bewundern die Gewinner. Wir begeilen uns an Gladiatorenkämpfen, die wir Sport nennen, wir entspannen uns beim spannenden Krimi, wir wollen wissen, was in der Welt vorgeht, und konsumieren ein Übermass an Bildern der Gewalt.

Und wir wundern uns, dass unsere Welt durch ein massives Wachsen der Gewaltformen aus den Fugen gerät.
 

Bild: Fernsehgewalt- Zeitungsgewalt- Collage
 
 

So setze nun einen König über uns, der uns richte!

Da versammelten sich alle Ältesten Israels und kamen zu Samuel und sprachen zu ihm: Siehe, du bist alt geworden. So setze nun einen König über uns, der uns richte, wie ihn die Heiden haben.   1.Samuel 8, 4-5
 

Die Ältesten, die von Samuel einen König verlangten, waren ein Relikt aus alter Zeit. In den kleinen Sammlergruppen waren es die Alten, Frauen und Männer, die bei den Palavern die entscheidende Stimme hatten. Sie waren die Berater der Gruppe. Auch die Beduinenhirten, die vor Moses im Sinai ihre Herden trieben, hatten solche hochangesehene Älteste. Im Lauf der Zeit genügte aber die “Macht” dieser Berater nicht mehr. Sie waren zu langsam, zu vorsichtig. Sie gingen nicht mit der Zeit, sie wollten das Alte bewahren. 

In den kleinen Gruppen der Jäger und Sammler war Neues gefährlich. Niemand weiss, welche Folgen “Erfindungen” haben könnten. Bei den Irokesen war es eine der Aufgaben der Ältesten, über Neuerungen zu beraten. Kamen sie nach langer Beratung zum Schluss, dass auch in sieben folgenden Generationen die “Erfindung” keine negativen Wirkungen haben würde, gaben sie die Erlaubnis, das Neue einzuführen. Die Alten bewahrten die “bewährten” Traditionen. Die Menschen lebten in einer stabilen Welt, die sich von einer Generation zur nächsten kaum veränderte. 

Unter Kriegern musste man schneller entscheiden. Und als die jüdischen Beduinenstämme anfingen, das Land Kanaan zu erobern, brauchten die Leviten einen jungen, entschlussfähigen Krieger, um “Fortschritte” zu machen. Samuel wählte den Krieger Saul zum König. Einen solchen “kuning” hatten auch die Stämme der Germanen, einen Stammesfürsten, der für den Krieg verantwortlich war. Die Krieger rechtfertigten in allen Gruppen ihre Vormachtstellung, indem sie ihre Position durch die Religion absicherten. Nicht Samuel wählte den neuen König: Gott selber traf die Wahl. Seither waren die Kriegerhäuptlinge “Könige von Gottes Gnaden”. Ihre Aufgabe ist der Krieg, und die Geschichte der letzten dreitausend Jahre ist der Bericht über die “Taten” dieser Krieger. Als während der Bronzezeit überall in den Gartenbäuerinnen- und Hirtengruppen die raschentschlossenen Krieger an die Macht  kamen, veränderte sich das Zusammenleben der Menschen von Grund auf. Die Menschengruppen begannen rascher zu wachsen. Die Oberen beeinflussten die Ereignisse in ihrem Interesse und “vergewaltigten” die Armen. 

M
Menschengruppen wurden immer grösser. Aus Stämmen wurden Staaten. In diesen “Herr-schaften” wuchs auch die Gewalt zwischen den Menschen. 

Am folgenreichsten war das Grösserwerden der Gruppen. Priester “beherrschten”  Gläubige aus vielen Stämmen, die am gemeinsamen Ritual “Opfergaben” abzuliefern hatten. Aus der Familie des Abraham war ein  Volk geworden, es mussten dazu zwölf Stämme vereinigt werden. Die Krieger “vereinigten” nicht nur Familien, sie setzten sich als Herren über viele Stämme. Da hatten die Alten, die Weisen, nichts mehr zu bestimmen. Die Ausdehnung der Herrschaftsgebiete geschah durch Gewalt. Die Krieger er- oberten. Sie machten sich andere untertan, sie versklavten  andere Menschen. 

Diese neugeschaffenen Herrschaften waren nicht mehr Gemeinschaften von Menschen, es waren anonyme Staaten mit einer Ver-walt -ung. Die Ge-walt  der Bürokratie begann. Das Vermögen der Starken, die Ge-walt, führte zu einem gewaltigen Wachtumsschub. Macht ist auch heute noch (und auch in unseren Demokratien) der Motor der Entwicklung. Macht schafft Tempo und rasche “Innovation”. Das verändert vor allem die Beziehungen der Menschen. Das Beziehungsgefüge der Menschen geriet aus dem Gleichgewicht. 

ZUM WEITERLESEN:

• Gerda Lerner  Die Entstehung des Patriarchats. Campus1991
• Klaus Eder  Die Entstehung staatlich organisierter  Gesellschaften.
  Suhrkamp.1980
• Stavros Mentzos   Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen. 
  Fischer Taschenbuch. 1993
• I.Eibl-Eibesfeldt Irenäus
  Krieg und Frieden. Piper 1984
• J.Herbig  Nahrung für die Götter. Hanser 1988
• Ernest Gellner  Pflug, Schwert und Buch. DTV/Klett-Cotta 1993
 

6.6 Wir haben das Gleichgewicht verloren!
 

 Du träumst wohl  vom romantischen Lagerfeuer und möchtest am liebsten in die Eiszeit zurück zu deinen friedlichen Neandertalern?

- Nein! Ich könnte in einer Jäger und Sammlergruppe gar nicht überleben. Zum einen weiss ich nicht, wie man Nahrung sammelt , und am gemeinsamen Lagerfeuer würde ich mich wahrscheinlich gar nicht wohl fühlen. Dazu bin ich zu sehr Individualist. Nein, mir gefällt es sehr gut im 20. Jahrhundert.

Wozu denn aber das Gerede über diese  “friedliche”  Urbevölkerung? Wir leben   doch nicht mehr in der Steinzeit! 

Aus der Geschichte kann man lernen. Das heisst nicht, dass man wiederholen muss, was schon einmal war. Wir können aber untersuchen, welche Strukturen es den Menschen möglich machten, zufriedener zu sein.  Wir müssen herausfinden, wie es zur allgegenwärtigen Gewalt gekommen ist, wenn wir irgend etwas verändern wollen. Die Lehren, die wir dann aus unseren “Erkenntnissen” ziehen, gelten für die Zukunft. 

Du glaubst also doch an den Fortschritt. Wird es in der Zukunft besser?

Ich träume nicht von einer besseren Zukunft, und schon gar nicht von einer gewaltfreien Welt. Ich glaube nicht an Utopien. Es geht nicht um eine” bessere” Welt. Es geht um das Gleichgewicht. Wir brauchen soziale Strukturen, die  den Menschen ein Gleichgewicht ermöglichen. 

Und wie soll diese Ordnung aussehen? Anstelle einer Diktatur des Proletariats eine Diktatur der Guten, wie bei Plato?

Eine bessere Ordnung kann nicht von oben befohlen werden. Das ist ja gerade eine der wichtigen Erkenntnisse aus dem Studium der Geschichte. Alles, was mit Macht und Gewalt den Menschen aufgezwungen wird, führt zu noch mehr Gewalt. Es kommt nicht alles Gute von oben, ganz im Gegenteil: von oben - durch Zwang und Repression - kommt Böses, es entsteht Gewalt. 

Und wie sollen denn die Menschen “besser” werden?  Die Menschen verzichten doch  wohl nicht freiwillig auf Vorteile?

Das Argument vom Verzicht kenne ich. Wenn wir “verzichten”, landen wir nach der Meinung der Fortschrittsgläubigen wieder in der Steinzeit. Es geht nicht ums Verzichten. Ganz im Gegenteil: Wir könnten unsere Lebensqualität “gewaltig” verbessern, ohne auf Notwendiges zu verzichten. Wir brauchen andere Wertmasstäbe.
Unsere Vorfahren hatten ein anders Mass für “genug”. Sie waren mit genug zufrieden. Ich nehme an, sie waren psychisch gesünder, weil sie im Gleichgewicht waren. Wir glauben, wir brauchten immer mehr. Das macht uns unzufrieden. Ich glaube nicht, dass die Menschen besser werden müssen. Sie könnten aber zufriedener werden. Unter zufriedenen Menschen entsteht keine Gewalt.
 

M
Zufriedene Menschen werden nicht gewalttätig.
 

Genug ist genug!  -  Das Gleichgewicht der Bescheidenheit

M
Glückseligkeit ist ein ständiges Fortschreiten des Verlangens von einem Gegenstand zu einem anderen.  Thomas Hobbes
M
Menschen werden zufrieden, wenn sie genug  haben.

Bescheidenheit ist nicht eine “Zier”; sie ist eine Voraussetzung, dass Menschen miteinander zusammenleben können. Wenn man - wie Thomas Hobbes - Glückseligkeit als ein ständiges Fortschreiten des Verlangens von einem Gegenstand zum anderen sieht , kann es kein Zusammensein der Menschen ohne Angst geben. Jeder muss fürchten, zu kurz zu kommen. Denn keiner hat je “genug”. Ständiges Verlangen kann keine “Glückseligkeit” sein. Menschen werden zufrieden, wenn sie genug  haben. Genug zu essen, genug zu trinken, genug Geborgenheit mit anderen, genug Vertrauen, genug Selbstvertrauen. Seit sie aber angefangen haben, “Glückseligkeit” in der Suche nach immer mehr  zu finden, können sie gar nicht mehr zufrieden sein. Es könnte ja immer noch besser sein. 

So halte ich an erster Stelle ein fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer Macht für einen allgemeinen Trieb der gesamten Menschheit, der nur mit dem Tode endet. Und der Grund hierfür liegt nicht immer darin, dass sich ein Mensch einen grösseren Genuss erhofft als den bereits erlangten, oder dass er mit einer bescheidenen Macht nicht zufrieden sein kann, sondern darin, dass er die gegenwärtige Macht und die Mittel zu einem angenehmen Leben ohne den Erwerb von zusätzlicher Macht nicht sicherstellen kann. 
    Thomas Hobbes 

Hobbes hatte recht. In einer Welt, in der die Aquisition von Gütern und Macht das höchste Ziel ist, bedeutet Glückseligkeit ein nie erfülltes, ständig  in die Zukunft weisendes Suchen nach immer mehr. Macht macht süchtig nach mehr und mehr. In unserer Industriewelt gibt es viele Macht-Junkies. Diese Sucht ist aber nicht ein “allgemeiner Trieb der gesamten Menschheit”. Sie entstand in den Männer-Gesellschaften der letzten dreitausend Jahre. Vorher hatten während Tausenden von Generationen die Menschen nicht an dieser Krankheit gelitten. 

Menschen lebten seit ihren Anfängen - vor vier Millionen Jahren - in einer Welt, in der es genug gab. Sie hätten ja sonst gar nicht überlebt. Sie hatten keinen Grund, mehr zu wollen, und es gab für sie auch keinen Anlass, mehr zu “machen”. Wozu auch? Seit “Herren” dafür gesorgt haben, dass mehr und immer mehr hergestellt wurde, ist die Bescheidenheit zur “Zier” der Erfolglosen geworden; das Tempo des Wachsens wurde unermesslich. Der Gang der Geschichte wurde masslos, und in dieser Masslosigkeit wird auch Gewalt masslos. Die modernen Gesellschaftsysteme verändern sich in einem Tempo, das einen “Zukunftsschock” bewirkt. 
M
In einer “ungeborgenen” Massenwelt wird unser Bedürfnis nach Nähe nicht befriedigt.

Narr
Seit die Menschen glauben, sie könnten die Natur beherrschen und sie könnten  immer mehr und mehr “machen” und aus einer ”feindlichen” Umgebung mehr und mehr herausholen, leiden sie an der Unerfüllbarkeit ihrer Wünsche. Sie werden unzufrieden mit sich und müssen in ständigem Wettbewerb mit den Menschen ihrer Umgebung nach mehr verlangen. In einer Gesellschaft, die als Grundprinzip den Wettbewerb sieht, kann ein Gleichgewicht von Eigenwert und Geborgenheit nicht entstehen. Die Menschen und ihre Beziehungen werden einseitig. In dieser Einseitigkeit wächst gewalttätiges Verhalten: Das Leben ist ja ein Kampf! 

Das Finden des Gleichgewichts gilt nicht nur für Partnerschaften von Männern und Frauen, es gilt auch für den Umgang zwischen Gruppen. In unseren Männergesellschaften ist dieser Ausgleich gestört. Wir haben uns eine einseitige Welt geschaffen, in der Gewalt in allen Formen wächst. Seit 4000 Jahren üben wir in aggressiven “Kriegergesellschaften” Konkurrenz und Wettbewerb. Das hat zu einem ungeheuerlichen Wachstum geführt und Gewalt gefördert. Wir leben in einer “ungeborgenen” Massenwelt, die unser Bedürfnis nach Nähe nicht befriedigen kann. In einer Gesellschaft, die den Individuen das Finden des inneren Gleichgewichts so schwer macht, entsteht Gewalt, als Antwort auf einen seelischen Mangel. 
 
 
 

Menschen für einander trainieren!

Die Menschen haben die Geborgenheit der kleinen Gruppe verloren. Unsere Vorfahren hatten in einem langen Prozess gelernt, in kleinen, überblickbaren und langdauernden Gruppen Nähe mit anderen nicht nur auszuhalten, sondern aktiv zu suchen. Sie hatten Formen der Interaktion entwickelt, die Kooperation weit stärker wertete als Konkurrenz. In dieser Umwelt ist Sprache entstanden als Medium der Zusammenarbeit von Menschen. Die Sprache hat es möglich gemacht, Menschen füreinander zu trainieren. Die archaischen Gruppen brauchten die Sprache, um ihr Zusammengehören auszudrücken. In ihrer Welt gab es noch keine Macher. Die Tat, das Handeln, das Wollen und auch das Planen waren weit weniger wichtig als das zusammen “Sein”. 

M
Menschen brauchen die Geborgenheit der kleinen Gruppe.

In der Welt unserer “primitiven” Vorfahren konnte keine Ausnützung von Menschen durch andere aufkommen. Der Zusammenhalt der Gruppen war viel zu fragil, als dass Mann ihn durch Machtgehabe gefährden durfte. Die Menschen wurden über die längste Zeit ihrer Geschichte dazu erzogen, ihre Beziehungen zu den anderen über alles andere zu stellen. Dies bedeutete, dass sie ihre Rangkämpfe auf ein Minimum abbauten, dass sie ihren “Streit” ritualisierten und nur “zum Schein” kämpften, und dass sie in ausgiebigen “Befriedungs-Ritualen” die Stimmung der Gruppe im Gleichgewicht hielten. 
 
 
 
 

Narr
Der Narr müsste da fragen, warum denn in unseren Millionen-Gesellschaften das  Gleichgewicht verlorenging? 

Wir spielen unser Leben lang Rangkämpfe. Und wir sind unzufrieden, weil die Welt nie so ist, wie wir sie wollen. Ein Zuviel an Rangkampf, an Wettbewerb ist gesundheitsschädlich. 

Wir modernen Menschen haben den Streit ritualisiert, wir nennen es Sport. Aber wir kämpfen nicht zum Schein, wir kämpfen um den Sieg. Im Lauf unserer “Geschichte” haben sich die Umgangsformen der Krieger überall durchgesetzt. Wir werden dazu erzogen, uns im Kampf durchzusetzen. Jeder weiss, dass er/sie zu kämpfen hat. Wer kooperiert, erreicht nichts im Leben. Schon als Schüler muss man gute Noten haben. Hänschen lernt sich Anerkennung zu verschaffen durch Konkurrenz. Hans weiss dann, wie er siegen muss. Er hat gelernt, Gewalt einzusetzen im Kampf ums Ansehen. 

Und - wie steht es mit der Stimmung der Gruppe? Wo spüren wir Gruppenstimmungen? im Fussballstadion? im überfüllten Bus? beim Politisieren? Gibt es da ein Gefühl des Gleichgewichts?

Wir kennen in unseren Massengesellschaften nur noch rudimentäre Reste von Gruppen.  “Mammi-Pappi- Kind”- Gruppen genügen nicht, um Kinder zu sozialisieren, sie bieten den Kindern zu wenig Möglichkeiten, Geborgenheit mit anderen zu lernen. Die erste grössere Gruppen, die heutige Kinder erleben, ist die Schulgruppe. Da herrscht ein mörderischer Rangkampf. Kinder können in dieser Konkurrenzwelt kein Vertrauen lernen.
 

Die Motivationstheorie von Norbert Bischof sieht die Strebungen des Menschen eingespannt in den Gegensatz von Geborgenheit und Selbständigkeit. Geborgenheit entsteht aus kooperativem Verhalten, Selbständigkeit erfordert Konkurrenzverhalten. Autonomie wächst aus dem Streben, jemand zu sein. Heisst das auch, dass dieses Streben dazu führt, jemand besonders  zu sein, den Nächsten zu be-herrschen? 
M
Machtstreben ist nicht angeboren. Man muss es den Menschen beibringen. Es ist kein unkontrollierbarer Trieb, aber ein unstillbares gelerntes Verhalten.

Es gibt zwischen den beiden Polen des Verhaltens, zwischen den Bedürfnissen nach Geborgenheit und jenen nach Selbständigkeit, einen Gleichgewichtszustand, der immer wieder erreicht werden kann. 

Wenn aber eine ganze Kultur nur noch ein  Ziel kennt: die Natur zu  beherrschen, ihr immer mehr Güter abzugewinnen, dann ist diese Kultur suchtkrank. Die “Sucht nach mehr” ist eine Krankheit. Der Drang, für sich selbst zu sorgen, ist eskaliert zum höchsten Ziel unserer Wettbewerbsgesellschaft. Egoismus nennen die Psychologen diesen Drang zu zeigen,  dass man der Beste ist. 

Im normalen Entwicklungsprozess des Kindes spielt das soziale Imitationslernen eine ausserordentlich grosse Rolle. Kinder identifizieren sich auch ohne erzieherischen Druck mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Sie ahmen ihn aus eigenen Stücken nach - wohl aufgrund einer angeborenen Lerndisposition. Darüber hinaus wirkt Erziehung seitens der Erwachsenen auch direkt formend auf die Grundhaltung der Kinder. Bei kriegerischen Völkern - und wir Europäer gehören dazu - unterweist man die Knaben darin, sich nichts gefallen zu lassen und Aggressionen mit Gegenaggression zu vergelten. 

Wie anders verläuft dagegen die Sozialisierung in einer Kultur mit friedlichem Ideal! Bei den Buschleuten der Kalahari sah ich bisher noch nicht, dass ein Kind dazu ermuntert wurde, einen Angriff durch einen Gegenangriff zu vergelten. Nur bei ganz kleinen Kindern duldet man, dass sie andere spielerisch mit einem Stock schlagen, und lacht darüber. Man trennt Krabbler, die einander in die Haare geraten, und beschwichtigt sie. Können die Kinder laufen, dann gesellen sie sich zu den Kinderspielgruppen, in denen ihre weitere Sozialisierung stattfindet. Aggressionen werden von den älteren Kindern nicht geduldet. Sie schreiten ein, beschimpfen, schlagen sogar den Aggressor und beschwichtigen und trösten den Beleidigten. Sie unterweisen im Teilen und gemeinsamen Spiel und bekräftigen damit jene Verhaltensweisen, die der Aggression entgegenwirken. 
    I.Eibl-Eibesfeldt 1990

M
“Kriegerische Gesellschaften trainieren auf Aggressivität.”
    I. Eibl-Eibesfeldt

Narr
Friedliche Gesellschaften programmieren ihre Mitglieder auf Konsensfindung  und nicht auf Rangkampf.

Leistungs- und Rangstreben, das heisst Konkurrenzprogramme, werden auf Sportplätzen der  englischen Public Schools gepflegt, und die machtbesessenen Kolonisatoren verbreiteten ihre Rituale überall in ihrem Einflussbereich, auch unter Menschengruppen, die keine Konkurrenzspiele kannten, sondern im Lauf ihrer Geschichte Rituale entwickelt hatten, die die Kooperation einübten. 
Als die Engländer den Maori auf Neuseeland ihr Gesellschaftsmodell “Cricket” brachten, spielten die Maori mit zwei Bällen. Sie spielten,  Verlierer und Gewinner gab es keine. 

Eine sportbesessene Gesellschaft ist krank. Wir trainieren, wie Eibl-Eibesfeldt sagt, Aggression. Wir haben aggressive Reaktionsformen zu “Selbstverständlichkeiten” emporstilisiert: Krieg ist der Vater aller Dinge! - und wir wundern uns, wenn unsere Kinder sich nicht mehr friedlich in eine Spielgruppe einordnen können.In Gesellschaften, die Konkurrenzverhalten immer belohnen, kann gar kein “Spiel” mehr stattfinden, das nicht  Gewinner und Verlierer schafft. Im grossen “Nullsummenspiel der Gegenwart” gibt es nur Verlierer.

Gewalt wächst aus einem Mangel an Kommunikation. Menschen haben gelernt, in Sekundenschnelle rund um den Globus “Informationen” zu senden, eine Riesenmenge. Haben sie in ihrer Anonymität vielleicht verlernt, diese Informationen zu verstehen? Verstehen heisst, auf dem Standpunkt des anderen stehen, ver-stehen. 

Exzessive Gewalt ist eine Krankheit  moderner Herrschafts-Gesellschaften. 
 

Exzesive Gewalt entsteht, wenn die  Grundmotivation Autonomie  über die ebenso wichtige Grundmotivation Intimität  gestellt wird. Solche Gesellschaften züchten Egoismus und Aggression. Sie haben keine Zeit mehr für ihre Beziehungen. Gewalt ist eine Folge kranker Kommunikation. Sie entsteht, wenn Menschen einander be-kämpfen, um Rang streiten. In Leistungsgesellschaften schwindet die Fähigkeit der Einfühlung in den “Nächsten”. Die Menschen verlieren ihre Geborgenheit in der Gruppe und ver-lernen das Grundlegendste: das Vertrauen.

M
Gewalt ist eine Folge kranker Kommunikation.

In kleinen, überblickbaren Jäger und Sammlergruppen konnte aggressives Verhalten der Individuen von der “Gruppenstimmung” kontrolliert werden. Seit die Menschengruppen vor viertausend Jahren begannen zu wachsen, wurden die Kontrollmechanismen der Gesellschaften “unpersönlich”. Damit wuchs auch die Gewalttätigkeit. Die Frage nach den Anfängen der Gewalt kann beantwortet werden: 
Gewalt gibt es in Grossgesellschaften, wie sie seit der Bronzezeit entstanden sind. Sie ist eine Folge unserer “Kriegermentalität.”

ZUM WEITERLESEN:

• I.Eibl-Eibesfeldt  Der Mensch das riskierte Wesen. Piper 1991
• Norbert Bischof Das Rätsel Oedipus. Piper 1986
 

SOZIOLOGIE
FRÜHGESCHICHTE

 

HOME    BOE    SAL     TEXTE