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Haast
en spoed is zelden goed (Hast und Eile ist selten gut)
Belgische Weisheit, zitiert nach dem hier besprochenen Werk
Im Verlag Peter Lang ist letztes Jahr
ein hochkonzentrierter Abriss der belgischen Geschichte von den Anfängen bis
zur Gegenwart erschienen: Auf etwa 150 Seiten (plus Literaturangaben von 35
Seiten) tummeln sich mehr als 2000 Jahre „belgische” Geschichte
- obwohl es Belgien als Staat
erst seit 1830 gibt. Ein solches Buch ist, vorsichtig ausgedrückt, ziemlich gewagt. Kann
aber interessant sein. Immerhin weiß ein Nicht-Belgier über Belgien gemeinhin
nicht allzu viel; die ersten Assoziationen sind meist 'Pommes' und 'Europäische
Institutionen'. Ein Belgien-Schnellkurs dürfte folglich nicht schaden. Und einen
solchen bekommt man in diesem Buch: Politik und Wirtschaft und, sehr selten,
auch ein Schuss Kulturleben (mitsamt Druckfehler: „Albrecht Drürer” statt
„Dürer”). Autor des Buches ist der amerikanische Historiker Prof. Bernard
A. Cook, dessen Arbeitsschwerpunkt Modern
European History ist und der 2001 Europe
since 1945 - an Encyclopedia herausgegeben hat. Doch, um es gleich zu
verraten: Die Tatsache, dass Cook Experte für Neuere Geschichte ist, schlägt
sich in diesem Buch nieder; leider nicht immer zum Vorteil.
Ausnahmsweise das Fazit der Rezension
am Anfang: Es wäre besser gewesen, wenn Cook sein Buch Belgium - a history erst am 1. Oktober 1795 hätte beginnen lassen,
als das revolutionäre Frankreich das spätere Belgien annektierte „and thus
unintentionally laid the basis for the future union of those three prevouisly
disconnected territories” (die Österreichischen Niederlande, das Erzbistum Lüttich
und die Herrschaft Bouillon) -
wenn Cook einsieht, dass die drei Landesteile (von denen einer auch noch
aus Flandern und Wallonien besteht) vor diesem Ereignis „disconnected”
waren, darf man hoffentlich vorsichtig anfragen, warum Cook auch die Geschichte vor diesem Ereignis erzählt. Belgien ist nun einmal ein heterogenes
Kunstgebilde (und insofern scheint es sehr symbolträchtig, dass Brüssel
„Europa-Hauptstadt” wurde). Es bedürfte eines hervorragenden Erzählers und
nicht minder guten Historikers, um die Bestandteile dieses Kunstgebildes in
einer Schilderung zusammen zu halten. Und daran hapert es bedauerlicherweise in
jenem Teil, der sich der Geschichte Belgiens vor der „Belgien-Werdung”
Belgiens widmet. Die Ausführungen in diesem Teil, der immerhin fast ein Drittel
des Buchs ausmacht, bleiben unangenehm blass und Cook hetzt den Leser
faktenhuberisch durch Belgiens Historie. Die Darstellung ist trocken wie eine
Mumie und nur wenige Anekdoten glänzen in dem bleiernen Meer
heruntergeratterter Details -
beispielsweise die Geschichte, dass der Name Antwerpen von der
abgehackten Hand eines Giganten herrühre, die in den Fluss Scheldt geworfen
worden sei („Hand werp”), sowie der Hinweis, dass der Graf d’Artagnan
(Vorbild für Alexandre Dumas’ gleichnamige Romanfigur) in Gefechten bei Maastricht starb, und die Erzählung, wie der
durch Briten entführte Manikin Pis in
einer französischen Uniform und mit französischem Dreispitz nach Brüssel zurückkehrte.
Ansonsten bleibt beim Leser vor allem hängen, dass Belgien schon zu dem
Zeitpunkt, als es noch gar nicht existierte, eine Pufferzone zwischen
diversen Staaten, Aufmarschgebiet und Schlachtfeld im Niederländischen Unabhängigkeitskampf,
im Dreißigjährigen Krieg, in diversen kriegerischen Aggressionen Frankreichs
und Deutschlands darstellte. Nun mag man der Ansicht sein, dass ein
Geschichtsbuch nicht gut geschrieben sein muss (der Rezensent ist dieser Ansicht
übrigens nicht). Problematisch wird
es allerdings, wenn Fakten anzuzweifeln sind und ein schiefes Geschichtsbild
entsteht. Beispiel gefällig? Nun, über Ereignisse am Ende des 13. Jahrhunderts
heißt es ladipar „The prosperity of Flanders ... led to the involvement of
France and England in the affairs of Flanders”. Da muss der Rezensent dann
doch ein wenig widersprechen: Frankreich und England mischten sich in dieser
Region ein, weil sie zu jener Zeit auch in jeder anderen europäischen Region gegeneinander opponierten. Etwas
ausführlicher (wenn jemand, der kein Geschichts-Professor ist, dergleichen
wagen darf): Im Jahre 1294 sollte die Schwester des englischen Königs Edward
den französischen König Philippe IV heiraten; die (englische) Gascogne sollte
Philippe IV übergeben und Edward dann zurückerstattet werden, um die Lehnshoheit
Frankreichs über die Gascogne zu verdeutlichen. Als das nicht klappte und es
zum Krieg kam, wurde munter herumkoaliert: Um Aragonien und Kastilien
konkurrierten Englands Edward und Frankreichs Philippe dabei ebenso lechzend wie
um viele andere Staaten. „The prosperity of Flanders” war bei den damaligen
Bündnissen vermutlich weniger wichtig als es das irakische Öl in heutigen
Konflikten ist. Und auch Cooks Satz „Guy of Dampierre, the Count of Flanders,
imprisoned Floris I of Holland, who was subsequently murdered” scheint dem
Rezensenten nicht ganz zu stimmen -
der nämlich meint (entsprechend Michael Prestwich, Edward I, 1988,
S.388): Florent/Floris wurde in eventuell englischem Auftrag von John von Cuyck
entführt und ermordet, weil er es am 6. Januar 1296 gewagt hatte, das Bündnis
mit England zugunsten eines Bündnisses mit Frankreich zu verlassen. Guy von
Flandern, der 1295-97 mit Frankreich alliiert war, hätte entgegen Cooks
Behauptung wohl kaum seinen
frisch gebackenen Mit-Alliierten ermorden lassen. Wie eingangs gesagt: Man
merkt, dass Cook Experte für Neuere Geschichte ist. Aber selbst in der Neueren
Geschichte scheint es ein wenig zu hapern. Cook behauptet: „In fact
continental Europe’s first rail line was opened between Brussels and Mechelen
(Malines) in the 1830s.” Das stimmt zumindest damit nicht überein, dass die erste Eisenbahn Kontinentaleuropas zwischen St.Etienne und Andrézieux
Kohle transportierte (ab
16.10.1828) und das französische Eisenbahnnetz 1829 17 Kilometer sowie 1830 31
Kilometer umfasste (vgl. auch die Tabelle in 'Propyläen Geschichte Europas',
Bd.4, S.442).
Doch nun genug herumgekrittelt. Denn
im 19. Jahrhundert wird Cooks Geschichts-Beschreibung etwas farbiger und breiter; man merkt, dass er
sich auf diesem Terrain sicherer fühlt. Erstaunlich sind Tatsachen wie jene,
dass die Belgier die österreichischen Habsburger 1789 in einer eigenständigen
Revolution aus dem Land warfen, so die 'Vereinigten Staaten von Belgien'
nach US-Vorbild gegründet wurden, jedoch aufgrund innerer Streitigkeiten nach
wenigen Monaten wieder von der Landkarte verschwanden. Skurril sind Aspekte wie
derjenige, dass das Zusammentreffen von Revolution (aus Frankreich)
und Industrialisierung (aus Großbritannien) dafür sorgten, dass im
Erzbistum Lüttich Klöster zu Glas-Fabriken wurden. Und beinahe rührend:
ein kurzer Abschnitt namens „Christmas 1914 on the Belgian Front”, wo in
zwei Dutzend Zeilen die ganze Absurdität des Krieges aufblitzt.
Also, das Fazit: Es hätte dem Buch
gut getan, die ersten sechs Kapitel wegzulassen und die folgenden zehn Kapitel
dafür ausführlicher zu gestalten. „Haast en spoed is zelden goed”, der
Umfang von insgesamt 150 Seiten dagegen durchaus angenehm: Wer mehr lesen will,
ist mit den üppigen Literaturangaben hervorragend bedient. Das Register dagegen
ist ziemlich merkwürdig. Man fragt sich beispielsweise, wieso „William of
Gulik, 12-13” und „William the Conqueror, 7” dort mitsamt Seitenangaben
auftauchen, der niederländische König Wilhelm (bzw. im Text „William”)
jedoch nicht, obwohl der für Belgiens
Geschichte weitaus wichtiger ist und über sehr viel mehr
Seiten im Text herumfleucht als „William of Gulik” oder „William the
Conqueror” -
und das ist nur einer von mehreren Fällen, in denen das Register dem
Suchenden keine große Freude macht.
Verflixt, jetzt ist der Rezensent
schon wieder am Herumkritteln. Doch zum Schluss noch eine versöhnliche
Bemerkung: Er hat trotz allem bei diesem Buch einiges über Belgien gelernt. Und
er freut sich, dass die Bezeichnung Belgiens als „the cockpit of Europe”
(James Howell, 1640), die damals noch auf eine kriegerische Hahnenkampf-Arena
hindeutete, heute als „Pilotenraum des EU-Flugzeugs” übersetzt werden könnte
- ein zivilisatorischer
Fortschritt für Belgien und das, was Donald Rumsfeld „das alte Europa”
nennt.
th