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Band XV (1999)Spalten 685-688 Autor: Daniel Heinz

HARDER, Johannes (Hans), Schriftsteller, Übersetzer; mennonitischer Prediger und Sozialpädagoge; Philanthrop und Aktivist; * 28.1. 1903 in Neuhoffnung-Alexandertal bei Ul'janovsk/Wolga, † 7.3. 1987 in Schlüchtern/Hessen. - H.s Großeltern waren 1878 vom Weichseldelta an die Wolga ausgewandert. Der Vater war Schmied und führte erfolgreich ein landwirtschaftliches Maschinenimportgeschäft. Während des Krieges lebte die Familie in der Verbannung bei Orenburg. 1918 verließ H. mit seinen Eltern Rußland und lebte in Königsberg, wo er die Universität besuchte (Wirtschaft, Literaturwissenschaft, Slavistik und Philosophie). Die Beschäftigung mit Christoph Blumhardt befreite ihn von einem legalistischen Verständnis der christlichen Botschaft und bewirkte eine innere Wandlung. Die Glaubens- und Gütergemeinschaft hutterischer Prägung sowie die Welt des religiösen Sozialismus um Eberhard Arnold und Leonhard Ragaz beeinflußten den jungen Suchenden auf seinem Weg. 1928 gründete H. einen eigenen Verlag. Sein erster Roman (In Wologdas weißen Wäldern, 1934), der unter dem Pseudonym Alexander Schwarz erschien, beschreibt erstmals für den westlichen Leser die große Not rußlanddeutscher Bauern, die infolge der Kollektivierung in stalinistischen Arbeitslagern am Weißen Meer interniert waren. Das tragische Schicksal des russischen Mennonitentums und der Wolgadeutschen stellt eines seiner Hauptthemen in seinen Büchern dar, doch war sein Werk keineswegs geprägt von konfessioneller Enge oder Ethnozentrismus. Im Gegenteil: H. mißtraute zeitlebens dem institutionellen und organisierten Christentum und fühlte sich als freikirchlicher Weltbürger. 1933 schloß er sich der Bekennenden Kirche an und wirkte zusammen mit seinem Vater in einem Hamburger Stadtmissionswerk. Weil einige Mennonitengemeinden in Norddeutschland mit dem Nationalsozialismus sympathisierten, trat er vorrübergehend aus ihrer Gemeinschaft aus. Im Krieg wurde er als Dolmetscher in der Ukraine eingesetzt. - 1946 begann er seine langjährige Lehrtätigkeit als Professor für Sozialwissenschaften an der Pädagogischen Akademie (später Hochschule) in Wuppertal. Die als »Wuppertaler Modell« bekanntgewordene Straffälligenpädagogik und Delinquenzprophylaxe verdankt H.s Bemühen um soziale Integration entscheidende Impulse. Seine Studenten rief er zu politischer Verantwortung und zur sozialen und wirtschaftlichen Weltveränderung auf. Er glaubte an einen Kommunismus auf christlich-demokratischer Grundlage. Geistlich und ethisch fühlte er sich am Ende seines Lebens dem Quäkertum näher als dem Mennonitentum. Die Sorge um die Sicherung des Friedens zwang H. zu öffentlichen Protesten, zu Ostermärschen und zur Teilnahme an Demonstrationen bis hin zum Sitzstreik vor dem Raketenlager in Mutlangen. Nach seiner Emeritierung 1968 wirkte er als Prediger der Mennonitengemeinde in Frankfurt. - H. blieb bis zu seinem Lebensende ein unbequemer Grenzgänger, Visionär und Utopist in Kirche und Gesellschaft. Als engagierter, aber nicht immer linientreuer Mennonit erkannte er das soziale Defizit seiner Kirche, die er von religiöser »Kleinkrämerei« befreien wollte. Er zählt zweifellos in Deutschland zu den bekanntesten christlichen Sozialreformern der Gegenwart.

Werke: Das Mennonitentum in Rußland. Zur Deutschenflucht aus der Sovjetunion, in: Neue Wege, Nr. 3, 24. Jg., 1930, 141-46; In Wologdas weißen Wäldern, Altona/Elbe 1934; Die Reformation in der Ukraine, in: Wort u. Werk (n. F. des Rettungsboten), Nr. 10, 15. Jg., 1935, 141-46; Das Evangelium in der russischen Verfolgung. Vom Sterben u. Auferstehen einer Kirche, Witten 1936; Das Dorf an der Wolga. Ein deutsches Leben in Rußland, Stuttgart 1937; Die Hungerbrüder, Heilbronn 1938; Das sibirische Tor. Vier Jahre Orenburger Zivilgefangenschaft (1914-1918), Stuttgart 1938; Wie Lukas Holl seine Heimat suchte. Eine wolgadeutsche Bubengeschichte, Berlin 1938; Die vier Leiden des Adam Kling, Berlin 1939; Der deutsche Doktor von Moskau. Der Lebensroman des Dr. Friedrich Joseph Haas, Stuttgart 1940; Klim - Ein russisches Bauernleben, Berlin 1940; Timm - Eine Weihnachtsgeschichte, Bielefeld 1947; Was heißt Reformation? Gladbeck 1947; Christoph Blumhardt - eine Botschaft an die Gegenwart, Gladbeck 1947; Die christliche Erzählung, in: Der evang. Erzieher, 1. Jg., Aug./Sept. 1949, 29-34; Der Osten als Frage an den Westen. Eine Besinnung, Lemgo i. Lippe 1952; Dichtung als Dienst. Zur Deutung der russischen Romandichtung, in: Kraft u. Innigkeit (Festschrift Hans Ehrenberg), Heidelberg 1953, 64-72; Bernhard Harder, in: Mennonitisches Jahrbuch, 69. Jg., 1954, 3-6; Gewaltlosigkeit als christl. Zeugnis, in: Stimme der Gemeinde zum kirchl. Leben, zur Politik, Wirtschaft u. Kultur, Nr. 3, 7. Jg., 1955, 49-54; Willusch sucht seinen Vater u. a. Erzählungen, München 1956; Christoph Blumhardt (1842-1919), in: Evang. Sozialreformer d. 19. Jh., Stuttgart 1956, 67-76; Zur Frage der sozialen Erziehung, in: Die deutsche Schule-Zeitschr. für Erziehungswissenschaft u. Gestaltung der Schulwirklichkeit, Nr. 3, 48. Jg., 1956, 107-13; Zwischen Atheismus und Religion. Eine Deutung Dostojewskis, Wuppertal-Barmen 1956; Apostelgeschichte in Polen - Eine Erzählung, in: Auf dem Weg zu Dir (Hausbuch), Gelnhausen-Berlin-Dahlem 1958, 246-59; Die Nacht der Befreiung (Erzählung), Halle 1958; Kritiker der Kirche. F. M. Dostojewskij, in: Kritik an der Kirche, hrsg. v. H.-J. Schultz, Stuttgart-Olten-Freiburg 1958, 279-83; Das Mennonitentum als gemeindliche u. gesellschaftliche Erscheinung, in: Der Mennonit, Nr. 6, 11. Jg., 1958, 69-71; Apostelfahrt nach Laskovo - Erzählung, Wuppertal 1959; Kampf um den Menschen. Eine Deutung Nikolai Leskovs, Wuppertal-Barmen 1959; Mensch u. Mitmensch, in: Deutsche Universitätszeitung, Nr. 11/12, 14. Jg., 1959, 661-69; Die Auswanderung des Christian Schroth. Eine Wolgageschichte, in: Jahrb. d. Mennoniten in Südamerika 1961, Curitiba/Brasilien 1960, 47-58; Die Nacht am Jacotiner See, Bielefeld 1960; Die Einheit der Bibel u. die Vielfalt der Konfessionen, in: Der Mennonit, Nr. 7, 13. Jg., 1960, 84-86; Friede als Lebenshaltung, Karlsruhe 1960; B. H. Unruh - Theologian and Statesman, in: Mennonite Life, 15. Jg., Jan. 1960, 3; Zwischen Nihilismus u. Nachfolge. Eine Deutung Tolstois, Wuppertal-Barmen 1960; Kleine Geschichte der orthodoxen Kirche, München 1961; Der Mensch im russischen Roman, Wuppertal-Barmen 1961; Die Macht der Ohnmächtigen - Der Protestantismus zwischen Rom u. Moskau, Hamburg-Bergstadt 1963; Pädagogik als Utopie. Zum Erziehungsproblem bei Lev Tolstój, in: Evang. Kinderpflege, Witten (Ruhr) 1963, 234-39; Friede als Diakonie an der Welt, in: Der Mennonit, Nr. 12, 19. Jg., 1966, 180-82; Nicolaus Berdjßjev, in: Tendenzen der Theologie im 20. Jh. - Eine Geschichte in Porträts, hrsg. v. H.-J. Schultz, Stuttgart-Berlin-Freiburg 1966, 137-44; Caritas u. Solidarität, in: Was tun Sie, wenn Sie einen Menschen lieben? Hrsg. v. R. Dirx, Wuppertal 1967, 64-68; 800 Jahre Hohenzell (Festschrift), hrsg. v. J. H., Schlüchtern 1967; Dem Gruppenegoismus ist gekündigt worden - Die Überwindung d. Gruppenegoismus im Mennonitentum, in: Der Mennonit, Nr. 12, 20 Jg., 1967, 170-71; Christl. Existenz heute zwischen Kirche u. Welt, in: Dienst für Kirche u. Schule (Festschrift Edgar Boué), hrsg. v. A. Bach, Dortmund 1968, 65-69; Heilsame Unruhe, in: Der Mennonit, Nr. 4, 21. Jg., 1968, 51-52; Plädoyer für das Gespräch oder Gedanken über das Elend unserer Gottesdienste, in: Zum Gottesdienst morgen. Ein Werkbuch, hrsg. v. H. G. Schmidt, Wuppertal 1969, 34-42; Der russische Nihilismus - Idee u. Experiment, in: Freiheit u. Verantwortung in Schule u. Hochschule (Festschrift Oskar Hammelsbeck), hrsg. v. I. Heuser u. H. Horn, Wuppertal-Ratingen 1969, 124-131; Christoph Blumhardt - Skizze einer Botschaft, in: Im Dienst für Schule, Kirche u. Staat (Gedenkschrift Arthur Bach), hrsg. v. H. Horn u. I. Röbbelen, Heidelberg 1970, 104-09; Worte des evang. Pfarrers und Landtagabgeordneten Christoph Blumhardt, hrsg. v. J. H., Wuppertal 1972; Gegen den Strom. Aufsätze zur mennonitischen Existenz heute, hrsg. v. H.-J. Goertz, Hamburg 1978; Christoph Blumhardt - Ansprachen, Predigten, Reden, Briefe: 1865-1917, 3 Bde., hrsg. v. J. H., Neukirchen-Vluyn 1978; No Strangers in Exile (engl. Übers. v. In Wologdas weißen Wäldern), hrsg. v. A. Reimer, Winnipeg 1979; Der Deutsche in der russischen Literatur, in: Heimatbuch der Deutschen aus Rußland 1973-1981, Stuttgart 1981, 117-25; Und der Himmel lacht mit: Heiteres von Theologen und Theolunken, Freiburg 1982; Aufbruch ohne Ende (Autobiographie), Wuppertal-Zürich 1992.

Bibliographie: Entscheidung u. Solidarität (Festschrift J. H.), hrsg. v. H. Horn, Wuppertal 1973, 267-76 (bis 1972).

Lit.: C. Krahn, J. H. - A Mennonite Novelist, in: Mennonite Life, 8. Jg., April 1953, 78-79; - Ders., Recognition at Seventy: J. H., in: Mennonite Life, 28. Jg., Juni 1973, 54; - D. Visser, Ketterij als Motor van de Kerkgeschiedenis - Interview met J. H., in: Doopsgezinde Bijdragen, Nr. 8, 1982, 84-87; - A. Reimer, J. H.: A Reflective Tribute to a Remarkable Mennonite, in: Journal of Mennonite Studies, 5. Jg., 1987, 167-71; - J. Wozniak, Das wolgadeutsche Geschichtserlebnis der `guten alten Zeit' (1763-1914) in der deutschen Prosa der Zwischenkriegszeit, in: Zwischen Reform u. Revolution. Die Deutschen an der Wolga 1860-1917, hrsg. v. D. Dahlmann u. R. Tuchtenhagen, Essen 1994, 356-71; - MennEnc V (1990), 362.

Daniel Heinz

Letzte Änderung: 07.03.1999