Lebenslauf von Ernst Spichiger

Biografie eines Opfers des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse»

Am 6. August 1951 wurde ich geboren. Meine Mutter, eine Jenische, war mit einem Jenischen namens Moser verheiratet. Sie waren Fahrende, haben zu jener Zeit in einem Wohnwagen in der Matte in Bern gewohnt, lebten vom Hausieren. Noch vor meiner Geburt trennten sich meine Eltern; mein leiblicher Vater starb 1953. Ich habe noch zwei Schwestern und zwei Brüder; eine weitere Schwester ist als Kind gestorben. 1954 hat sich meine Mutter wieder verheiratet, mit einem Sesshaften, von dem ich meinen Namen habe.

Mit dem Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» sind meine Eltern bereits vor meiner Geburt konfrontiert worden. Der Leiter des Hilfswerks, Alfred Siegfried, hatte die Amtsvormundschaft in Bern informiert, unser Stiefvater würde meine beiden Schwestern missbrauchen - so hätte Siegfried einen Grund gehabt, die Familie auseinander zu reissen. Das war natürlich ein gefundenes Fressen für die Pro Juventute. Ich bin einverstanden, dass in gewissen Fällen etwas gemacht werden musste, aber nicht so.

Meine Mutter war noch schwanger mit mir, als sie von der Amtsvormundschaft und der Polizei aufgegriffen und ins Spital gebracht wurde. Nach meiner Geburt gelang meiner Mutter trotz Bewachung die Flucht. Doch es dauerte nicht lange, bis uns Siegfried wieder aufgestöbert hatte. Als ich etwa anderthalb jährig war, kam ich auf Verfügung Siegfrieds ins Säuglingsheim in Chur. Dort waren sehr viele jenische Kinder untergebracht. Knapp ein halbes Jahr später kam ich nach Heiden zu einer Bauernfamilie. Ich hatte ständig Angst, bin oft ausgerissen. Also versetzte man mich ins Städtische Jugendheim nach Bern. Dort war ich etwa drei Jahre alt und habe Doktor Siegfried wieder getroffen. Ich kann mich erinnern, dass er regelmässig ins Heim kam, Kinder auf den Schoss nahm und sich mit ihnen vergnügte. Das galt auch für die Heimleiter, Betreuer und Vormundschaftsbeamten - es waren alle involviert in sexuelle Handlungen mit Kindern.

Als es auch im Heim nicht gut ging, suchte man mir einen Platz bei einer Pflegefamilie in Bern. Meine jüngste Schwester war bereits dort. Nach ungefähr einem halben Jahr lag sie eines morgens plötzlich tot im Bett. Ich merkte, dass etwas nicht stimmen konnte. Immer wieder habe ich sie in ihrem Zimmer laut schreien gehört. Das muss auch etwas mit sexuellen Handlungen zu tun gehabt haben. Von dieser Schwester existieren überhaupt keine Akten, obwohl ich noch ein Foto von ihr besitze. Nach dem Tod habe ich nichts mehr über sie erfahren; ich weiss heute nicht einmal, wo ihr Grab ist.

Also haben sie mich wieder versetzt, ins neue Jugendheim der Stadt Bern. In dieser Zeit kam ich zum ersten Mal in die psychiatrische Anstalt und ins Inselspital. In meinen Akten steht, sie hätten an mir geforscht für eine Studie über zerebral Gelähmte. Dabei war ich kerngesund. Regelmässig, alle Wochen, sind sie mich holen gekommen, dann wurden mir ganz viele Nadeln in die Beine gesteckt, und im Saal gab es Fernsehmonitore und viele Studenten - was habe ich geschrien dort drin. Beim Laufen verspürte ich dann immer öfter Schmerzen in den Beinen - bis heute leide ich an Muskelschwund. Deshalb behaupte ich, man habe medizinische Versuche gemacht mit uns jenischen Kindern.

In Bern besuchte ich die Schule. Im Schulhaus wurde allen gesagt, dass ich nun eines dieser Vorzeigekinder der Pro Juventute sei, eines dieser Zigeunerkinder, und es wurde auf mich gezeigt. Dort fing ich zu rebellieren an. In der Hoffnung, ich könne wieder nach Hause gehen. Weil ich inzwischen meine Mutter wieder getroffen hatte. Sie kam jeweils mit dem Töffli, ich schaute, dass uns niemand beobachtete und ging zum Gartenzaun, um mit ihr zu sprechen. Trotzdem wurden wir bemerkt - und ich musste wieder an ein neues Ort. Ich kam nach Schönried zu einer Pflegefamilie. Dort rebellierte ich erneut, und ich wurde wieder ins Heim nach Bern zurückversetzt. Innert eines Jahres musste ich fünfmal die Schule wechseln.

Weil der Amtsvormund mit mir überfordert war, suchte man für mich einen neuen Vormund. Man fragte Alfred Siegfried an, doch der lehnte ab, weil er bereits über zweihundert Mündel hatte. Also kam ich nach Münchenbuchsee in ein privates Heim. Ich besuchte im Dorf die Schule, die zweite und dritte Klasse. Das Heim wurde von zwei gläubigen Frauen geführt, die uns gut behandelten. Wir hatten zwar kaum Geld, mussten hart arbeiten, und ich bin oft mit einem Suppentopf losgezogen, um bei den Hotels für uns etwas Essbares aufzutreiben.

Plötzlich stand eines Tages meine Mutter vor der Türe - sie war am hausieren. Sie hat mich gleich hinten aufs Töffli gesetzt und ist mit mir nach Bern gefahren. Ich war keinen Tag zu Hause, als die Vormundschaft kam und sagte, die Mutter müsse mich wieder hergeben. Sie weigerte sich, die Polizei kam, es gab eine Schlägerei. Dann wurde ich abtransportiert - in die psychiatrische Klinik. Ich glaube, es war in der Waldau Bern. Von dort kam ich auch wieder ins Inselspital für die Versuche.

Dann kam ich nach Bowil zu einer Bauernfamilie. Man sagte ihnen, ich sei ein Waisenkind, habe weder Eltern noch Geschwister. Dabei sah ich meine Mutter manchmal im Dorf, doch sagen konnte ich den Bauern nichts, denn man hätte mich dann sofort wieder an einen anderen Ort versetzt. Weil ich Sehnsucht hatte nach meiner Familie, gings auch bei dieser Pflegefamilie nicht lange gut. Aber ich stand kurz vor der Schulentlassung, und wegen des fehlenden halben Jahres wollte man mich nicht noch einmal versetzen.

Nach der Schulzeit wollte ich Gärtner werden, doch niemand wollte mich. Also probierte ich es als Töff- und Velomechaniker. Mein Vormund brachte mich nach Gümmenen zu einer Familie, die kinderlos geblieben war. Ich wollte die Lehre nur machen, um vom Bauernhof wegzukommen. Denn ich wusste genau, dass ich in der Berufsschule scheitern würde. Schreiben, Allgemeinbildung, Rechnen - da konnte ich nirgends mithalten. Schule war für mich in jenen Jahren die einzig mögliche Erholung gewesen, eine Art Spielwiese. In der Familie und bei der Arbeit als Garagist habe ich zum ersten Mal so etwas wie Liebe und Wärme erfahren, konnte selbstständig arbeiten, erhielt Trinkgeld, machte sogar Motocross.

Eines Tages, ich war etwa achtzehn Jahre alt, sackte mein Lehrmeister unverhofft am Tisch tot zusammen. Herzversagen. Da ist für mich eine Welt eingestürtzt. Was sollte ich tun? Die Lehre konnte ich nicht mehr weiterführen und in eine Anstalt wollte ich nicht mehr. Da bin ich ab - doch der Vormund hat mich gefunden. Ich sei nicht fähig, mein Leben selber zu meistern, hiess es, und man steckte mich ins neue Lehrlingsheim in Bern. Dort wurde ich dann endgültig zum Querulanten, habe mich nachts aus dem Fenster abgeseilt und bin ins Vergnügen in die Stadt. In einer zwielichtigen Bar habe ich einmal ausgerechnet einen der Leiter des Heims angetroffen. Also musste ich wieder weg. Ich verdiente mein Leben mit Gelegenheitsarbeiten als Tankwart oder Hilfsmaler.

Doch bald geriet ich in eine Polizeikontrolle, und die Beamten sagten, sie würden mich schon kennen und verhafteten mich. Ich kam in Untersuchungshaft in die Waldau. Dann brachte man mich nach Interlaken, wo ich fünfundvierzig Tage in Einzelhaft sass. Ich wusste aber nicht, warum. Da lief irgendeine Gerichtsverhandlung gegen mich wegen Unzucht mit Kindern - aber ich hatte keinen blassen Dunst davon. Dann wurde das Urteil gefällt, ich kam raus als freier Mann. Ein weiteres Mal schickte mich der Vormund für eine Begutachtung in die psychiatrische Klinik Waldau. Dort stellte ein Professor endlich fest, dass ich völlig am falschen Ort sei - und liess mich ziehen.

1971, als ich volljährig wurde, ging die Vormundschaft zu Ende. Dann konnte ich mich zunächst überhaupt nicht orten, wer ich bin. Selbst bei den besten Freunden nicht. Weil ich einfach Angst davor hatte, weil ich einfach wusste, als was für eine Minderheit wir eigentlich tituliert worden sind. Ich bin sehr, sehr viel gescheitert an meiner Geschichte, weil ich mich nicht orten konnte.

Ich hatte zum Beispiel einen Freund, der unterstütze mich finanziell, aber mit der Zeit wollte er mehr wissen. Je näher er an mich herangetreten ist, desto mehr bin ich geflüchtet. So bin ich eigentlich immer wieder geflohen vor mir selbst. Oder wenn ich eine Arbeit hatte, so bin ich geflüchtet, sobald man an das Vergangene herangekommen ist. Häufig hat man mich nach meinem Namen gefragt, und ich sagte immer «Moser», der jenische Namen meiner Mutter, obwohl ich ja Spichiger hiess; das hat man nicht verstanden.

Vor fünf Jahren hat sich eine meiner Schwestern das Leben genommen. Erst dann hatte ich den Mut, öffentlich zu sagen, was ich erlebt habe. Vorher hatte ich nur Wut in mir, und immer wieder diese Bilder von dem, was passiert ist. Ich musste zuerst Boden unter den Füssen spüren. Lange Zeit hatte man mir in den Heimen eingetrichtert, ich sei ein Waisenkind. Erst viel später habe ich gemerkt, dass das nicht stimmen kann - und habe mich auf die Suche nach meinen Eltern und Geschwistern gemacht.

Meine Mutter und meine Grossmutter fand ich auf dem Friedhof, das Grab meines Vaters habe ich nie gefunden. Den einen Bruder entdeckte ich viel später auf dem Grabfeld; auf seinem Stein stand «Jakob Rothenbühler», 1990 gestorben. Mir hat es fast das Herz zerissen. Dass man ihm nicht wenigstens den richtigen Namen auf den Stein geschrieben hat! Das hat mir schrecklich weh getan. Doch die Pflegeeltern meines Bruders waren schon zu alt, um sie noch darauf anzusprechen, und deren Kinder wussten von nichts - sie glaubten, er sei ein Waisenkind gewesen. Der andere Bruder ist spurlos verschwunden - er ist inzwischen als tot erklärt.

Meinen Stiefvater habe ich einmal wieder getroffen, um alles aus ihm heraus zu pressen, was ich noch über die Vergangenheit wissen wollte. Er wollte mir nichts mehr sagen, war bereits sehr krank. Ich packte ihn - zum Glück kam ein Arzt dazwischen. Dreimal versuchte ich Selbstmord zu machen. Weil ich einfach nicht mehr konnte, weil mich das so belastete. Beim dritten Mal lag ich im Koma und musste fünf Monate im Spital bleiben.

1992 habe ich meine Akten eingesehen. Das war furchtbar. Ich war nicht im Stande, die Akten zu lesen. Eine Betreuerin hat sie mir vorgelesen. Mich hats geschüttelt, ich hätte mich töten können, ich wollte mich nur noch verstecken. Hätten mich nicht andere Betroffene und unsere Organisationen aufgefangen, ich wäre zerbrochen. Wenn man plötzlich liest, was die Leute, denen man vertraut hat, über einen schreiben - wenn man dann liest von den Angehörigen, die man immer gesucht hat, der Bruder, die Schwester, die man dann doch nicht findet, ich hatte eine Panik damals. Und bin nur an einen Scherbenhaufen heran geraten: die Eltern tot, die Geschwister tot, verschollen oder abgestürzt, die Halbbrüder völlig verwahrlost, einer Alkoholiker, der andere drogensüchtig.

Nach der Akteneinsicht konnte ich nicht mehr: Ich ging für fünf Jahre auf ein Maiensäss, von 1994 bis 1999, wo ich ganz alleine lebte und richtig mit der Malerei begann. Als Einzelgänger. Ich brauchte das, um alles zu bewältigen. Ich kann mich heute nicht mehr binden, kann niemanden mehr an mich heran lassen, bin zu keiner Beziehung mehr fähig. Heute noch, wenn ich nachts im Bett liege, überkommen mich die Bilder von damals, sehe ich die Gesichter und die schlimmen Erlebnisse manchmal wieder vor mir.