Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Portal zum sterreichischen EU-Vorsitz 2006 Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Das Unternehmen Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon Interview  Glossen  Bücher  Musik  Debatten 

Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this...

Der kontrollierte Kontrollverlust

Eine kleine Geschichte der Trinksitten

Von Hilde Weiss

Die Beziehung von Mensch und Vergorenem war von jeher besonders innig. Je inniger sie in einer Kultur war, umso dichter war sie von Regeln und Ritualen umstellt, die
genau festlegten, wer wieviel wovon und wie trinken durfte oder musste. Stets wurde im Umgang mit Alkohol größter Wert auf Kontrolle gelegt. Theoretisch. In der Praxis ging es naturgemäß weniger
geordnet zu, und es waren gerade die Sicherheitsregeln, die sich in die schlimmsten Exzesse verkehrten. So zeigt sich die Geschichte der Trinksitten als eine tragisch-komische Geschichte menschlicher
Gratwanderung.

Gleich der Auftakt ist brisant: Alkohol wurde in vielen frühen Kulturen mit der Gottheit selbst gleichgesetzt. Andere glaubten, Gott spreche aus dem Alkohol zu ihnen. Die logische Folge war exzessive
Berauschung, fühlte man sich doch im Rausch dem Göttlichen gleich viel näher. Diese sakralen Gelage wurden häufig als eine Art Gottesdienst aufgefasst, als spirituelles Gemeinschaftserlebnis, das zu
genau festgelegten Zeiten stattfand und gewöhnlich mehrere Tage und Nächte hindurch andauerte, fast immer unter Ausschluss der Frauen. Für die Männer war die völlige Berauschung bis zur (oft als
heilig erachteten) Bewusstlosigkeit Pflicht. Einzeltrinker gab es nicht.

Raum für das Göttliche

Die Trinksitten unterlagen in allen Kulturen strengen Regeln. Der Umgang mit dem Alkohol war zu wichtig, um ihn spontanen persönlichen Einfällen oder Gelüsten zu überlassen. Maß gab es, außer der
Bewusstlosigkeit, keines. Die Gelage waren der Versuch eines kontrollierten Kontrollverlustes, um Raum für das Göttliche zu schaffen: streng reglementierte Maßlosigkeit zur kontrollierten Aufhebung
der Kontrolle. Dabei kann natürlich manches schief gehen.

Der erste Becher, das erste Horn war jeweils der Gottheit geweiht, zur Ehrung und um den Bund zu bekräftigen. Bald darauf begann man allerdings, das Trankopfer auch auf Ehre und Wohl Verstorbener
oder großer Helden auszudehnen. Die Sitte des „Zutrinkens" war geboren, die später so viel Kummer bereitete. Noch in der griechischen und römischen Antike hielt man sich während der Symposien strikt
an die Regeln, allerdings sollten diese nur mehr eine gleichmäßige und gleichzeitige Berauschung der Teilnehmer sicher stellen. Alles war genau eingeteilt, und Aristoteles erstellte sogar eine
Typologie der Betrunkenen, die unter anderem besagt, dass man im Weinrausch nach vorne hinfällt, im Bierrausch auf das Hinterteil.

Längst hatten sich die Trinkregeln aber bereits im Alltag aufgelöst. Über die erlaubten Anlässe hinaus durchflossen mehrere Liter Wein oder Bier nun täglich die Kehlen, ganz ohne Gottsuche. Der
sakrale Rausch war verweltlicht und begann, seinen gesundheitlichen und sozialen Zoll zu fordern.

Natürlich wurden im Laufe der Jahrhunderte immer wieder warnende Stimmen laut, schon seit dem alten Ägypten. Und die großen Religionen mahnten alle zumindest zum Maßhalten. Und so mancher versuchte,
mit gutem Beispiel voranzugehen. Zum Beispiel Karl der Große. Sein Chronist Einhard lobt: „An Wein oder anderen Getränken gönnte er sich so wenig, dass er während der Mahlzeiten selten mehr als
drei Becher trank." Da kommt natürlich auch einiges zusammen.

Vergleichsweise erwies er sich aber tatsächlich als erwähnenswert bescheiden. Die tägliche Bierration in Klöstern betrug meistens fünf Liter pro Mönch. Für Nonnen etwas weniger. Je nach Jahreszeit
und Region kam noch Obst- oder Traubenwein dazu. Ähnliche Mengen beanspruchten französische Hofdamen, die Herren jeweils mehr. Und in Krankenhäusern wurden jedem Patienten täglich bis zu zwei Liter
Wein oder Bier verabreicht, je nach Landessitte und wirtschaftlichen Verhältnissen. Um es kurz zu machen: die gesamte Bevölkerung, auch der Nachwuchs, trank täglich Alkohol, so viel sich ein jeder
eben leisten konnte, beziehungsweise so viel er auf Grund seiner sozialen Stellung vom Arbeitgeber oder der Obrigkeit beanspruchen durfte.

Bestimmte Trinkregeln wurden dennoch eingehalten oder zumindest proklamiert. In einem Benimmbuch des 15. Jahrhunderts heißt es u. a.: „Die Zähne schlag nicht in des Bechers Rund, und schlürfe
nicht mit vollem Mund."

Wer es sich leisten konnte, bevorzugte Wein zur sozialen Distinktion. Außer in Weinbaugebieten galt er als Getränk der Wohlsituierten und Gebildeten. Der Adel und bald darauf auch Bürger ehrten sich
und ihre Gäste mit demonstrativ großen Mengen. Der Klerus stand um nichts zurück. Die breite Masse hingegen versuchte aus Verzweiflung, täglich möglichst viele Liter Bier oder gar Wein in sich hinein
zu schütten: wirtschaftliche Krisen, soziales Elend, Kriege, Pest und andere Epidemien lieferten die Anlässe. Die meisten versoffen im wahrsten Sinn des Wortes ihr letztes Hemd.

Eine andere Wahl hatten sie allerdings selten, denn in den meisten Städten war die Trinkwasserqualität ernsthaft gesundheitsgefährdend. Alkoholische Getränke wiesen eine wesentlich geringere
Keimbelastung und noch dazu einen hohen Nährstoffgehalt auf. Allerdings hielt man an diesem Argument jahrhundertelang fest, auch wenn lange schon Heißgetränke wie Kaffee, Tee und Kakao verfügbar
waren, und die Wasserqualität keineswegs mehr immer und überall so schlecht war, wie sie gemacht wurde.

„Außen Wasser, innen Wein"

Was auf die Rekordhöhen der täglichen Alkoholdosis folgte, ist nicht schwer zu erraten: es wurde zur Mäßigung aufgerufen, vor allem von der Kanzel herab. Säufer werden später in der Hölle Pech und
Schwefel trinken müssen, hieß es. „Trink aus dein Glas, meins bleibt nicht voll. Uns immer wohler werden soll!", sang man in den Wirtshäusern. Und in den Badehäusern: „Außen Wasser, innen
Wein, lasst uns alle fröhlich sein!"

Mit allen Mitteln kämpften dann Humanisten und Reformatoren, in diesem speziellen Fall mit den Katholiken Seite an Seite, gegen den „Saufteufel". Ein Jahrhunderte langes, zähes Ringen um
Nüchternheit setzte ein. „Wir predigen und schreien und predigen. Es hilft leider wenig", klagte Luther. Nicht einmal die allgegenwärtige Drohung, die Welt werde demnächst in einer Apokalypse
des Rausches versinken, zeigte Wirkung. Vor allem das Zutrinken, dieses Ritual des heidnischen Gelages, sollte nun endlich abgeschafft werden, denn dem Drängen des Zuprostenden nicht nachzukommen,
galt nach wie vor als schlimme Beleidigung, was die konsumierte Alkoholmenge drastisch in die Höhe trieb.

Die alten Trinkregeln hatten die Jahrhunderte ziemlich unbeschadet überstanden: Ein dargebotenes Getränk darf man nicht ablehnen, man darf sich nicht zurück ziehen, solange die anderen trinken, und
man muss genauso viel wie sie trinken, und sei es bis zur Bewusstlosigkeit. Dadurch erweist ein Mann sich als stark, im gegenteiligen Falle als Schwächling. Für Frauen galt das alles nicht. Ihr
Alkoholkonsum war daher meist etwas geringer. Auch wurde ihr Rausch meist kritischer be- und verurteilt.

Aber das Zutrinken, jetzt auch „Bescheidtun" genannt, war trotz aller Verordnungen und Strafandrohungen nicht auszurotten. Zu wichtig war den Männern aller Schichten dieses Kräftemessen, das
Wett- und Kampftrinken, das Duell mit dem Becher. Jeder musste mitmachen und war somit unter sozialer Kontrolle. Reagierte einer auf das Zutrinken nicht (oder nicht mehr), wurde er automatisch zum
Feind. Die Folge: soziale, gesellschaftliche, wirtschaftliche Ausgrenzung, aber durchaus auch physische Angriffe bis hin zum Totschlag. So ein munterer Umtrunk war eine ernste Sache. Nicht zuletzt,
weil es zu zahlreichen (direkten und indirekten) Todesfällen erst recht kam, wenn man mittrank. Der Zusammenhang mit dem ernsten Sinn und Hintergrund des arachischen Gelages war zwar verkehrt, aber
immer noch wirksam.

Als einer von vielen berichtet Grimmelshausen, wie beim Zutrinken häufig „der Angstschweiß ausbrach; doch es musste gesoffen sein". Und ein englischer Reisender schildert erschöpft, „dass es
einem besser ist, unter seine Feinde mit Fechten als unter seine Freunde mit Trinken zu geraten".

So war es durchaus üblich, dass so mancher Diener für seinen Herren „vor dem Trunk stehen" musste, also stellvertretend den Zutrunk, den Trinkkampf ableisten. Aber schließlich war auch viel
dabei zu gewinnen: neben Ruhm und Ehre und Kränzen auch Karrieren und Titel, Ländereien, Schlösser, Ehefrauen und Geliebte. Bis weit ins 18. Jahrhundert hielt man mancherorts an dieser Sitte fest.

Offenbar spielte dabei der unverwüstliche „In vino veritas"-Glaube eine große Rolle, der sich von den archaischen Anfängen bis heute durch die gesamte Geschichte zieht. Schon Alkaios hielt fest:
„Der Wein ist ein Spiegel für die Menschen." „Den Edeln erhebt der Wein, den Niedrigen entwürdigt er", weiß der Talmud. Ein Studentenlied bringt den Gedanken für das 17. Jahrhundert auf den
Punkt: „Wer sich scheut, ein Rausch zu han, der will nicht, dass man ihn soll kennen, und ist gewiss kein Biedermann." Und Lichtenberg, der sich 1773 die Mühe machte, 144 Ausdrücke für
Trunkenheit aufzulisten, bestätigt: „Der Wein reizt zur Wirksamkeit, die Guten im Guten und die Bösen im Bösen."

Bis heute kursiert das Zitat „Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann". Es geht auf den Text von Joachim Perinet zum Singspiel „Das Neu-Sonntagskind" von 1793 zurück,
wo es heißt: „Wer niemals einen Rausch hat g'habt, der ist ein schlechter Mann, wer seinen Durst mit Achteln labt, fang lieber gar nicht an". „Alle bösen Menschen sind Wassertrinker", wurde im
Frankreich des 19. Jahrhunderts nach einem Couplet sprichwörtlich.

Schulen der Mäßigung

Mit dieser Hartnäckigkeit rechnete im 15. und 16. Jahrhundert niemand, als man sich allerorts zuversichtlich an die neuen Verordnungen machte, die die Maßlosigkeit und das „Zwingen zum Trunk"
unter Strafe stellten. Vorsorglich wurden die Schankzeiten verkürzt und viele Trinkstuben geschlossen, um ihre Anzahl zu vermindern. Bei der Umerziehung des Volkes stieß man allerdings rasch auf
Probleme. Eines davon war, dass Klerus und Aristokratie an den alten Trinksitten festhielten und sich weigerten, nüchtern zu werden. So wurden diverse Vereine gegründet, um mit den Waffen der Moral
die feuchte Angelegenheit in den Griff zu bekommen. Zum Beispiel die „Brüderschaft der Enthaltsamkeit", in der weltliche und kirchliche Größen als Vorbilder feierlich dem „Volltrinken"
abschworen. Unter Enthaltsamkeit verstanden sie: „Frei steht es jedem, zu sich zu nehmen, was seine Natur ertragen kann." Und das ist bekanntlich nicht wenig.

So bekundete ein Adliger im Zuge dieser Bewegung schriftlich seinen heroischen Vorsatz, drei ganze Jahre lang nur mehr höchstens drei Flaschen Wein pro Tag zu trinken und · „weil vom Bier
unterweilen auch Räusche zu fallen pflegen" · zusätzlich nur mehr so viel Bier, wie zum Durstlöschen unbedingt nötig. Auch im blaublütigen „Orden der Mäßigkeit" gelobte man feierlich, sich
des „Vollsaufens" enthalten zu wollen und auch andere nicht mehr zum Trinken zu zwingen. Allerdings nur auf zwei Jahre befristet.

Aber immerhin wurde nun ein gewisser, wenn auch noch zaghafter Wille zur Nüchternheit öffentlich demonstriert. Theoretisch. Die Chroniken und Memoiren des 16. und 17. Jahrhunderts sind hingegen voll
von Schilderungen wüstester Trinkorgien. Nüchterne Tage waren die krasse Ausnahme. Besonders auf das Verbot des Zutrinkens wurde kräftig angestoßen. „Starker Trunk" und „große Gesäufte" waren weiter
die Regel. Und so wurden mancherorts kurz nach Erlassen der Verordnungen neue Leiterwagen angeschafft, um die Volltrunkenen von den Straßen einzusammeln. Und die hochwohlgeborenen Herrschaften wurden
weiter getadelt und tadelten ihrerseits Studenten und Soldaten für ihre schlimme Unmäßigkeit. Aber auch der Klerus beider Konfessionen bekam seinen Teil wegen „Voll- und Tolltrinkens" und
Raufens in diesem Zustand ab und fand seinerseits so manches an den ihm anvertrauten Gläubigen auszusetzen. So zum Beispiel, dass die Bauern nach durchzechter Nacht die Predigt verschlafen und
„wie die Säue in der Kirche schnarchen".

Getadelt wurde viel, aber getrunken nicht weniger. Das änderte sich erst im 18. Jahrhundert, allerdings nicht zum Besseren: der Branntweinkonsum nahm nun drastisch zu und erreichte im 19.
Jahrhundert gefährliche Ausmaße. Breite Teile der Bevölkerung Europas und der USA, vom sozialen Elend ohnehin geschwächt und zerrüttet, fielen der Schnaps-Epidemie, der „Branntweinpest" zum Opfer.
Zwar als „Gesöff des Pöbels" gebrandmarkt, griffen auch Bessergestellte kräftig zu, allerdings nur bei guter Qualität und meist in abgeschwächter Form modischer Mixgetränke. Die verarmten
Unterschichten tranken den billigen Fusel pur. Und zwar so viel sie auch immer davon bekommen konnten, denn Schnaps, „aqua vita", galt als Stärkungsmittel.

Rausch im Handumdrehen

Der Umgang mit Alkohol und die Sprache spiegeln die wirtschaftlichen Veränderungen wider: Schnaps kommt von schnappen, weil man ihn üblicherweise in einem Zug runterkippt: schnapp es! Der Rausch
war mit Hochprozentigem schneller, effizienter zu erlangen: im wahrsten Sinn des Wortes im Handumdrehen. Und Zeit war ja nun Geld. Die alten Trinksitten waren hier nicht mehr anwendbar. Gehalten
haben sie sich nur als gesellschaftliche Randerscheinung in Subkulturen, hier allerdings bis heute.

Trinken wurde etwas Persönliches, Privates. Die Teilnehmer des Gelages vereinzelten. Der Zwang blieb, aber er kam nun mehr von innen. „Es ist ein Brauch von alters her: Wer Sorgen hat, hat auch
Likör", heißt es gutbürgerlich bei Wilhelm Busch. Die Realität der Arbeiter war eine andere. „Betrunken für einen Penny. Sinnlos betrunken für zwei. Strohhalm gratis", lautete der Slogan in
Londoner Ginläden. Die Antwort darauf waren Mäßigungskampagnen und neue Entsagungsvereine. Der Verbrauch ging nicht zurück, sondern erklomm vielfach neue Höhen. Erst die veränderten Anforderungen der
Wirtschaft gaben den Ausschlag: die zunehmend komplexe und komplizierte Industrie verlangte nüchterne Operateure. Wer überleben wollte, musste sich danach richten.

Damit war die Zeit der großen Dauerräusche für den Großteil der Bevölkerung endgültig vorbei. Trotz Schwankungen (nach dem Zweiten Weltkrieg) brachte es das 20. Jahrhundert nie wieder annähernd auf
die enormen Mengen früherer Epochen. Eine noch gründlichere Ernüchterung erzwangen die Anforderungen des Informationszeitalters, samt Gesundheits-, Fitness- und Wellness-Streben.
Gesamtgesellschaftlich betrachtet ist hier ein sensationell vernünftiges Maß verwirklicht. Und spirituelle Bedürfnisse lassen sich schließlich auch in Meditation und Gebet befriedigen.

Freitag, 10. März 2000

Aktuell

Zwischen Ethik und Wettbewerb
Macht ist für viele Menschen ein negativ besetztes Thema - doch der Bedarf an professionell und sinnvoll eingesetzten Machtstrategien nimmt zu
Potpourri an Kuriositäten
Ein Aufenthalt in Nordkorea vermittelt politische Monotonie und surrealistischen Spaß
Das Experiment von Wörgl
Vor 75 Jahren führte der Wörgler Bürgermeister Michael Unterguggenberger eine lokale Zweitwährung ein, welche die Arbeitslosigkeit reduzieren half

1 2 3

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum