Heute startet die Landesdelegiertenkonferenz der SPD in Brandenburg/Havel, auf der die Landesliste für die Bundestagswahl beschlossen werden soll. Erwartet wird dort auch Bundeskanzler Gerhard Schröder. Mit dem SPD-Regierungschef sprach MAZ-Redakteur Benno Rougk über die Tragödie von Brieskow-Finkenheerd, die Stimmungslage der SPD wenige Wochen vor der Wahl, die Ost-West-Spaltung bei den Hartz IV-Regelsätzen sowie über die politische Zukunft von SPD-Ministerpräsident Matthias Platzeck.
Herr Bundeskanzler, wie bewerten Sie die Einschätzungen des Brandenburger CDU-Innenministers Jörg Schönbohm im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Mord an neun Säuglingen. Schönbohm hatte erklärt, "für die Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft" in Ostdeutschland sei maßgeblich "die vom SED-Regime erzwungene Proletarisierung verantwortlich". Besorgt Schönbohm das Geschäft der Linkspartei?
Schröder: Zunächst einmal wissen wir alle noch viel zu wenig über diese Tragödie, die sich da offensichtlich abgespielt hat. Jeder sollte sich mit vorschnellen Erklärungen zurückhalten und abwarten, was Polizei, Justiz und andere Experten, die den Fall untersuchen, ermitteln. Ich glaube, viele Menschen in unserem Land sind entsetzt, bestürzt und fassungslos. Wir alle fragen uns doch, wie so etwas möglich sein kann. Aber das rechtfertigt nicht, was Herr Schönbohm getan hat. Bei der Bewertung von solchen menschlichen Tragödien sollte sich die Politik, gerade in Wahlkampfzeiten, heraushalten. Und zweitens sollte sie sich vor verquasten Klischees und pseudowissenschaftlichen Theorien hüten. Herr Schönbohm hat einen pauschalen Zusammenhang hergestellt zwischen der Tragödie und dem System der früheren DDR. Ich finde das absurd und anmaßend, denn damit beleidigt Herr Schönbohm die Menschen im Osten und missachtet ihre Lebensleistung. Seine Äußerung ist nicht nachzuvollziehen. Er diffamiert statt genau zu differenzieren. Ich kann nur appellieren: Seid vorsichtig mit Verallgemeinerungen. Und erinnern wir uns immer wieder daran: Eine menschliche Gesellschaft kann es ohne Zivilcourage und sozialen Zusammenhalt nicht geben. Das heißt für mich, dass wir nicht nur Verantwortung für uns selbst haben, sondern auch für unsere Mitmenschen, für unsere Nachbarn, ja für unsere ganze Gesellschaft.