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Jahrhundertaufnahmen des Jazz

Carla Bley: "Escalator over the hill"



JCOA Records Rec. 1968 - 1971

Abstraktion mit Gefühl
von Harry Lachner

"It's again, and again, and again..." - so lauten die ersten und die letzten Worte in Carla Bleys "Escalator Over The Hill". Somit erscheint uns diese Oper nach Texten des Dichters Paul Haines als ein ewiger Zyklus, ohne Beginn, ohne Abschluß:

Ein endloses Band, verrätselt und vielschichtig wie "Finnegans Wake", jenes Buch aller Bücher, dessen "riverrun" Einstieg, Mitte und Schlußwort zugleich ist.

Die 1938 in Oakland geborene Carla Bley gilt als kreativste, originellste und humorvollste Komponistin und Arrangeurin des Jazz, die eine launige Ironie mit dem unermüdlichen Streben nach neuen orchestralen Klangfarben und Klangkombinationen vermischt. Ihre Anfänge waren noch stark von der Idee des Free-Jazz, von kollektiver Improvisation geprägt - wie man deutlich an ihrer ersten LP-Veröffentlichung "Jazz Realities" (mit Steve Lacy, Aldo Romano und Kent Carter) und in den späteren Aufnahmen mit dem "Jazz Composers Orchestra" hören kann. Aber zugleich, oder vielleicht sogar in stärkerem Maße, empfand sich Carla Bley als Komponistin - sie hatte damals zahlreiche Stücke für ihren kurzzeitigen Ehemann Paul Bley, sowie für George Russell, Jimmy Giuffre und Art Farmer geschrieben.

Doch der Kern all dessen, was sie später mit "Escalator over the Hill" oder mit ihren diversen Big Bands aufnehmen sollte, fand sich bereits im Album "A Genuine Tong Funeral" angelegt - eine Suite für den Vibraphonisten Gary Burton. Die vertrackten, an Kurt Weill - aber auch an Erik Satie - erinnernden Kompositionen erscheinen heute wie eine Vorstudie zu ihrem Großwerk.

"Escalator Over The Hill" wurde in einer gigantischen Anstrengung, einem langanhaltenden Anfall kreativen Wahnsinns und musikalischer Weltrevolte über einen Zeitraum von drei Jahren - zwischen 1968 und 1971 - hinweg aufgenommen. Dieses zweistündige, sich über 6 LP-Seiten erstreckende Konzeptalbum, besitzt einen Stellenwert für den Jazz der siebziger Jahre, der nur vergleichbar ist mit dem Rang, den das Beatles-Album "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" für die Popmusik besitzt. Die Erschütterungen waren programmatisch. Denn zum ersten Mal präsentierte sich ein Album in der vom Begriff der Authentizität verstrahlten Jazzlandschaft als reines Artefakt; als ein waghalsiges und fragiles Konzept, das zu Recht vor dem Licht der Bühne zurückschreckte und sich damit begnügte, ein Studioprodukt ohne Anspruch auf Aufführbarkeit zu bleiben.

Mit diesem Werk hat sich Jazz zum ersten Mal einen künstlichen Raum geschaffen, wies eine Musik erstmals über sämtliche bis dato gepflegten Bedingungen und Ideologien, Restriktionen und Mißverständnisse hinaus. Musikalisch war " Escalator Over The Hill", das seine endgültige Gestalt erst am Schneidetisch erhielt, ein Monstrum an Kreativität: ein Schnitt durch die Welt sämtlicher Spielarten der Musik zu einer Zeit, als der Begriff Polystilistik noch nicht inflationär grassiert, als man noch nicht von Stilpluralismus oder postmoderner Ironie daherfabulierte. In diesem musikalischen Fiebertraum, der nicht mehr den alten Gesetzmäßigkeiten von Komposition und Improvisation zu folgen wagte, der sich um den Genre-Begriff so wenig scherte wie um die Gesetze des Marktes, trafen Rock-Elemente mit Vaudeville-Anflügen zusammen, rieb sich klassische indische Musik an den am Jazz reflektierten und gebrochenen Klangvorstellungen der zeitgenössischen Musik und verschmolz Beatnik-Attitüde mit amerikanischen Alltags-Surrealismen.

Allein die Liste der beteiligten Musiker zeigt, was Carla Bley hier an Stilrichtungen versammelt hat: neben den Jazzmusikern Roswell Rudd, Gato Barbieri, Charlie Haden, Don Cherry, Enrico Rava, Jimmy Knepper, Jimmy Lyons, Paul Motian,  Howard Johnson, Sheila Jordan, Bob Stewart, Jeanne Lee, John McLaughlin finden sich Don Preston (ehemals Keyboarder bei Frank Zappas "Mothers Of Invention"), der Bassist der Rockgruppe Cream Jack Bruce, die Warhol-Schauspielerin Viva, die Country-Sängerin Linda Ronstadt - und viele andere mehr. Carla Bley gelang mit den raffinierten Arrangements, diese unterschiedlichsten Stilmomente zu bündeln, kontrastiv gegeneinander zu setzen und teilweise auch zu synthetisieren. Man hatte in jener Zeit bereits damit begonnen, Mischformen quer durch alle Stile und Genres zu suchen.

Doch Carla Bley war klug genug, hier nichts zu verwässern oder zu relativieren; und so ließ sie Dinge nebeneinander stehen, die ihre Spannung erst aus der Konfrontation mit anderen heraus erhielten, aus Kontrasten, harschen Brüchen und unerwarteten Ausschreitungen gegen den klassischen Jazz-Kanon. Beispielsweise setzte sie programmatisch eine "akustische" gegen eine "elektrische" Band - ein ironischer Reflex auf Ornette Colemans "Free Jazz"-Konzept, bei dem zwei Quartette mit- und gegeneinander spielten. Bei " Escalator Over The Hill" gestaltet Bley daraus ein subtil ironisches Spiel mit Einmischungen, Ein- und Widersprüchen, gezielten Abirrungen. Sie läßt die Erwartung nicht ins Leere laufen - sie übertrumpft sie auf immer absurdere und unerwartete Weise. Das gipftelt schließlich in der Weigerung, sich den Gesetzmäßigkeiten jeglicher Genres zu unterwerfen: erlaubt ist alles, was das Denken und die Emphase befeuert.

Carla Bley löst souverän den  alten Antagonismus von Emotionalität und Form auf, indem sie das Sinnliche intellektuell überhöht und die Abstraktion mit einer großen Portion Gefühl anreichert.

Text: Harry Lachner

Carla Bley:
Escalator Over The Hill
JCOA Records
Rec. 1968 - 1971





Update: 14/03/07 | Zum Seitenanfang |