Die Drachenfedern

Als das von ihm und Olga Dugina illustrierte Buch im Jahre 1993 erschien, verfasste Andrej Dugin folgenden Brief:

Liebe Freunde!

Ich werde versuchen, meine Absichten im Hinblick auf unser Buch „Die Drachenfedern“ in diesem Brief zu erläutern.
Es sollte ein Buch über einen Teufelskreis und über Verwandlungen werden. Ein Held ist (als ein Held) in dem Augenblick gestorben, in dem er sein Ziel erreichte und Schwiegersohn und Erbe des Gastwirts wurde. Ich vermute, er wird auch eine Tochter haben und die Geschichte wird sich wiederholen, das heißt er wird von einem Helden in einen Antihelden verwandelt. Und er wird seinen Willen einem weiteren armen Bräutigam aufzwingen, um es ihm zu ermöglichen, ein brandneuer Held zu werden und so weiter.
Das Buch wurde als ein Aufstieg und ein Abstieg konstruiert, als eine Annäherung an die Oberfläche des Spiegels und dessen Durchdringung und als Aufbruch von seiner Oberfläche zu den Tiefen der Reflexion. In dieser Situation ist der Fluß im Bild eine Grenze zwischen dieser und einer anderen Welt. Er ist ungefähr so etwas wie der Nil für die alten Ägypter oder die Lethe für die alten Griechen. Er ist Leben und Tod und Zeit und so weiter. Er ist eine Schlange. Ausgehend von diesem Kontext kann man annehmen, daß der Fährmann kein gewöhnlicher ist, sondern dass er ein Alltagsheld ist, der den unsichtbaren Drachen überwältigt. Und die Heldentat auf der alltäglichen Ebene wird eine sehr aufreibende Sache und artet in eine unerträgliche Routine aus. Er will ein gewöhnlicher Mann sein, nicht mehr der Held.
Es gibt einige Bezüge etwa zum Christentum oder zum Heidentum. Man betrachte das erste Bild. Es zeigt wie die Wetterfahne der Kirche einen Hahn, der an den Verrat im Neuen Testament erinnert. In unserem Buch wird die Frau des Drachen den Drachen dreimal betrügen. Es ist ein echter Hahn, der auf dem Tor sitzt. Dieser ist viel zufriedener mit seinem Sexualleben, im Gegensatz zu dem armen Holzfäller. Es ist ein gebratenes Stück des Hahns (auf dem Wirtshausschild) – das übliche Ende, das die Mehrheit der Hähne erwartet und so weiter und so fort.
Ihr seht das Einhorn als eine gewöhnliche Kreatur wie die Hühner im Hof des Gasthauses. Es erinnert etwas an die Silhouette der Kirche, und wie wir wissen kann nur eine Jungfrau die unruhige Bestie zähmen und besänftigen. Es ist anzunehmen, daß die Tochter des Gastwirts auch eine Jungfrau ist. Ich denke, ihr könnt hier deutlich eine Spur Freud erkennen.
Ihr seht das Schwein, das in Verbindung mit der Situation und ohne Text ein wenig mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn assoziiert werden kann. Das Schwein an sich ist ein Zeitanzeiger. Es ist eine moderne Zucht eines Schweins, und es läßt auf die Zeit schließen, in der die Arbeit ausgeführt wurde.
Man kann das Wasser mit Spiegelungen sehen, das im Buch eine so große Rolle spielen wird. Und man kann das Faß sehen, wahrscheinlich mit Wasser. Das Wasser ist nicht sichtbar, aber es ist da, glaubt mir.
Man sieht auch den Gnom der unterirdischen Welt. Somit wird das ganze Spektrum der Mächte, die im Buch agieren, präsentiert: die unterirdische Welt, die irdische Welt und die überirdische oder göttliche Welt.
Meine Intention war es, den Betrachter in die Lage zu versetzen, auf diese Weise das Buch zu lesen – weit jenseits der Oberfläche der Seite.
Und nichts ist starr, und man kann es lesen, wie man mag, und die Bilder, die man anschaut, interpretieren, wie es einem gefällt.
Gut. Nun also ein kurzer Überblick über die Fragen, die die Leute am häufigsten stellen.

Die Initialen der berühmten Meister. Die Initialen von Künstlern wie Dürer oder Cranach und anderen, deren Bilder uns eine große Hilfe waren, aber die ihre Werke nicht signiert haben – die Signaturen sind also erfunden –, sind unser Tribut an sie. Sie helfen uns, die Zeit und die Umwelt zu kreieren. Ihr könnt erraten, daß dieser jämmerliche alte Mann Autogramme sammelt, und einige Künstler, die auf ihrem Weg bei ihm vorbeigeschaut haben, haben dankbar ihre Initialen hinterlassen. Und so weiter und so fort. Die Autogramme selbst verstehe ich nicht nur als Signatur des Künstlers, der auf seine Schöpfung stolz war und seine eigene Welt auf diese Weise kennzeichnete, sondern als ein Stück der Landschaft oder des Porträts oder sonst etwas. Die Unterschriften sind so wirklich wie die Welt ihres Schöpfers. Sie kennzeichnen die Zeit. Sie sind die Zeichen des Vertrauens in die menschliche Kreativität. Zeichen von Selbstachtung.

Das Bild mit dem verdorrenden Baum.Es ist der Baum der Erkenntnis, der Lebensbaum, der Weltenbaum und der Baum, das Kreuz, an dem Christus gekreuzigt wurde. Die Fahnen symbolisieren drei Welten: die niederste (die Schlange), die mittlere (das Eichhörnchen), die oberste (der Adler).

Das Bild mit dem Fluß. Die Gestalt, die an einen Engel erinnert, ist ein Geist der Küstenweiden. Er ist ein Musikinstrument des Windes, und er ist eine Kreatur, die mit Hilfe der Flügel selbst Wind machen kann. Die Buchstaben auf dem Laubwerk und in der Luft sind ein Überbleibsel des Originaltextes, der fehlt, weil es ein Text des Unterbewussten ist und er daher für die Augen nicht sichtbar ist. Und die Buchstaben können interpretiert werden als eine Widerspiegelung der Bemühungen mancher Leute, alles in ihren Büchern zu erklären.

Der Drache. Drachen sind, nüchtern betrachtet, sehr gescheit. Im Mittelalter mußte man Mönch oder Alchemist sein, um von seiner Klugheit Gebrauch machen zu können. Mönche verabscheuten den Drachen wegen seiner Erscheinung und seiner bösen Neigungen, aber die Alchemisten akzeptierten ihn sehr gerne, nicht zuletzt weil er die vier Elemente, aus denen die Welt besteht, in sich vereinte: Wasser (der Schwanz einer Schlange), Erde (die Beine eines Pferdes und einer Ziege), Luft (die Flügel) und Feuer (der feurige Atem). Der Drache lebt mit seiner blassen Frau in einem Schloß à la Escher, das mit Symbolen von Metallen oder von Alchemie, Symbolen von Planeten und Symbolen der Elemente verziert ist, Symbole, wie man sie zu jener Zeit zeichnete.

Das Buch hätte nicht entstehen können ohne die Hilfe der Herren Dürer, Cranach, Baldung, Lucas van Leiden, Bruegel, Bosch, Escher, Dalí, Chirico und vielen, vielen anderen. Wir benutzten Fotos sowie Zeichnungen nach der Natur.

Als wir das Buch entwarfen, dachten wir viel mehr an den unsichtbaren Teil als an den sichtbaren. Folglich haben wir versucht, der Fantasie soviel Raum wie möglich zu geben. In diesem Sinn ist es ein unsichtbares Buch.

Herzliche Grüße

Andrej Dugin



 
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Die Drachenfedern

„Ein unsichtbares Buch“