Michael Heinrich

Krise der Arbeitsgesellschaft – Krise des Kapitalismus?

in: Andreas Exner u.a. (Hg.), Losarbeiten – Arbeitslos? Globalisierungskritik und die Krise der Arbeitsgesellschaft, Münster 2005, S.25-31.

 

Wenn wir über Krise sprechen, müssen wir uns fragen, um welche Krise geht es überhaupt? Besteht die Krise darin, dass es zu wenig Arbeitsplätze gibt? Oder dass zu wenig Geld in der Staatskasse ist? Oder dass die Profite der Unternehmen zu gering sind? Was ist mit Krise eigentlich gemeint?

 

Seit den 1980er Jahren wird über die »Krise der Arbeitsgesellschaft« geredet. Die Behauptung ist: Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus, und der anscheinend plausible Beleg dafür ist das wachsende Arbeitslosenheer. »Vollbeschäftigung« oder zumindest eine erhebliche Verminderung der Arbeitslosigkeit wird von Politikerinnen und Politikern zwar immer wieder gern versprochen, ist in absehbarer Zeit aber völlig unrealistisch.

 

Andererseits scheint der »Arbeitsgesellschaft« die Arbeit nicht wirklich auszugehen. Deutschland hat durch den Schock der PISA-Studie erfahren, wie schlecht sein Bildungssystem ist: Es fehlt an Lehrenden und auch deren Ausbildung könnte besser sein. Ähnliches findet man im Gesundheitswesen: In Krankenhäusern fehlen Ärztinnen und Pflegepersonal. Und dass es um die Kinderbetreuung nicht besonders gut bestellt ist, ist auch kein Geheimnis. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Es fehlt offensichtlich nicht an ›Arbeit‹ sondern – in den aufgezählten, weitgehend staatlich finanzierten Bereichen – vor allem an Geld, um die Arbeitskräfte zu bezahlen.

 

Aber auch einem guten Teil der Unternehmen geht keineswegs die Arbeit aus. Es werden nicht nur massenhaft Überstunden gefahren, inzwischen gibt es in Deutschland eine breite Debatte über Arbeitszeitverlängerung: Angesichts von knapp 5 Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen (tatsächlich handelt es sich eher um 6 bis 7 Millionen) wird über die Wiedereinführung der 40 Stunden-Woche, die Kürzung des Jahresurlaubs (alles ohne Lohnausgleich versteht sich) und die Erhöhung des Rentenalters diskutiert – und dies schon immer öfter umgesetzt. Es gibt also auch hier nicht zu wenig Arbeit, sondern zu wenig Arbeitsplätze gemessen an der Zahl derjenigen, die einen Arbeitsplatz suchen. Die Arbeit sei zu teuer, heißt es, es sei einfach kein Geld für die hohen Löhne oder die Lohnnebenkosten[1] da. Aber gleichzeitig waren das Bruttoinlandsprodukt[2], das Geldvermögen wie auch das Produktivvermögen noch nie so hoch wie heute.

 

Betrachtet man diese widersprüchlichen Fakten, kann man sich nur wundern. Wie hängt das alles zusammen? Riskieren wir einen Blick in die Wirtschaftswissenschaft. An jeder Universität gibt es einen Fachbereich Wirtschaftswissenschaften mit gut bezahlten Professoren (noch seltener als in anderen Fächern: Professorinnen). Darüber hinaus finden sich auch noch eine Reihe wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute, die gegen gutes Geld regelmäßig Gutachten und Erklärungen zur aktuellen Wirtschaftslage liefern. Der dominierende theoretische Ansatz der meisten dieser Bemühungen ist die so genannte Neoklassik. Schauen wir uns also an, was diese Neoklassik zu bieten hat.

 

Das Wolkenkuckucksheim der Neoklassik

 

Die Neoklassik untersucht mit Vorliebe die Wirkungsweise von Märkten unter idealen Voraussetzungen wie »vollkommene Konkurrenz« oder »vollständige Information«. Will sie kompliziertere Zusammenhänge erfassen, wird auch häufig eine so genannte »Ein-Gut-Ökonomie« vorausgesetzt, das heißt eine Ökonomie, in der nur eine einzige Güterart, die zugleich als Produktionsmittel und als Konsumgut dient, hergestellt wird. Unter solchen idealen Voraussetzungen kann die Neoklassik dann ganz streng (das heißt unter Benutzung von viel Mathematik) beweisen, dass Märkte, sind sie nur flexibel genug und werden sie nicht reguliert, die besten überhaupt denkbaren Ergebnisse liefern: optimale Befriedigung der Konsumierenden und vor allem Vollbeschäftigung.

 

Weicht man jedoch von den idealisierten Voraussetzungen ab und betrachtet z.B. eine Ökonomie, in der nicht nur eine einzige Güterart, sondern zwei verschiedene Güterarten als Produktionsmittel benutzt werden, dann brechen all die schönen Beweise zusammen. Was die Neoklassiker allerdings nicht daran hindert, die wirtschaftspolitischen Folgerungen, die sie in ihren Wolkenkuckucksheimen gezogen haben, auf eine Wirklichkeit zu beziehen, die mit diesen Wolkenkuckucksheimen nicht das geringste zu tun hat.

 

So wird seit Jahrzehnten verkündet, gegen die Arbeitslosigkeit würden nur niedrigere Löhne und mehr Flexibilität (z.B. Einschränkung des Kündigungsschutzes) am Arbeitsmarkt helfen. Wenn dann – wie in den letzten beiden Jahrzehnten in Deutschland – trotz stagnierender oder sinkender Reallöhne und weniger Kündigungsschutz die Arbeitslosigkeit weiter steigt, wird keineswegs der eigene Ansatz kritisch überprüft. Stattdessen heißt es lediglich, dass die bisherigen Maßnahmen eben noch nicht ausreichend waren, die Löhne müssten noch niedriger, die Flexibilität noch höher sein. Vermindern die neoklassischen Rezepte auch nicht die Arbeitslosigkeit, so ist eine Beschneidung sowohl der Löhne als auch der Rechte der Beschäftigten für die Kapitalseite allemal von Vorteil.

 

Aber eigentlich kann es nach neoklassischer Lehre auch gar keine Krise im Sinne einer Überproduktion von Waren, die nicht abgesetzt werden können, geben. Gibt es dennoch Krisen – was nicht einmal Neoklassiker abstreiten können – werden ›äußere‹ Einflüsse, das heißt Kräfte jenseits des Marktes, dafür verantwortlich gemacht: Am Ende des 19. Jahrhunderts, der Geburtsstunde der Neoklassik, fielen darunter z.B. die Sonnenflecken.[3] Heute werden nicht die Sonnenflecken für die Krise verantwortlich gemacht, sondern der Staat, der zu viel regulieren, und die Gewerkschaften, die zu hohe Löhne durchsetzen würden. Allein das kapitalistische Wirtschaftssystem, das hat nach neoklassischer Auffassung mit der Krise natürlich nicht das geringste zu tun.

 

Die Marxsche Kapitalismusanalyse

 

Ganz im Gegensatz zu den Auffassungen der Neoklassik (und der klassischen politischen Ökonomie von Adam Smith und David Ricardo) steht das Bild, das Karl Marx vom Kapitalismus entworfen hat. Hier sind Krisen keine Ausnahmen, sondern ganz wesentliche Bestandteile kapitalistischer Entwicklung: kein Kapitalismus ohne Krise.

 

Während die Neoklassik Märkte ins Zentrum ihrer Betrachtung stellt, konzentriert sich Marx auf das Kapital und fragt zunächst einmal: Worum geht es bei der kapitalistischen Produktion überhaupt? Marx stellt heraus, dass der Zweck kapitalistischer Produktion nicht etwa in der Produktion von Gütern zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse besteht oder gar in der Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern einzig und allein in der Verwertung des Kapitals, das heißt in der Produktion von möglichst hohem Profit. Die Produktion von Gütern und die Beschäftigung von Arbeitskräften ist nur ein Mittel, das dem Ziel der Profitmaximierung untergeordnet ist. Wozu dient der Profit? Zwar können sich die Kapitalisten mit Hilfe des Profits ein angenehmes Leben finanzieren, aber dies ist nicht der eigentliche Zweck der Profitproduktion. Zweck der Profitproduktion ist der Profit selbst. Profit wird investiert, um einen noch höheren Profit zu erhalten.

 

Dieser selbstzweckhafte Charakter der Profitproduktion ist nun keineswegs einer Verrücktheit der Kapitalisten geschuldet, sondern dem Druck der Konkurrenz: Führen die Konkurrenten neue Maschinen ein, die zwar in der Anschaffung teuer sind, aber eine billigere Produktionsweise erlauben, dann muss man selbst ebenfalls diese neuen Maschinen einführen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Zur Einführung dieser immer teureren Maschinerie wird zusätzliches Kapital benötigt, ebenso zur Erschließung neuer Märkte, zur Entwicklung neuer Produkte etc. Jedes Unternehmen muss daher versuchen, den maximal möglichen Profit zu erzielen, damit es längerfristig in der Konkurrenz mithalten kann.

 

Diese oft gefeierte Dynamik des Kapitalismus hat allerdings eine Kehrseite. Da der einzige Zweck der Produktion der Profit ist, wird auch nur auf ihn Rücksicht genommen. Mensch und Natur sind bloße Mittel zur Profitproduktion. Sie werden im Laufe kapitalistischer Produktionsprozesse immer wieder beschädigt und zerstört.

 

Diese zerstörerische Seite wendet sich auch gegen das Kapital selbst: Um einen möglichst hohen Profit zu erreichen, sollen die Kosten gering bleiben. Das heißt: Sowohl die Löhne als auch die Zahl der Arbeitskräfte sollen möglichst niedrig bleiben. Beides schwächt die Nachfrage nach den produzierten Gütern. Und die Investitionen der Unternehmen sollen nur dahin fließen, wo in Zukunft die Profite am höchsten sein werden. Falls die Profite, die durch den Kauf von Wertpapieren erwartet werden, höher sind als Profite aufgrund des Kaufs von Produktionsmitteln, dann bleiben die Produktionsmittel eben liegen. Das heißt dann aber: Wenn heute im Konkurrenzkampf die Produktivkräfte entwickelt und die Produktion ausgedehnt wird, dann ist überhaupt nicht gesichert, dass für die Produkte morgen auch eine ausreichende Nachfrage besteht. Laufen Produktion und Konsumtion lange genug auseinander, kommt es zu einer Krise: Die Unternehmen haben zu viel produziert, schränken die Produktion ein und entlassen Arbeitskräfte, was die Nachfrage weiter vermindert, die Krise verschärft und eine größere oder kleinere Zahl von Unternehmen in den Bankrott treibt.

 

Worin besteht nun aber genau die Krise? Da Profit der einzige Zweck kapitalistischer Produktion ist, liegt eine Krise nur dann vor, wenn die Möglichkeiten, Profit zu machen, nachhaltig eingeschränkt sind. Weder die Verarmung der Menschen noch die Existenz eines Arbeitslosenheeres ist für den Kapitalismus eine Krise, denn der Zweck des Kapitals ist ja keineswegs ein gutes Leben für die Arbeiterinnen und Arbeiter oder die Schaffung von Arbeitsplätzen. Eine gewisse Arbeitslosigkeit ist für das Kapital sogar durchaus hilfreich: Aufgrund der Arbeitslosigkeit vermindern sich die Löhne und die noch Beschäftigten werden aus Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes diszipliniert. Beides verbessert die Verwertungsmöglichkeiten der Unternehmen. Auch dass in der Krise eine Reihe von Firmen bankrott gehen, ist für das kapitalistische System als Ganzes positiv. In der Regel gehen diejenigen bankrott, die bei Investitionen aufs falsche Pferd gesetzt haben, die Produkte herstellen, für die es keinen ausreichend großen Markt gibt, oder die zwar gefragte Produkte herstellen, aber mit einer veralteten Technik und zu hohen Kosten. Durch die Bankrotte wird die Überproduktion vermindert. Die übrig gebliebenen Unternehmen, die mit modernster Technik und niedrigen Löhnen produzieren, erzielen dann auch wieder steigende Profite. Um sich am Markt zu behaupten, müssen sie einen neuen Wettlauf starten, der nach einiger Zeit zur nächsten Krise führt.

 

Krisen, Arbeitslosigkeit, Verarmung und die Vernichtung von Lebenschancen gehören untrennbar zum Kapitalismus. Es sind dies Prozesse, in denen sich der Kapitalismus historisch weiterentwickelt, neue Formen der Ausbeutung und Profitproduktion hervorbringt. Bei der Krise handelt es sich also nicht um eine Funktionsstörung des Kapitalismus, sondern um einen Bestandteil seines ganz normalen Funktionierens.[4]

 

Kapitalismus im 21. Jahrhundert

 

Dass Krise und Massenarbeitslosigkeit in den entwickelten kapitalistischen Ländern immer noch als eine Art Betriebsunfall betrachtet werden, für den bisher bloß noch keine Lösung gefunden wurde, liegt an dem nachhaltigen Eindruck, den das »Wirtschaftswunder« in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht hat. Vom Anfang der 1950er bis zum Anfang der 1970er Jahre gab es in den Ländern Westeuropas und Nordamerikas ein anhaltend starkes Wirtschaftswachstum ohne größere Kriseneinbrüche. Damit verbunden waren Reallohnsteigerungen, Verkürzungen der wöchentlichen und jährlichen Arbeitszeit sowie ein Ausbau sozialstaatlicher Sicherungen. Der Kapitalismus schien in eine neue Phase ohne Krisen und Verelendungsprozesse eingetreten zu sein. Zwar gab es an den Rändern der entwickelten Länder sowie in den Ländern der so genannten Dritten Welt noch immer jede Menge Armut, doch es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis auch dort zunehmender Wohlstand und Vollbeschäftigung ankommen würden.

 

Der Wirtschaftswunderkapitalismus läutete aber keineswegs eine neue Phase kapitalistischer Entwicklung ein, er beruhte vielmehr auf spezifischen und vorübergehenden Bedingungen wie einer ›billigen‹ Methode der Produktivkraftentwicklung durch die »tayloristische« Organisation der Arbeitsprozesse sowie der schnellen Rekonstruktion des Welthandels, der vor dem Zweiten Weltkrieg weitgehend zusammengebrochen war. Diese spezifischen Bedingungen lösten sich aber mit der Zeit auf, der Wirtschaftswunderkapitalismus verlor seine Grundlagen. Die Folge war seit den 1970er Jahren eine verstärkte Internationalisierung sowohl der Produktion als auch der Finanzmärkte – Prozesse, die sich in den 1990er Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, nochmals beschleunigten und seither unter dem Etikett ›Globalisierung‹ diskutiert werden.[5]

 

Entstanden ist inzwischen ein globaler Konkurrenzkapitalismus, der zuweilen als »entfesselter« Kapitalismus charakterisiert wird. Zwar mag er im Vergleich zur Ausnahmesituation des Wirtschaftswunderkapitalismus als entfesselt erscheinen, doch handelt es sich um den jetzt auf globaler Ebene ganz normal – und das heißt: krisenhaft und zerstörerisch – funktionierenden Kapitalismus.

 

In der Krise werden alle früheren ›Errungenschaften‹, insbesondere die Systeme sozialer Sicherung, deren Kosten letzten Endes den Profit vermindern, sowie die Schutzrechte der Beschäftigten, welche die Handlungsfreiheit der Kapitalseite einschränken, in Frage gestellt. Im Moment geschieht dies nicht einfach nur durch einen Abbau des Sozialstaates, sondern durch einen grundsätzlichen Umbau: weg von staatlich organisierten Umlagesystemen wie der gesetzlichen Renten- oder Krankenversicherung, hin zu marktorientierten Versicherungs- und Fonds-Systemen wie der privaten Kranken- oder Rentenversicherung mittels Aktienfonds, deren Kosten ganz überwiegend die Beschäftigten zu tragen haben. Damit werden einerseits die Unternehmen von Kosten für die Sozialversicherungen entlastet, andererseits wird der Bereich der sozialen Sicherung zu einer profitablen Anlagesphäre von Kapital. Und schließlich wird den Beschäftigten, die sich über marktvermittelte Angebote absichern müssen, ›unternehmerisches‹ Denken aufgenötigt: Die Arbeiterinnen und Arbeiter, deren Rente von der Entwicklung eines Aktienfonds abhängt, werden erheblich mehr Verständnis für die Perspektive des Kapitals entwickeln, dass zunächst einmal der Profit stimmen muss.

 

Dieser globale Konkurrenzkapitalismus, der sich verstärkt seit den 1990er Jahren herausbildet, kann nicht mehr nur national, sondern nur noch als weltweites System betrachtet werden: sowohl hinsichtlich seiner Funktionsweise als auch seiner Auswirkungen auf Mensch und Natur. Mit dieser Feststellung soll keineswegs gesagt werden, dass die Nationalstaaten gegenüber einem globalisierten Kapital keine Rolle mehr spielen würden. Zwar haben sich die Handlungsbedingungen der Nationalstaaten, insbesondere durch die Internationalisierung der Finanzmärkte, nachhaltig geändert, doch kann keine Rede davon sein, dass sie bedeutungslos wären. Allerdings sind es, wie auch in der Vergangenheit, nur eine Handvoll Staaten, nämlich die ökonomisch und militärisch potentesten, die tatsächlichen internationalen Einfluss haben.

Diese Staaten können sehr wohl Einfluss nehmen, sowohl auf die Bedingungen, unter denen die internationalen Kapitalbewegungen ablaufen, als auch auf die Gestalt des jeweiligen nationalen Kapitalismus, die ja durchaus unterschiedliche Züge aufweist. Daher mag es zunächst nicht unplausibel erscheinen, wenn sich insbesondere die globalisierungskritischen Bewegungen auf den Staat beziehen und von ihm verlangen, dass er seine Bürgerinnen und Bürger vor den Zumutungen des globalen Konkurrenzkapitalismus schütze. Allerdings ist der Staat keineswegs so unabhängig vom Kapital, wie sich dies viele Globalisierungskritikerinnen und -kritiker wünschen. Damit ist nicht etwa gemeint, es würde übersehen, dass einzelne Politiker direkt Kapitalinteressen erfüllen, sei es nun aus ideologischer Verbundenheit, sei es unter dem Druck der zumeist neoliberalen oder konservativen Presse oder auch weil sie in der einen oder anderen Form eingekauft wurden. Abgesehen von solchen Arten der Abhängigkeit, die sehr wohl wahrgenommen werden und gegen die man dann mittels der Entfaltung öffentlichen Drucks vorzugehen versucht, gibt es aber auch eine strukturelle Abhängigkeit des Staates (nicht der einzelnen Politikerinnen und Politiker) vom Kapital, die eine zentrale Rolle spielt.

 

Die materielle Basis des Staates sind seine Steuereinnahmen, sein in der Regel größter Ausgabenposten sind die Sozialausgaben. Ganz grundlegend ist der Staat daher auf einen einigermaßen prosperierenden Kapitalismus angewiesen, denn nur dann fließen ausreichend Steuern und halten sich die Sozialausgaben in Grenzen. Insofern muss jede Regierung, ganz egal welche Vorstellungen die einzelnen Politiker und Politikerinnen haben, sich darum kümmern, dass die Kapitalakkumulation, also die Verwertung und Vermehrung von Kapital, gelingt. Daher auch die immer wiederkehrende Erfahrung, dass eine linke Partei, wenn sie nach langen Jahren der Opposition einmal an die Regierung gekommen ist, nach einer kurzen Phase alternativer Ansätze doch wieder zu einer vor allem an den Interessen des Kapitals orientierten Politik zurückkehrt und sich vielleicht noch in der Kulturpolitik von der vorherigen Regierung unterscheidet, aber nicht mehr in der Wirtschafts- und Sozialpolitik.

 

Damit soll nun nicht behauptet werden, dass es überhaupt keine relevanten politischen Unterschiede zwischen verschiedenen Regierungskonstellationen gäbe oder dass es egal sei, wer gerade die Regierung stelle. Auch die Sicherung der Kapitalakkumulation kann in durchaus unterschiedlicher Weise erfolgen. Und erst recht kann angesichts einer drohenden Machtübernahme durch rechtsextreme oder faschistische Parteien die Unterstützung des ›kleineren Übels‹ zur Überlebensnotwendigkeit werden. Allerdings wäre es eine Illusion zu glauben, der Staat könne es sich zur Aufgabe machen, seine Bürgerinnen und Bürger vor den Krisen- und Verelendungstendenzen des Kapitals zu bewahren. Solange der Kapitalismus die dominierende Produktionsweise ist, wird es Krisenprozesse geben und die staatliche Politik wird nicht darum herumkommen, die Profitabilität des Kapitals auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung sicherzustellen. Will man die Zumutungen des Kapitals, seine trotz aller Regulierung sich immer wieder durchsetzenden, destruktiven Tendenzen los werden, dann ist nicht eine andere Politik gefragt – sondern die Abschaffung des Kapitalismus.

 

 



[1] der von den Unternehmen zu zahlende Anteil an den Sozialversicherungsbeiträgen

[2] die Summe der Werte aller produzierten Güter und Dienstleistungen

[3] Es wurde vermutet, dass der Sonnenfleckenzyklus das Klima beeinflussen könnte, was die landwirtschaftlichen Erträge verändern und so auf die übrige Wirtschaft einwirken würde.

[4] vgl. als Einführung in die Marxsche Kapitalismusanalyse: Heinrich, Michael (2005): Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung. Schmetterling-Verlag, Stuttgart (3. Aufl.).

[5] vgl. zum Thema Globalisierung: Altvater, Elmar; Mahnkopf, Birgit (2004): Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster (6. Aufl.); zur historischen Entwicklung: Conert, Hansgeorg (2002): Vom Handelskapital zur Globalisierung. Entwicklung und Kritik der kapitalistischen Ökonomie. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster (2.Aufl.).