Der massenhafte Exodus der Ost- und Westpreußen, der Königsberger und Danziger, an die zwei oder drei Millionen, die den Weg über die Ostsee nach Westen suchten, um der in das Reich drängenden Roten Armee zu entgehen, er führte dazu, dass so ziemlich alles, was schiffbar war, von der Kriegsmarine eingesetzt wurde, um der Massenflucht Herr zu werden. Daher die Gustloff. Und daher ihr Schicksal. Das Lehrstück Gustloff Hätte die Katastrophe verhindert werden können, wenn das Schiff auf dieser Fahrt von regulären Kriegsschiffen begleitet und geschützt worden wäre? Der Film wirft diese Frage in seinem ersten Teil auf. Damit wird zugleich aber auch deutlich, mit welchem Zynismus das NS-Regime mit der angsterfüllten Zivilbevölkerung umging. Die Gustloff und ihre letzte Fahrt waren in meiner Familie ohne Erinnerungsverlust geblieben. Meine Mutter und Großmutter, meine Schwester und ich, in Danzig zuhause, wir sind auf der Passagierliste zu finden, die meinem Vater nach Rückkehr aus dem Krieg als Beleg dafür vorgelegt wurde, dass wir wohl in der Ostsee unser Ende gefunden hatten. Tatsächlich aber hatte meine Mutter kurzfristig den womöglich letzten Zug aus Danzig vorgezogen und die Passage verfallen lassen. Für ihn gehörten wir bis zu unserem zufälligen Wiedersehen, gute 20 Jahre später, zu denen, die an diesem Januartag 1945 in der Ostsee ertrunken waren. Und auch meines Vaters mutmaßlichen Tod hatten wir schriftlich: an der Ostfront verschollen. Kein Wunder also, dass ich die fiktive Wiedergeburt des Schiffes und die Geschichte seines Einsatzes mit großer Emotion verfolgt habe. So bereits bei der Lektüre des Buches von Günter Grass und jetzt nicht weniger entlang dieses Zweiteilers. Dabei immer begleitet von der hoffenden Erwartung, dass dieses Lehrstück Gustloff in allen seinen Bezügen erzählt wird. Wie war es möglich? Vor allem anderen ist es auch ein Beleg dafür, wohin uns dieser Zivilisationsbruch der Nazi-Ära gebracht hatte. Ohne diese erschreckende Vorgeschichte, in der die Deutschen ihr Schicksal einer verbrecherischen Clique überließen und quasi Reichskanzler Hitler rechtmäßig zur Macht verhalfen, hätte es keine Flucht, keine Vertreibung gegeben. Wie also eine Geschichte erzählen, die in ihrem Bestand so viel Eigenverantwortung an dem Grauen enthält, das die Fernsehbilder über diesen Tag kurz vor Kriegsende aufblättern. 50 Millionen Tote hat der Zweite Weltkrieg gekostet. Darunter sechs Millionen deutsche und europäische Juden. 20 Millionen Tote, die in den Weiten Russlands in Massengräbern aufgehäuft und durch das Unternehmen "Barbarossa", die deutsche Wehrmacht, die Einsatzgruppen hinter den Linien, in den Gaswagen und in Konzentrationslagern ihr Ende fanden. Was zählt da die Gustloff, ließe sich fragen. Nun, auch die beiden Folgen im ZDF führen die Fragen nach dem Warum? und nach dem Wie war es möglich? in die richtige Richtung. Nicht so wichtig vielleicht die Frage, warum erst jetzt diese Erinnerungsarbeit Konjunktur hat, erzählt von den Enkeln oder Kindern der Täter- und Opfergeneration. Vielleicht lässt es sich ja auch jetzt erst erzählen, da das Nachbeben der deutschen Katastrophe etwas geringer geworden ist. Es hat womöglich auch mit der Vereinigung der beiden Deutschländer zu tun. Da wird Geschichte erneut wichtig, zumal in der DDR eine weitere Erfahrung einer autoritären und demokratiefeindlichen Gesellschaftsordnung zu besichtigen war. Dennoch, bloß nichts vermanschen. Es gibt keinen gemeinsamen Kamm, über den die Ideologismen des letzten Jahrhunderts geschoren werden könnten. Der reale Sozialismus hinterließ in der DDR im Wesentlichen Aktenberge und darin zu findendes Denunziantentum. Hitlers Gefolgsleute hinterließen Leichenberge und Aktenberge. Kein gering zu achtender Unterschied. Dem Zweiteiler des ZDF ist ein großes, hoffentlich auch junges Publikum zu wünschen. Uwe-Karsten Heye, 67, war von 1998 bis 2002 Sprecher der Regierung des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder, anschließend deutscher Generalkonsul in NewYork. Seit 2006 ist Heye Chefredakteur der sozialdemokratischen Monatszeitung Vorwärts. 2004 veröffentlichte er seine Familiengeschichte unter dem Titel "Vom Glück nur ein Schatten".
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