Auf den Spuren der Zürcher Juden

Ein Stadtrundgang geht der Geschichte der Juden in Zürich nach. Auch im Hinblick auf ein besseres Verständnis neuer Entwicklungen. 
 

Die Exkursion vom Samstag bildete den Auftakt zur Veranstaltungsreihe von "Stattreisen". Der Verein bietet Streifzüge "durch das wirkliche Zürich" an, wie er verspricht: Rundgänge abseits von Tourismuspfaden zu Themen wie die Geschichte von Emigranten, Kriminalgeschichte oder eben Geschichte der Zürcher Juden.

AufDen.jpg (4873 Byte)Rund ein Dutzend Personen nahm teil, vorab solche christlichen Glaubens. Im vergangenen Jahr hatte "Stattreisen" aus Rücksicht auf fromme jüdische Zuhörerschaft den Rundgang auch am Mittwoch angeboten. Aber selbst eine Teilnahme am Samstag wäre mit den Sabbat-Vorschriften vereinbar, erklärte der Historiker Ralph Weingarten. Eine besondere Note erhielt die Tour durch die aktuelle Debatte über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und jene der Banken im Umgang mit Vermögen von Holocaust-Opfern. Sie fand zudem nur wenige Tage nach dem aufsehenerregenden Zürcher Auftritt von Israel Singer statt, dem Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses. Beim Rundgang selber war die Gegenwart allerdings nur am Rand ein Thema. Auch das gesellschaftliche und kulturelle Leben der heutigen jüdischen Gemeinden wurde nur gestreift.

Weingarten konzentrierte sich statt dessen auf Mittelalter und Neuzeit. Er versuchte, anhand der Geschichte einzelner Häuser im Niederdorf und an der Bahnhofstrasse Facetten jüdischen Lebens in Zürichs Vergangenheit herauszuarbeiten. Auf der zweieinhalbstündigen Tour konnte indes nur ein sehr begrenzter Ausschnitt gezeigt werden. "Das heutige Leben der jüdischen Gemeinschaft wäre natürlich ein hochinteressantes Thema", räumte der Historiker ein. Aber eine solche Exkursion sei praktisch kaum durchführbar: "Man kann nicht einfach bei einer orthodoxen Familie hineinplatzen, um zu sehen, wie sie lebt."

Der Rundgang begann an der Froschaugasse, wo im mittelalterlichen Zürich die Juden vorab wohnten, und wo sich - im Haus mit der Nummer 4 - auch die Synagoge befand. Damals schränkten zahlreiche Vorschriften das Leben der Juden ein: Sie blieben von den meisten Berufen ausgeschlossen und wurden ins Metier des Geldverleihs gezwungen. Christen war es laut päpstlichem Dekret verboten, untereinander Zins zu nehmen. Durchs Geldgeschäft gerieten die Juden aber in ein Spannungsfeld: Einerseits waren sie Stadtbewohner minderen Rechts, andererseits verkehrten sie von Berufes wegen mit der Oberschicht, wie Weingarten an der Brunngasse 8/10 erklärte. Dort zeigen Fresken aus dem späten Mittelalter Wappen des höheren Adels mit hebräischer Beschriftung.

Auf dem Rundgang kam auch die systematische Ermordung der Zürcher Juden im Februar 1349 zur Sprache. Ihnen war vorgeworfen worden, die Brunnen vergiftet und damit die Pest verbreitet zu haben. Das Massaker ist vor kurzem in Erinnerung gerufen worden durch einen noch pendenten Vorstoss von SP-Gemeinderat Dominik Schaub. Er verlangt eine Umbenennung der Rudolf-Brun-Brücke. Der damalige Bürgermeister Brun soll beim Massaker eine zentrale Rolle gespielt und später jüdisches Eigentum eingezogen haben. Schaub hat angeregt, die Brücke nach einem damaligen Opfer zu benennen, dem Rabbi Moses ben Menachem.

Als die Kirche im 15. Jahrhundert das Kreditgeschäft für Christen freigab, wurden die Juden kurzerhand aus der Stadt ausgewiesen. Während Jahrhunderten lebten keine Juden mehr in Zürich. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sie kein Recht auf Niederlassung. Erst 1862 wurden sie den anderen Bürgern gleichgestellt. Danach folgte eine schnelle Emanzipation und Integration in die Zürcher Gesellschaft. Als Beispiel führte Weingarten unter anderem die Entwicklung der Familie des Bankiers Julius Bär und den Bau der Synagoge an der Löwenstrasse 1884 an.

Weingarten ist überzeugt, dass der historische Rundgang durch die Schilderung grösserer Zusammenhänge das Verständnis der Entwicklung in diesem Jahrhundert einerseits und der aktuellen Debatte in der Schweiz andererseits fördern kann. Zudem helfe diese Auseinandersetzung mit der Geschichte der Juden mit, Vorurteile abzubauen. Das Defizit an Wissen über das Judentum gilt noch immer als eine der Ursachen der mancherorts vorhandenen, oft unausgesprochenen Vorbehalte gegenüber Juden.
 

Weitere Führungen -  Informationen bei "Stattreisen", Tel. 364 12 12.

Von Martin Huber
Quelle: Tages-Anzeiger vom 18. Mai 1998
 


 

Das Schicksal der jüdischen Kunstsammlung von Ismar Littmann Ein neuer Fall von Kunstraub wirft grundsätzliche Fragen auf

Der jüdische Rechtsanwalt Ismar Littmann aus Breslau beging 1934 Selbstmord, da er seinen Beruf nicht mehr ausüben durfte. Mit ihm ging eine bedeutende Sammlung expressionistischer Kunst unter, die unter dem Druck der Nationalsozialisten nicht nur verkauft und zerstückelt wurde, sondern auch noch unter die Räder der «Aktion Entartete Kunst» geriet. 1935 gelangte die Sammlung in den deutschen Kunsthandel. Mehrere Meisterwerke aus Littmanns Besitz hängen heute in deutschen Museen, ohne dass ihre Provenienz aufgeschlüsselt worden wäre.

Bei der Sammlung Littmann dürfte es sich um eine der grössten Expressionismus-Sammlungen überhaupt handeln. Ismar Littmann begann 1916 expressionistische Zeichnungen zu sammeln, seit 1926 auch Gemälde. Meist kaufte er direkt von den Künstlern. 1930 umfasste seine Sammlung 344 Gemälde und mehr als 5700 Graphiken. Um so erstaunlicher ist es, dass diese Sammlerpersönlichkeit in der einschlägigen Literatur bis heute keine Erwähnung gefunden hat.

Littmanns Sammlung umfasste im Bereich der Graphiken vor allem Werke von Isidor Aschheim, Ernst Barlach, Georg Ehrlich, Erich Heckel, Paul Kleinschmidt, Käthe Kollwitz, Otto Mueller, Max Pechstein, Jakob Steinhardt und Heinrich Tischler. Bei den Gemälden waren Lovis Corinth, Carl Hofer und Max Pechstein stark vertreten, ebenso die Franzosen André Derain, Robert Delaunay, Maurice Utrillo, Fernand Léger und Juan Gris. Besonderes Gepräge erhielt die Sammlung durch die Werkgruppen von jüdischen Malern sowie durch Graphiken mit jüdischen Themen.

Wie so viele jüdische Sammlungen, die unter dem Druck der nationalsozialistischen Verfolgung aufgelöst wurden, war auch diese relativ jung. Da sie während ihres Bestehens in der Fachliteratur nicht beschrieben worden war, wurde sie nicht nur in ihrem Gesamtzusammenhang vernichtet, sondern geriet völlig in Vergessenheit.

Ihr Schicksal ist eng mit der «Aktion Entartete Kunst» in Berlin verbunden. Nach dem Selbstmord Littmanns 1934 wurde ein Teil der Sammlung von den Erben im Februar 1935 in die 188. Auktion des Berliner Auktionshauses Max Perl eingeliefert. Perl musste jedoch nach der Auktion dem mittlerweile nach Texas emigrierten Sohn mitteilen, dass er «leider fast gar nichts verkauft» habe, da die Gestapo die «entarteten» Kunstwerke zwei Tage vor der Auktion beschlagnahmt hätte - und zwar insgesamt 64 Bilder von Paul Kleinschmidt, Otto Mueller, Max Pechstein, Jankel Adler und Karl Hofer. Die beschlagnahmten Werke wurden 1936 der Nationalgalerie in Berlin übergeben, die mit der Aufgabe betraut war, nur einen geringen Teil als «historisch wertvoll» auszusondern, den Rest jedoch zu verbrennen. Der damalige Direktor der Nationalgalerie, Eberhardt Hanfstaengl, wählte fünf Gemälde und zehn Zeichnungen zur Aufbewahrung aus, der Rest, darunter alle in der Auktion angebotenen Werke des jüdischen Malers Paul Kleinschmidt, wurde in der Heizung des Kronprinzenpalais in Berlin verbrannt. Aus der Sammlung Littmann wurden so mindesten zehn Gemälde von Paul Kleinschmidt, eines von Jankel Adler, eines von Jules Pascin und zwei von Max Pechstein zerstört.

Doch der Propagandaminister Josef Goebbels war mit dieser ersten Vernichtungsaktion noch lange nicht zufrieden. Vielmehr setzte er 1937 eine Kommission ein, die eine Säuberung aller öffentlichen Sammlungen von «entarteter Kunst» durchführen sollte. So wurden auch diese fünf Gemälde der Sammlung Littmann, die die «Säuberung» von 1935/36 überstanden hatten, 1937 erneut beschlagnahmt und entweder in das Schloss Schönhausen in Berlin oder auf die Ausstellung «Entartete Kunst» in München geschickt.

Doch nur ein Bruchteil der Sammlung Littmann war 1935 dem Auktionator Perl übergeben worden. Über das Schicksal der restlichen Bestände ist nichts bekannt. Da der grösste Teil der Sammlung Littmann als «entartet» galt, ist es relativ unwahrscheinlich, dass deutsche Museen diese Kunstwerke für ihre Sammlung erwarben. Was man jedoch sicher weiss, ist, dass auch die Museen selbst an der Vermarktung «entarteter» Kunst beteiligt waren, zumindest in Schlesien.

So wandte sich der Regierungspräsident von Schlesien 1939 an den Oberpräsidenten in Breslau mit der Anregung, die Gunst der Stunde zu nutzen, die durch die «Arisierung» zahlreicher jüdischer Breslauer Sammlungen entstanden war: «Die Entjudung bietet die Gelegenheit, den Kunstbesitz aus jüdischen Händen zu mässigen Preisen für öffentliche Zwecke zu erwerben und mit verhältnismässig geringen Mitteln den schlesischen Sammlungen diese Werke zu erwerben.» In Zusammenarbeit mit der Reichskulturkammer wurde daraufhin ein Konsortium von drei Museumsdirektoren gebildet, die ihre Informationen über jüdischen Kunstbesitz zugunsten ihrer Museen einsetzten. Der führende Experte war der Direktor des Schlesischen Museums in Breslau, Cornelius Müller-Hofstede, der zweite im Bunde war der Direktor der städtischen Kunstsammlungen in Breslau (Barthel). In einer ersten Übersicht wurden rund 80 «arisierte» Kunstwerke aus den Sammlungen von Carl Sachs, Else Smoshewer, Israel Kaim und Max Silberberg aufgeführt.

Weitere Werke, die von jüdischen Künstlern stammten oder wegen ihres Malstils als «entartet» galten, wurden gezielt billig angekauft und als Tauschware dem Kunsthandel angeboten. So verkaufte das Schlesische Museum ein Gemälde des Breslauer Malers Eugen Spiro («Lesendes Mädchen»), das es 1943 kostenlos aus dem beschlagnahmten Eigentum des jüdischen Sammlers Bittmann übernommen hatte, für 1500 Reichsmark einem Kunsthändler. Der Gewinn wurde für Neuerwerbungen des Museums eingesetzt. Über den dritten Museumsdirektor in diesem Konsortium (Asche) erwarb die Städtische Kunstsammlung Görlitz vier Gemälde aus der Sammlung Smoshewer, darunter ein Gemälde von Slevogt («Vorgarten»).

Das Konsortium hatte gerade jene jüdischen Sammler ausgeplündert, die sich vor 1933 als Mäzene der Stadt Breslau hervorgetan hatten. Insbesondere der Sammler Carl Sachs, der bereits 1933 in die Schweiz emigriert war und dabei einen Teil seiner Sammlung retten konnte, hatte dem Schlesischen Museum in Breslau 1931/32 über vierhundert Graphiken des 19./20. Jahrhunderts geschenkt, darunter Blätter von Emil Nolde, die später im Zuge der «Aktion Entartete Kunst» konfisziert wurden. Auch Littmann hatte dem Museum 1930/31 vier Graphiken von Otto Mueller geschenkt, die 1938 als «entartet» beschlagnahmt wurden und seither verschollen sind. Dies geht aus den Originalinventaren des Museums hervor, die sich heute nicht etwa in Breslau, sondern im Herder-Institut in Marburg befinden.

Dorthin gelangten sie mit dem privaten Nachlass des damaligen Provinzialkonservators von Schlesien. Diese für die Zeit von 1903 bis 1944 vollständig erhaltenen Inventare sind sehr aufschlussreich, da sie nicht nur die Geschenke und Enteignungen jüdischer Sammler enthalten, sondern auch Aufschluss über die im Zuge der «Aktion Entartete Kunst» beschlagnahmten Werke geben. Zwei Eintragungen vom November 1941 belegen auch, dass das Schlesische Museum in mehreren Fällen Gemälde von der berüchtigten «Dienststelle Mühlmann» erhalten hatte, die von den Nationalsozialisten in den Niederlanden eingerichtet worden war, um beschlagnahmten jüdischen Kunstbesitz neuen Besitzern zuzuführen.

Das Besondere an der Entwicklung in Breslau war die Tatsache, dass sich regionale Behörden dafür einsetzten, das Kulturgut aus jüdischem Eigentum in der Region zu erhalten, wenn auch nicht im Sinne der Eigentümer. Die Museen, die im Machtgerangel um das wertvollste beschlagnahmte Kulturgut relativ schlechte Karten hatten, glichen ihren geringen machtpolitischen Faktor durch den Informationsvorsprung aus. So konnten sie bei den Kunstsammlungen, die ihnen besonders gut bekannt waren, schnell agieren und den Wettlauf um das Kulturgut aus jüdischem Eigentum häufig für sich entscheiden. Dieser Informationsvorsprung war natürlich gerade bei den jüdischen Sammlern gegeben, die in engem Kontakt mit den Museen gestanden hatten, zum Beispiel als Mäzene oder als Mitglieder von Ankaufskommissionen und Fördervereinen.

Unter den 25 Kunstwerken aus jüdischem Eigentum, die vom Schlesischen Museum zwischen 1933 und 1945 inventarisiert worden waren, befindet sich kein Werk aus der Sammlung Littmann. Damit bleibt deren Auflösung rätselhaft. Es besteht deshalb die Möglichkeit, dass das Konsortium die meist als «entartet» geltenden Gemälde der Sammlung ins Ausland verkauft hat.

Sicher ist, dass der Rechtsanwalt Littmann durch die allgemeine Weltwirtschaftskrise 1929/ 30 in finanzielle Schwierigkeiten geraten war und deshalb selbst einige Kunstwerke veräussert hatte. Belegt ist dies für ein Selbstporträt von Lovis Corinth und die «Insulanerin» von Carl Hofer, die Littmann 1932 an die «Gesellschaft der Kunstfreunde» in Breslau verkaufte, deren Vorstandsmitglied er war. Dieser Verein, der sich durch sein Engagement für die moderne Kunst den Nationalsozialisten verdächtig gemacht hatte, wurde 1937 zwangsweise aufgelöst; der umfangreiche Sammlungsbestand wurde dem Museum übereignet. Darunter befand sich auch die «Insulanerin», die 1938, nur wenige Monate nach der Inventarisierung durch das Museum, im Zuge der «Aktion Entartete Kunst» beschlagnahmt wurde. Das Gemälde wurde auf der Ausstellung «Entartete Kunst» in München gezeigt, der weitere Verbleib ist unbekannt.

Während dieser Ausstellung in München, in der die moderne Kunst Deutschlands verhöhnt wurde, waren einige wenige Gemälde der Sammlung Littmann für kurze Zeit - sogar im selben Raum - wiedervereint. Neben der «Insulanerin» wurde ein «Sitzender weiblicher Akt auf blauem Kissen» von Hofer (1927) ausgestellt, ebenso zwei Akte von Otto Müller und ein Akt von Franz Radziwill. Im Unterschied zur «Insulanerin» gehörten die vier Akte zum Konvolut, das die Erben Littmann unter dem Druck der nationalsozialistischen Verfolgung in die Auktion bei Max Perl im Februar 1935 gegeben hatten.

Der eigentliche Skandal am vorliegenden Fall liegt darin, dass sich bisher niemand gefragt hat, woher die Kunstwerke, die 1935 bei Max Perl beschlagnahmt worden waren, eigentlich stammten. Sowohl in dem Ausstellungskatalog der Münchner Ausstellung als auch in der nachfolgenden Literatur über die «Aktion Entartete Kunst» wurde als «Eigentümer» regelmässig die Nationalgalerie Berlin erwähnt, und so entstand der Eindruck, dass von dieser Aktion ausschliesslich öffentliches Eigentum betroffen gewesen sei. Der Gedanke, dass es sich dabei auch um enteigneten jüdischen Besitz handeln könnte, kam überhaupt nicht auf.

So übernahm das Wallraff-Richartz-Museum in Köln (heute Ludwig-Museum) 1946 in aller Unschuld die Privatsammlung Haubrich, in der sich ebenfalls mindestens ein Werk aus der Sammlung Littmann befand. Der Sammler Haubrich hatte in der Zeit des Nationalsozialismus gezielt moderne Kunst über den Kunsthandel oder auf öffentlichen Auktionen erworben, die er 1946 dem Museum in Köln schenkte. Zu Recht als Retter der modernen Kunst gefeiert, übergab er mit seiner Sammlung auch einen Akt von Otto Mueller, der 1938 in der Ausstellung «Entartete Kunst» figurierte. Es handelt sich bei diesem Bild um das Gemälde «Zwei weibliche Akte, Halbfiguren» (siehe Abbildung), das nach der Ausstellung in München 1939 im Auktionshaus Fischer in Luzern angeboten wurde, jedoch nicht verkauft werden konnte. Statt dessen wurde es 1940 vom Kunsthändler Gurlitt erworben, der es 1942 Haubrich verkaufte.

Auch das Schicksal des zweiten Aktes von Otto Mueller, der in München ausgestellt wurde, ist bekannt. Das Bild «Vier Akte im Wald» wurde 1940 dem Kunsthändler Böhmer übergeben. Über den Kunsthandel wurde es 1979 von der Henri-Nannen-Stiftung erworben und befindet sich heute in der Kunsthalle Emden. In der gesamten Literatur tauchte als ehemalige Eigentümerin dieser Bilder immer die Berliner Nationalgalerie auf, bestenfalls wird auf die Auktion von 1935 verwiesen, nie jedoch auf Littmann.

Die von der «Aktion Entartete Kunst» betroffenen Museen hatten keinen Rechtsanspruch auf die Rückgabe der Bilder, da sie nicht den Status als Verfolgte des Nationalsozialismus geltend machen konnten. Hätte man in der Nachkriegszeit gewusst, dass gewisse dieser Bilder aus enteigneten jüdischen Privatsammlungen stammten, so wären in der Nachkriegszeit zweifellos Restitutionsverfahren eingeleitet worden. Doch niemand kannte die Sammlung Littmann nach 1945, und selbst die Kinder, die alle den Holocaust in der Emigration überlebten, waren hilflos. Sie konnten ohne die Inventare nicht nachweisen, welche Gemälde aus ihrer Sammlung stammten. So wurden in einem Wiedergutmachungsverfahren in Westberlin lediglich sechs Werke aus der über sechstausend Kunstwerke zählenden Sammlung entschädigt. Bis heute wurde kein Kunstwerk an die Erben restituiert.

Hinderlich bei der Recherche war bisher auch der Umstand, dass die Familie Littmann offenbar selbst bei der Auktion 1935 ihre Vermögensverhältnisse verschleiert hatte, indem sie die Kunstwerke unter verschiedenen Namen einlieferte. Man kann heute nur noch vermuten, dass die Erben ihr einziges verbliebenes Vermögen, nämlich die Kunstsammlung, zum Schein auf mehrere Eigentümer verteilten, um den verschiedenen Entziehungsmassnahmen der Finanzbehörden wie der Reichsfluchtsteuer zu entgehen. Dafür spricht auch die Tatsache, dass die Erben im selben Zeitraum zu emigrieren versuchten. Offiziell wurde die Sammlung als «Nachlass L. in B.» eingeliefert, gleichzeitig wurden von der Berliner Galerie Täubler unter dem Kürzel «J. S. in B.» weitere Objekte der Sammlung eingereicht, insgesamt mindestens 140 Gemälde und Aquarelle.

Eine gezielte Recherche nach dieser Sammlung ist seit kurzem möglich, weil im Nachlass eines der Söhne Littmanns überraschend zwei Inventare aufgetaucht sind, die zum erstenmal ein vollständiges Bild der Bestände ermöglichen. Der nach Texas emigrierte Sohn hatte offenbar mehrere hundert Zeichnungen in die USA mitnehmen können, ebenso die Inventarlisten. Die anderen Kinder Littmanns erfuhren von diesem Transfer erst nach dessen Tod, als sie zufällig auf Teile der Sammlung in einem texanischen Museum stiessen. Einen Teil der geretteten Graphiken hatte der Sohn an dieses Museum verkauft, wo sie seither - unter Angabe der Provenienz Littmann - ausgestellt sind: Das erste Inventar verzeichnet ungefähr 350 Gemälde und Aquarelle. Es handelt sich um ein Typoskript, das wohl nur in einem Exemplar hergestellt wurde. Es wurde 1930 vermutlich von dem Breslauer Kunsthistoriker Bernhard Stephan (1890-1979) angelegt. Das zweite Inventar, von Littmann selbst handschriftlich verfasst, verzeichnet über 5700 Zeichnungen und Aquarelle, die er zwischen 1916 und 1930 erwarb.

Die Geschichte der Sammlung Littmann ist nicht ohne Tragik. Nach den Restitutionsgesetzen können Kunstwerke aus jüdischem Eigentum, die zwischen 1933 und 1945 entzogen wurden und sich nach 1945 auf dem Gebiet der alten Bundesregierung befanden, nicht mehr zurückgefordert werden, da die Anmeldefristen seit Jahrzehnten verstrichen sind. Einen juristischen Weg, eventuell in Breslau verbliebene Kunstwerke von Polen zurückzufordern, gibt es ebenfalls nicht. Nur ein Verfahren nach dem Vermögensgesetz, das mit der deutschen Wiedervereinigung erlassen wurde, bietet den Erben eine geringe Chance. Das Vermögensgesetz findet aber nur dann Anwendung, wenn sich die fraglichen Kunstwerke in einem Museum der ehemaligen DDR befinden. Die Wahrscheinlichkeit, dass die als «entartet» geltenden Werke bereits vor 1945 den Weg ins Ausland gefunden haben, ist jedoch wesentlich grösser. In jedem Fall ist die These, dass von der «Aktion Entartete Kunst» ausschliesslich öffentliches Eigentum betroffen war, nun nicht mehr haltbar.

Von Anja Heuss
Quelle: NZZ Nr. 188 vom 17. August 1998



 

Im Dickicht der Stadt

Franz Kafka und sein Prag lassen sich multimedial erkunden. Ganz reizvoll

 Der Herausgeber hat so seine Zweifel. Nicht an der CD-ROM, die er gemacht hat. Aber daran, ob sich solche Unternehmungen in Zukunft noch werden verwirklichen lassen. "Deprimierend empfinde ich die Tatsache, wenn dies das vielleicht letzte Projekt in seiner Art gewesen sein sollte", schreibt Franz-Maria Sonner ins Geleitwort. Multimediale Scheiben mit kulturellem Inhalt lassen sich nur schwer verkaufen, zumindest im deutschsprachigen Raum. Sie müssen teuer sein, da sie in der Regel aufwendig produziert sind. In Ländern wie Frankreich löst eine neue Edition der Louvre-CD-ROM einen wahren Ansturm aus.

Franz-Maria Sonner ist einer der ersten gewesen, die versuchten, Multimedia auch dem scheinbar computerfernen Lesepublikum schmackhaft zu machen. "Die Weisse Rose" war einer der frühen Versuche, damals beim Münchner "Systhema"-Verlag, als der seinen Programmschwerpunkt noch nicht ins Ratgeber-Lager verschoben hatte. Dort war auch eine audiovisuelle Annäherung an Werk und Leben Thomas Manns erschienen - vielgelobt und sogar leidlich gut abgesetzt.

Mit "Stehender Sturmlauf - Kafka in Prag" gibt es nun eine weitere CD-ROM, die literarische Texte mit historischen und biographischen Elementen verbindet. War der elektronische Zugang zu Thomas Mann vor allem durch die Verwendung von Lebenszeugnissen geprägt, so wurde diesmal eine eher experimentell-künstlerische Bearbeitung gewählt. Heribert Kuhn hat Schriften Kafkas ausgesucht und zusammengestellt; sie sind geordnet nach mehreren Themenkreisen und führen nicht nur in Kafkas Haus oder an seinen Schreibtisch, sondern teilweise auch in eher abstrakte, ja skurrile Welten. Das King-Kong-Kunstkabinett hat sich von Kafka inspirieren lassen und zu den Texten Gemälde und Collagen angefertigt. Diese visuelle Mischung wird geordnet durch ein Navigationssystem, das am Strassenraster Prags orientiert ist. Mehrere Spaziergänge durch Kafkas Heimatstadt führen zu Orten, an denen sich textliche Verknüpfungen festmachen lassen.

Ein anspruchsvolles Unternehmen, das sich durch hervorragendes Design und eine kluge Nutzerführung auszeichnet. Vielleicht wurde manchmal zuviel des Guten getan bei der Bebilderung von Kafkas "Universum"; ein paar Effekte weniger hätten sicher auch gereicht. Aber schön ist's dennoch, sich, geleitet von den Videos und Tönen, durch dieses dunkle Dickicht der Stadt zu bewegen. Entstanden ist jedenfalls keine Werksammlung. Wer die Schriften des Autors der existentiellen Bedrängnis als Volltext erwartet, der wird enttäuscht. Nur eine Auswahl von Passagen ist auf der CD-ROM, die werden dafür vom Schauspieler Rufus Beck vorgetragen. Ein reizendes Stück Kultur auf elektronischem Datenträger.
 

Von Dirk Fuhrig
CD-ROM , Stehender Sturmlauf - Kafka in Prag, Win, Terzio, München 1998, 89 Franken.
Quelle: Tages-Anzeiger vom 18. August 1998


 

Jüdische Geschichte(n) im «Exil Schanghai» Zu Ulrike Ottingers bravouröser Recherche einer verlorenen Zeit  

«Kuck, da sind doch Hochhäuser. Mensch, da wirst du doch ein paar Groschen verdienen können», sagt im Berliner Tonfall die Mutter zu ihrem Sohn, dem späteren Rabbi Theodor Alexander, als das einlaufende Schiff einen ersten Blick auf die Skyline Schanghais freigibt. Es ist das Jahr 1938, und wie für viele nun staatenlose Juden aus Deutschland, Österreich und den Niederlanden bot Schanghai auch der Familie Alexander einen der letzten Zufluchtsorte. Dort existierte damals bereits eine grössere jüdische Kolonie; durch die Naziverfolgung erlebte die Stadt nun ihre dritte jüdische Einwanderung - nach einer ersten mit sephardischen Juden, die Mitte des letzten Jahrhunderts in der Hafenmetropole Handel trieben, und einer zweiten mit osteuropäischen Juden auf der Flucht vor den Pogromen zu Beginn dieses Jahrhunderts.

In Ulrike Ottingers rund vierstündiger Dokumentation «Exil Schanghai» rekonstruieren sechs Interviews ebenso viele Lebensgeschichten und vermitteln die grosse kulturelle Vielfalt dieser Stadt und das Flair der dreissiger und vierziger Jahre. Über die jüdische Gemeinschaft hinaus erhellt der Film auch das Zusammenspiel von Briten, Franzosen und weiteren Kolonialmächten, die - wenn auch oft nur durch Strassenzüge getrennt - unter eigener Verwaltung, eigenem Recht und nach eigenen Sitten in der Stadt lebten. Der ethnographische Blick, der viele Werke der deutschen Filmemacherin auszeichnet, findet auch hier konsequente Anwendung: Die ungewöhnliche Filmlänge erlaubt den Erzählenden, ihren Erinnerungen freien und fast ungeschnittenen Lauf zu lassen, sie mit der Präsentation von Familienphotos, Büchern und persönlichen Gegenständen anzureichern.

Dass die Interviewten dabei mehrfach und überschneidend von denselben Begebenheiten und Ereignissen berichten, wirkt sich nicht nachteilig aus. Im Gegenteil: In der Wiederholung ergeben sich vielerlei Schattierungen, und leicht verschobene Blickwinkel fächern Vergangenheit in Vergangenheiten auf - Tiefe entsteht, wie sie ein linearer Kommentar oder auch ein geschriebenes Geschichtswerk wohl so nicht zustande brächte. Wir erfahren von Differenzen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen, zwischen Arm und Reich, zwischen einer ebenso gebildeten wie mondänen Ober- und einer von dieser kaum wahrgenommenen Unterschicht. Auch die nationale Gesinnung herrscht in der Fremde weiter und die Multikulturalität Schanghais ist in der jüdischen Gemeinschaft nochmals potenziert. Bei aller Tragik besteht Anlass zum Schmunzeln, wenn selbst unter den misslichen Bedingungen des Ghettos, in das die japanische Besatzung ab 1942 alle aus Europa ankommenden Juden pferchte, sich die deutschen Juden über die Unpünktlichkeit der österreichischen beklagen.

Ottinger besuchte ihre Interviewpartner im zweiten, dem amerikanischen Exil, nach der Machtübernahme der Kommunisten, rundet aber ihre Recherche auch mit Aufnahmen vom eigentlichen Schauplatz ab. Dass sie dabei nicht auf (durchaus vorhandenes) Filmmaterial der Zeit zurückgreift, sondern mit der eigenen Kamera das heutige Schanghai durchforschte, erweist sich als interessanter Schachzug. Zunächst sucht sie folgerichtig Orte auf, die Spuren jüdischer und kolonialer Vergangenheit bewahrt haben: Strassen des ehemaligen Ghettos, wo heute Chinesen in ähnlich ärmlichen Verhältnissen leben, Gebäude in sinisiertem Art-déco, Wände, an denen europäische Geschäftsnamen der Verwitterung standgehalten haben, eine ehemalige Synagoge, die heute ein neonbeschrifteter Nachtklub ist, Grabplatten von jüdischen Friedhöfen, die von den kommunistischen Machthabern ausserhalb des Stadtgebiets verlegt wurden.

Noch spannender ist indes, wenn die Bilder nur sehr lose mit dem Erzählten verbunden sind, wenn etwa ausgedehnte Plansequenzen geschäftiger Strassen an frühere Geschäftigkeit erinnern, wenn eine jüdische Hochzeit mit einer chinesischen oder das Wiener Kaffeehaus mit einer Nudelsuppenküche veranschaulicht wird. Dann ergibt sich eine anregende Desorientierung, in der zeitliche und kulturelle Ebenen miteinander konkurrieren. Es sind Momente, in denen auch die Beziehung zur einheimischen Bevölkerung zum Tragen kommt. Störend wirkt nur, dass das einzige Interview mit einer chinesischen Zeitzeugin auch ausgerechnet das einzige ist, das schon nach kurzer Zeit von Musik unterdrückt und nicht weiter untertitelt wird. Doch womöglich gehört auch das zum Programm - eine ironische Weiterführung kolonialer Überheblichkeit. (Kino Commercio in Zürich)
 

Till Brockmann
Quelle: NZZ vom 21. August 1998
 


 

Von Menschen und Maschinen Batsheva Dance
Company in Hamburg

Zuweilen wird der Lärm ohrenbetäubend. Dann wälzen sich die Tänzerinnen der israelischen Batsheva Dance Company am Boden, die Leiber zucken im Gegenlicht , erstarren im Krach, als müsste, jetzt gleich, die Welt in tausend Teile zerspringen. Doch dann holen die beiden Krachmacher Peter Zegveld und Thijs van der Poll aus ihrem riesigen Instrumentenpool ein Banjo, spielen ein kleines, listiges Lied, bevor sie von neuem ein Sirren in die Luft setzen, aufdringlich und hartnäckig. Das niederländische Musikduo Orkater gibt den Ton an in Ohad Naharins neuem Stück «Sabotage Baby», mit dem am Mittwoch das 15. Internationale Sommertheater-Festival Hamburg in der Hamburgischen Staatsoper eröffnet wurde. Die vielfältigen Maschinen und Musikinstrumente der beiden Musiker füllen die Bühne und begrenzen sie zugleich - ein tönendes, metallenes Bühnenbild, das die Menschen, die da in schweren Arbeitskleidern (Kostüme Rakefet Levi) ihren mythischen Tanz vollführen, ganz klein scheinen lässt.

Zehn Produktionen aus Israel bilden anlässlich des 50. Jahrestages der israelischen Staatsgründung den thematischen Schwerpunkt des diesjährigen Sommertheater-Festivals, das bis zum 12. September in den Hallen auf dem Kampnagel-Gelände, in den Hamburger Kammerspielen und der Staatsoper 18 Gruppen aus 20 Ländern präsentiert. Zu sehen sind neben international bekannten Gruppen wie Batsheva oder dem Acco Theatre Centre auch Werke von jungen israelischen Choreographen und Theaterleuten. Die Eröffnung mit Batsheva hat durch einen Skandal anlässlich der offiziellen Feiern zur Staatsgründung im Frühjahr neue Brisanz erhalten. Naharin war auf Druck von ultrareligiösen Politikern von der Regierung aufgefordert worden, seine Tänzer in «Anaphase» lange statt kurze Unterhosen tragen zu lassen. Er willigte ein und kündigte gleichzeitig, darauf weigerten sich die Tänzer, an den Feierlichkeiten aufzutreten, und Naharin zog seine Kündigung zurück. 50 Jahre Israel fand ohne das Aushängeschild Batsheva statt. Der Streit sei beigelegt, sagte Ohad Naharin gegenüber der NZZ, das Thema indes sei in Israel noch längst nicht vom Tisch.

Und «Sabotage Baby»? Hat entgegen dem bedeutungsschwangeren Titel nichts mit Politik zu tun, sondern ist ein Fest der Sinne, eine Auseinandersetzung von Mensch und Maschine, ein Frühlingsopfer des ausgehenden Jahrtausends als Tanztheater, das nichts sein will als Tanztheater. Und doch Allusionen birgt an das Tanzschaffen des 20. Jahrhunderts. Entstanden ist es in Koproduktion mit dem Nederlands Dans Theater, und der erste Teil gleicht denn auch dem Stück «Diapason» aufs Haar, welches das NDT 1 im Oktober 1997 in Den Haag uraufführte. Die abendfüllende Fassung kam in Tel Aviv im November heraus und wurde nun erstmals ausserhalb Israels gezeigt. Da winden sich die Erdenwürmer im Dreck, da stelzen mehrere Meter hohe Federmenschen über das Land, da erzählen die beiden Orkatermänner absurde Märchen, schliesslich summt die ganze Kompanie ein Lied, tanzt in synchronen Bewegungsfolgen, dekomponiert alsdann Melodie und Synchronie, verliert sich im Chaos und findet wieder zum Gesang. Ein schöner Schluss, und Standing ovations in Hamburg für eine Kompanie, die Standfestigkeit nicht nur auf der Bühne bewiesen hat.
 

Lilo Weber
Quelle: NZZ Nr. 192 vom 21. August 1998



 

Wahre Lügen, verlogene Wahrheiten

"Für das, was man empfindet, hat man wahrscheinlich nicht die Worte", heisst es in einer der nachgelassenen Erzählungen des 1996 an Aids gestorbenen Erzählers Harold Brodkey. 
 

Vom Kampf um eine Sprache, in der das Vergangene und Vergessene gegenwärtig und leuchtend gemacht werden kann, zeugt das Werk eines der grossen Autoren der zeitgenössischen US-Literatur: Harold Brodkey. Bei seinem Versuch, das Nichtsagbare in Worte zu fassen, sah er sich vor einem Paradox: Entweder musste er schweigen, oder er musste immer neue Anläufe unternehmen, um das "eine Wort", den "einen Satz", die "eine Story" zu finden, in der die verlorene Zeit glaubwürdig beschworen und auf diese Weise aufbewahrt wird.

Brodkey schätzte es, wenn seine schriftstellerische Arbeit mit der Prousts verglichen wurde. Wie dieser hat der 1930 geborene Brodkey früh sein Talent nachgewiesen; 1958 war der Erzählband "Erste Liebe und andere Sorgen" erschienen, den die Kritik hoch lobte. Und dann hiess es wie im Falle des verehrten Meisters: arbeiten am Opus magnum. Es erschien schliesslich 1990 unter dem Titel "Runaway Soul" (Die flüchtige Seele). In dem 1350-Seiten-Roman treten die Figuren auf, die man schon aus den im Laufe der Jahrzehnte hauptsächlich im "New Yorker" veröffentlichten Stories kannte, die bei uns in zwei Bänden unter dem Titel "Nahezu klassische Stories" erschienen sind: William Silenowicz, genannt Wiley, das Alter ego Brodkeys, der als Zweijähriger bei Adoptiveltern unterkommt; S. L. und Lila, Stiefvater und -mutter, labil fürsorglich und rücksichtslos in einem; Nonie, die ältere sadistische Stiefschwester.

Mit ihnen musste das ausgesetzte, der Fremde und Fremden preisgegebene Kind leben, sie musste es "über"leben. Brodkeys Schreiben ist quasi ein Selbsterschaffungsprogramm: Wiley wird vom Erzähler mit den Mitteln der Sprache zu einem unverwechselbaren Menschen mit einer eigenen Biographie gestaltet. Der literarische Wiley kann so nicht mehr abhanden kommen, wie es einst das zweijährige verlorene Kind Brodkey befürchten musste. Doch gleichzeitig bleibt eine nicht aufhebbare Differenz, denn Wiley ist eine Erfindung, ein Kunstprodukt, dem wirklichen, von der Zeit längst verschlungenen Kind und Jugendlichen nur von fern ähnlich.

Was an Wirklichkeit gefunden wurde, ist zugleich auch erfunden, im besten Falle eine Lüge, die die Wahrheit spricht. Dieser wahren Lüge oder dieser verlogenen Wahrheit kann man nun noch einmal im Band mit nachgelassenen Stories lauschen.

Die Geschichten des Bandes, mit einer Ausnahme Wiley-Geschichten, sind wie in einen Rahmen gefasst: Am Anfang steht eine elegische Miniatur, eine "Frühlingsfuge". Mit sparsamen Strichen, ohne den erzählerischen Ehrgeiz, der ihn sonst auszeichnet, skizziert Brodkey einen New Yorker Frühling. Der erste Krokus blüht am Broadway, die erste Erkältung überfällt den Erzähler und die geliebte Frau, auf dem Fensterbrett der Wohnung strahlt mehr Licht. Helle Melancholie, kleines Glück "im felsigen, hohen New York". Hier schreibt einer, der nicht mehr schreiben muss, der alles getan hat: Abschiedsmusik.

Am Ende des Bandes steht der Auftritt des jungen, begabten Dichters, der seine Arbeit noch vor sich hat. Eine Party in New York im Jahre 1956 in einer grosszügigen Wohnung mit Blick auf die Brooklyn Bridge: Die Reichen, Schönen und Einflussreichen reden und reden, witzig, ironisch, zynisch, verzweifelt. "Gast im Universum" heisst diese Erzählung, und sie beginnt mit einer kleinen Poetologie, deren sprachlichen Zauber die Brodkey-Übersetzerin Angela Praesent ins Deutsche gerettet hat: "Welch ein seltsames Spiel von Subtraktionen und Additionen ein Leben doch ist. Ein Gedanke geht mir durch den Sinn wie eine Katze, die mir über Schultern und Nacken spaziert. Die schmalen Rippen der Katze und das feinspitzige Fell zu spüren, das mir im Vorüberstreichen das Haar zerzaust und leicht gegen meinen Schädel drückt, gleicht dem Voranrücken eines Gedankens, der dann zerfällt. Nach dem Gedanken ist es, als hocke die Katze auf meiner linken Schulter, den kleinen Kopf an meine Schläfe gedrückt, den Körper in straffer Balance gewölbt."

Zwischen diesen beiden Erzählungen streift Brodkeys Katze der Erinnerung noch einmal durch Wileys Leben, noch einmal werden wir Zeuge, wie Brodkey "in der Gegenwart des Erinnerns und aus grosser Ferne" Wiley erschafft. Den zweijährigen Wiley zum Beispiel, der in der Erzählung "Erwachen" ein auf den Tod krankes, von Erbrechen geschütteltes und mit Ausschlag bedecktes Wesen ist, das gerade bei seinen Adoptiveltern angekommen ist. Die Mutter Lila, eine leichtfertige und zugleich gutwillige Natur, zur Ungeduld neigend, badet das Kind. Um ihren Ekel zu überwinden, plappert sie dem Kind einen Singsang der Beschwichtigung vor. Wie das Kind durch die Sprachmelodie gerettet wird, wie es, das sich dem Tod schon hingegeben hat, die Mutter und sich selbst als menschliche Wesen erkennt, die sich, vielleicht, vertrauen können, das erzählt Brodkey auf betörende und erschütternde Weise, kühl und fern jeder sentimentalen Anwandlung.

Die obsessive Beschwörung des Vergangenen, die Häufung von Details, die zu einer unglaublichen atmosphärischen Dichte führt, werden vom Erzähler hier wie in den anderen Geschichten immer kommentierend und räsonierend begleitet. Es entsteht ein endloser Gang der Annäherung an das Individuum Wiley, das gleichwohl unerreichbar bleibt. Aus diesem Grunde haben Brodkeys Geschichten auch ihre Tendenz zur Unabgeschlossenheit. Es könnte immer noch mehr gesagt und geschrieben werden: Wie zum Beispiel in der Geschichte "Die Welt beherbergt Liebe und Tod", in der der vierzehnjährige Wiley morgens in einem Zimmer mit seinem kranken Vater S. L. aufwacht und sich seiner anzüglichen Reden und verdeckten sexuellen Avancen erwehren muss. Es geschieht nichts Sensationelles, und doch wohnt man einem grossen Kampf bei: Wileys Kampf ums Überleben und seinem Kampf um Erkenntnis.

Von Claus-Ulrich Bielefeld
Quelle: Tages-Anzeiger vom 18. August 1998
 



 

Zwischen Mystik und Atheismus

Was "Sofies Welt" für die Philosophie, will "Theos Reise" für die Religionen: die kindgerechte Darstellung eines Universalthemas. Im übrigen pocht Catherine Clément auf die Originalität ihres Romans.      
Mit Catherine Clément sprach Michael Meier 

Frau Clément, Sie sind Philosophin, Psychologin freudscher Richtung und ungläubig. Dennoch schreiben Sie einen Roman über die Religionen der Welt. Wie geht das zusammen?

Zwischen.jpg (6945 Byte)Das geht ganz einfach zusammen: Wäre ich gläubig, in welcher Religion auch immer, hätte ich kein Buch über alle Religionen schreiben können. Ich glaube sie mit der grösstmöglichen Gleichheit dargestellt zu haben. Jemand, der gläubig ist, mag er auch noch so tolerant sein, hätte grosse Mühe, sich allen Religionen mit dem gleichen Respekt zu nähern. Ich stelle fest, dass die grosse Mehrheit der Menschen es braucht, an einen Gott zu glauben. Das interessiert mich.

Ihre Grosseltern wurden in Auschwitz ermordet. Ist es die Schoa, die Sie am Glauben hindert?

Ich sehe nicht, wie man angesichts von Auschwitz an Gott glauben kann. Das schliesst sich aus. Hat man das erlebt, macht die Idee Gottes keinen Sinn mehr.

Die Protagonistin des Romans, Tante Martha, steht weltanschaulich am gleichen Ort wie Sie. Dabei wehren Sie sich doch gegen eine Identifikation mit den Romanfiguren à la Flaubert.

Was mir an Flaubert missfällt, ist seine Dreistigkeit zu behaupten: Ich bin die Person meines Romans, "Madame Bovary, c'est moi." Das ist nie wahr. Umgekehrt ist es aber nie falsch, dass sich ein Schriftsteller in seinen Personen wiederfindet. Ich finde mich in Martha wieder, ohne mich mit ihr zu identifizieren.

Martha nimmt ihren Antagonisten, ihren kranken Neffen Theo, mit auf therapeutische Weltreise. Lebt der Roman vom dialektischen Dialog zwischen der Skeptikerin und dem zwar rationalistischen, aber gläubigen Helden?

Richtig. Die Dialektik spielt aber auch im privilegierten verwandschaftlichen Verhältnis von Tante und Neffe mit seinem Generationenunterschied. Das Wort gläubig irritiert mich allerdings. Ich würde eher sagen: verfügbar, verfügbar für das Göttliche. Theo ist empfänglich für das Heilige. Gläubig würde heissen, einem bestimmten Glauben oder Dogma anzuhängen. Theo ist noch nicht in diesem Stadium. Darauf habe ich sehr geachtet: Am Ende des Buches weiss niemand, wie er sich entwickeln wird.

Im Prinzip verhalten sich Tante wie Neffe subversiv zu den etablierten Religionen, Martha als Atheistin, Theo als begabter Novize der Mystik. Ist das richtig?

Absolut. Die Religionen sind organisierte Gemeinschaften mit einer Doktrin und Hierarchie, mit Riten und sozialen Regeln. Die Mystik jedoch ist im allgemeinen eine Revolte gegen all das. Der Mystiker transzendiert die religiöse Ordnung. Nehmen wir historische mystische Gestalten wie Katharina von Siena: Sie tragen die Revolte in sich. Und fast alle geraten in Schwierigkeiten mit der Hierarchie. Auch Theo ist von seinem Temperament her aufständisch. Einfach schon deshalb, weil er erst 14jährig ist.

Monotheistische Religionen neigen zu Herrschaft und Gewalt. Der Synkretismus, die Religionsvermischung - in Afrika, Indien oder Brasilien - ebnet demgegenüber der Toleranz den Weg. Ist das die Botschaft Ihres Romans?

Ja. Ich finde den Synkretismus, ein universelles Phänomen übrigens, sehr nützlich, weil er ein taugliches Mittel gegen Integrismus und Fundamentalismus ist. Besonders heute. Ich sehe das in Senegal, wo ich zurzeit lebe. Der Islam und der Katholizismus sind hier durchtränkt vom animistischen Ahnenglauben. In einem Vorort von Dakar kenne ich eine Hebamme, eine äusserst gläubige Muslimin und Mekka-Pilgerin, die auch als heidnisch-animistische Priesterin wirkt. Folglich ist sie monotheistisch und polytheistisch zugleich. Wie könnte sie da noch fundamentalistisch sein?

Also sind Sie der Tradition der Aufklärung und der Religionsfreiheit verpflichtet?

Um genau zu sein: Ich stütze mich auf die Haskala, auf die jüdische Version der Aufklärung, wie sie seit dem 18. Jahrhundert in die fortschrittlichen jüdischen Gemeinden Europas Eingang gefunden hatte.

Offensichtlich interessieren Sie auch die Parallelen zwischen Psychoanalyse und Religion.

Parallelen? Nein. Die Psychoanalyse ist für mich so gut wie die Anthropologie oder die Philosophie ein Arbeitswerkzeug, um die Religionen zu beobachten. Die freudianische Position, wonach die Psychonanalyse die Religion zerstört, teile ich allerdings nicht.

Aber Theo wird doch ebenso durch mystische Trancezustände geheilt wie durch das Bewusstwerden eines Familiengeheimnisses.

Ja, schon. Er wird zwar nicht durch die Religionen, wohl aber durch mystische Trance geheilt, die jede religiöse Organisation sprengt. Trance ist ein universelles mystisches, aber kein psychoanalytisches Phänomen.

Aber das Bewusstwerden des Geheimnisses, ist das kein psychoanalytisches Phänomen?

Es ist wahr: Die persönliche Geschichte Theos habe ich nach einem klassischen psychoanalytischen Szenario konstruiert. Das ist mein Romankonzept.

Die Frage, die Ihnen alle stellen, am Schluss: Haben Sie keine Bedenken, die Idee von "Sofies Welt" zu kopieren. Das fängt schon beim Cover an . . .

. . . Diese Frage erstaunt mich schon sehr. Die müssen Sie jenen stellen, die so fragen, nicht mich. Wollen Sie mich etwa wegen des Buchdeckels unter Plagiatsverdacht stellen? Das Cover weist auf die Buchreihe hin und macht das Gemeinsame an den beiden Romane transparent: Man nimmt junge Menschen und lehrt sie etwas. Die gleiche pädagogische Idee also. Aber das ist dann auch schon alles.

Catherine Clément: Theos Reise. Roman über die Religionen der Welt. Aus dem Französischen von Uli Aumüller und Tobias Scheffel. Carl-Hanser-Verlag, München/Wien 1998. 715 S. 37.50 Fr.

Catherine Clément ist bei uns bekannt geworden mit ihren Romanen "Die Frau in der Oper", "Die Senyora", "Gandhi", "Der Heilige und die Verrückte". Von ihrer Ausbildung her ist die 1939 in Paris geborene Jüdin Philosophin und Psychologin. Mit 22 wurde sie Assistentin des Philosophen Vladimir Jankelevitsch an der Sorbonne. Während Jahren war sie Kulturredakatorin bei der Tageszeitung "Le Matin de Paris". In den achtziger Jahren amtierte sie als Direktorin im französischen Aussenministerium für den Kulturaustausch zwischen Frankreich und dem Ausland. Als Frau des französischen Konsuls lebte sie in Wien und New Delhi, derzeit in Dakar. (mm.)

Quelle: Tages-Anzeige vom 18. Mai 1998