Euromosaik-Studie
Ruthenisch (Lemkisch) in Polen
- Allgemeine Informationen
- Sprache
- Geschichte, Geografie und Demografie
- Gesetzlicher Status und offizielle Politik
- Präsenz und Gebrauch der Sprache in verschiedenen Bereichen
- Schule
- Gerichtsverhandlungen
- Behörden und sonstige offizielle Stellen
- Massenmedien und Informationstechnologie
- Kunst und Kultur
- Wirtschaft
- Familie und sozialer Gebrauch der Sprache
- Zusammenfassung
1. Allgemeine Informationen
1.1 Sprache
Russinisch/Ruthenisch (Autoglottonym: rusyn’skyj jazyk) oder Lemkisch (in
Polen übliche Bezeichnung, lemkivskyj jazyk) gehört zusammen mit der
ukrainischen, russischen und weißrussischen Sprache zur ostslawischen
Sprachgruppe. Linguistisch kann dem Ukrainischen die heute als Ruthenisch oder
Lemkisch bezeichnete Sprache als Dialekt zugewiesen werden, ethnisch-kulturell
zeichnen sich die Lemken aber durch eine besondere Eigenständigkeit aus. Die
Ruthenen Polens lebten in der Region Lemkowyna [Łemkowszczyzna], die in den
Unteren Beskiden als Teil des Beskid Sądecki Gebirges liegt. Heute leben sie
über die Woiwodschaften Dolnośląskie, Małopolska, Lubuskie, Podkarpackie und
Zachodniopomorskie verteilt.
Bei den Ruthenen handelt es sich um eine Bevölkerungsgruppe, die
hauptsächlich in der Karpato- Ukraine ansässig ist und die besonders in
gebirgigen Regionen eine eigene dialektale Variante, das Lemkische, beibehalten
hat. Ruthenisch, bzw. Lemkisch sind seit 1989 in Polen als ethnische Minderheit
durch offizielle polnische Behörden anerkannt.
1.2 Geschichte, Geografie und Demografie
Rusinen (auch: Karpato-Ukrainer, Rusniaken, Russinen, hist. Ruthenen,
rusinisch: Uhrorus'kij, ukrainisch: Rusyny, ungarisch: Magyarorosz) sind neben
Russen, Ukrainern und Weißrussen die vierte moderne ostslawische Nation, die im
Verlauf des 19. und 20. Jh.’s eine eigene Literatur und Hochsprache entwickelte.
Der Beginn der slawischen Besiedlung des nordöstlichen Karpatenraums liegt im
Frühmittelalter, etwa im späten 6. Jh. Das Gebiet der heutigen Karpato-Ukraine
bildete vom 10. Jh. bis 1919 einen Teil des historischen Königreichs Ungarn. Die
herrschaftliche Durchdringung und Besiedlung der gebirgigen Landschaften dieses
Raumes mit Ungarn, Deutschen und aus der Kiewer Rus in Kleingruppen
einwandernden Ruthenen setzte im 12. Jh. ein und erreichte im 14./15. Jh. ihren
Höhepunkt. Die Wurzeln der lemkischen Ethnogenese reichen bis ins
Spätmittelalter zurück, und hier ist auch der Ausgangspunkt einer lemkischen
Eigenentwicklung zu suchen. Seitdem das Rus-Fürstentum Halitsch-Wolynien nach
1340 von Polen absorbiert wurde, setzte eine Siedlungs- und
Kolonisationsbewegung in das westkarpathische Mittelgebirge ein, die, von
polnischen Adelsgeschlechtern initiiert, rasch eine seit dem späten 14./frühen
15. Jahrhundert einsetzende Wanderungswelle wallachischer („rumänischer“) und
ruthenischer Hirtenbevölkerung aufnahm und kanalisierte. Die Folgen dieser
Siedlungsbewegung waren weit reichend: vollzog sich in den Tälern fast
ausnahmslos eine Assimilation der polnischen Kultur und Sprache, so erhielt sich
in den abgelegeneren gebirgigen Gegenden eine wallachisch-ruthenische
Mischkultur.
Mit dem Aufkommen der nationalen Bewegungen in Ostmitteleuropa gerieten auch
die Lemken zunehmend unter den Druck, sich in nationalen Begriffen zu definieren.
Und man tat das nicht in Richtung auf eine ruthenische/ukrainische oder gar ein
polnische Nationalität, von der man sich distanzierte, sondern auf eine
russische. Das hatte zwei Gründe: zum einen waren die Lemken zu einem
erheblichen Teil orthodoxen Glaubens, zum zweiten kam es bereits 1848 zu ersten
Sympathiebekundungen gegenüber russischen Truppen, die zur Niederschlagung der
Revolution in Budapest durch das Lemkenland marschierten. Schließlich fühlte man
sich oft auch von der ukrainischen Nationalbewegung ungerechtfertigterweise
vereinnahmt und versuchte, sich von ihr abzusetzen.
Eine politisch spezifisch russinisch geprägte sowie getragene
Regionalherrschaft oder Verwaltungseinheit existierte bis 1918 nicht, nicht
zuletzt aufgrund einer fehlenden Elite. Maßgeblich für die Anfänge der
russinischen Nationalbewegung waren Adol'f Dobrjans'kyj (1817–1901) und
Oleksandr Duchnowitsch (1803–1865), die, ähnlich zeitgenössischen russinischen
Zirkeln – etwa während der Intervention zaristischer Truppen zur Niederschlagung
der Revolution 1848/1849 – auch nationalrussischen Positionen anhingen. Nach dem
2. Weltkrieg wurden die Ruthenen wie die Ukrainer in Polen in der Aktion
Weichsel deportiert. Ein Gemeinschaftsbewusstsein zwischen den verschiedenen
russinischen Siedlungslandschaften und Gemeinden existierte bis weit ins 20. Jh.
und z. T. bis in die Gegenwart nicht (vgl. Länderbericht).
Nach Zahlen der letzten Volkszählung 2002 bezeichnen sich 5.863 Einwohner als
der lemkischen Nationalität zugehörig. Schätzungen unterschiedlichster Quellen
beziffern die Lemken auf ca. 50.000 (ASSOCIATION FOR CIVIC MEDIA 2003; Handbook
on Contact Linguistics 1996).
1.3 Gesetzlicher Status und offizielle Politik
Im Artikel 35 der Verfassung gewährleistet die Republik Polen den polnischen
Staatsangehörigen, die nationalen und ethnischen Minderheiten angehören, zwar
die Freiheit der Erhaltung und der Entwicklung der eigenen Sprache, der
Erhaltung von Bräuchen und Traditionen sowie der Entwicklung der eigenen Kultur
(vgl. Länderbericht). Dennoch wurden aufgrund des
unklaren Status der lemkischen Ethnie keine besonderen Schritte unternommen,
diese zu unterstützen.
2. Präsenz und Gebrauch der Sprache in verschiedenen
Bereichen
2.1 Schule
Grundlage für den Gebrauch des Ukrainischen (darunter auch Ruthenisch/
Lemkisch) in der Schule ist das Dekret des Ministers für nationale Erziehung und
Sport von 2002 (vgl. Länderbericht). Aufgrund der späten Anerkennung existiert
eine ruthenische ‚Bildung’ erst seit wenigen Jahren. Im Schuljahr 2002/2003 gab
es 14 Primarschulen, 6 Mittelschulen und eine Sekundarschule, in denen Lemkisch
unterrichtet wurde. Ruthenische Philologie ist zudem ein Fach an der
Krakauer
Universität.
2.2 Gerichtsverhandlungen
Es können bei Unkenntnis der polnischen Sprache lemkischsprachige Dolmetscher
angefordert werden (vgl. Länderbericht).
2.3 Behörden und sonstige offizielle Stellen
Da Polnisch die offizielle Sprache ist, spielt Lemkisch keine besondere Rolle in
offiziellen Behörden – ebenso kaum auf lokaler Ebene, wenn dann nur im
inoffiziellen Umgang (vgl. Länderbericht).
2.4 Massenmedien und Informationstechnologie
Es gibt keine Tageszeitungen in lemkischer Sprache. Dennoch existieren einige
Presseerzeugnisse, die vierteljährlich erscheinen: Besida [Gespräch] mit einer
Auflage von 1.000 Exemplaren, Zahoroda und Watra. Lemkiwska Storinka ist eine
Beilage der ukrainischen Wochenzeitung Nasche Slowo. Lemkische Themen werden nur
vom polnischen
Radiosender Krakau wöchentlich gesendet. Ebenso sendet der
Krakauer Fernsehsender
ein Programm, das sich an alle anerkannten Minderheiten richtet.
2.5 Kunst und Kultur
Von 1997 bis 2002 erschienen 20 Bücher, 2002 drei Bücher und 2003 ein Buch in
lemkischer Sprache. Die Bücher kommen meistens im Bereich Schulbücher,
Kinderbücher und Novellen vor. Folgende kulturelle Ereignisse sind typisch für
die Lemken: Watra in Zdynia, Watra na Obczyźnie in Michałów, Kiermesz in
Olcowiec, Spotkanie z Łemkowszczyzną [Treffen mit dem Land der Lemken] und Od
Rusal do Jana in Zyndranowa. Das Lemkische Lagerfeuer [Łemkowska Watra] wird
einmal jährlich von den pro-ukrainischen Lemken in den Unteren Beskiden und von
den unabhängigen ruthenischen Lemken in Niederschlesien organisiert. Zudem
bestehen einige private Initiativen, die die
lemkische Kultur und
Tradition dokumentieren und stützen.
2.6 Wirtschaft
Die Lemken sind bis heute sehr rural geprägt. Gesonderte Aussagen lassen sich
nicht treffen, da die Lemken über ein größeres Gebiet verstreut leben.
2.7 Familie und sozialer Gebrauch der Sprache
5.627 Menschen geben in der Volkszählung von 2002 an, Lemkisch als
Heimsprache zu verwenden. Dies ist im Gegensatz zu den anderen Minderheiten fast
exakt die Zahl, die auch eine lemkische Nationalität angibt. Die Lemken gehören
hauptsächlich dem orthodoxen Glauben an. Der Organisationsgrad der Lemken in
Polen ist nicht besonders ausgeprägt, doch gibt es
einige private
Initiativen über das Internet im angelsächsischen Ausland, die sich Gehör
als zentrales Organ der Lemken verschaffen. In Polen ist die wichtigste
Organisation die 1989 gegründete Vereinigung der Lemken [Stowarzyszenie Łemków],
die alle Aktivitäten inkl. der Korpus- und Sprachstatusplanung koordiniert.
Weiterhin sind zwei Organisationen in polnischer und lemkischer Sprache zu
nennen: Stiftung
zur Unterstützung des Lemkischen [Fundacja Wspierania Mniejszości
Łemkowskiej] und die Einrichtung
Zjednoczenie
Łemków.
3. Zusammenfassung
Aufgrund der bereits seit dem 17. Jh. feststellbaren ökonomischen und
strukturellen Unterentwicklung und der auch seit 1989 weiterhin sehr schlechten
wirtschaftlichen und z. T. auch schwierigen politischen Situation in den
Siedlungsgebieten der Ruthenen im östlichen Europa ist auch bei ihnen eine
weitere Abwanderung in Ballungszentren oder ins westliche Ausland zu erwarten.
Damit verbunden ist auch eine verstärkte Akkulturation an die jeweilige
Staatsnation. Die längerfristige Existenz einer von der modernen ukrainischen
Nation losgelösten russinischen Nation im östlichen Europa ist nicht gesichert.
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