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10.01.2004

Eigenverantwortlich weggespart

Leitartikel der 8. ABS-Massenzeitung

von Klemens Himpele

Das Unwort des Jahres 2003 hätte eigentlich „Eigenverantwortung“ werden müssen. Selten wurde die Bedeutung eines Begriffes derart missbraucht und geradezu in sein Gegenteil verkehrt. Ursprünglich bedeutete "Eigenverantwortung" ein selbstverantwortliches Handeln, d.h. etwas zu tun, für das man auch die Verantwortung übernehmen konnte.

Heute soll alles „eigenverantwortlich“ getan werden: Man soll sich trotz fast fünf Millionen Arbeitslosen „eigenverantwortlich“ in den ersten Arbeitsmarkt integrieren, „eigenverantwortlich“ für die Rente vorsorgen und schließlich „verantwortlich“ mit staatlichen Ressourcen wie der Studienzeit umgehen. Die Crux liegt darin, dass damit (Eigen-)Verantwortung für Dinge übernommen werden soll, die man schlechterdings nicht beeinflussen kann: Weder der Arbeitsmarkt noch der Kurs der Aktien zum Tag der Verrentung kann individuell beeinflusst werden.

Dass auch die Dauer des Studiums oft von externen Faktoren wie dem Zwang zur Erwerbsarbeit oder mangelnden Seminarplätzen abhängt, wurde detailliert in der Broschüre „Gebühren für ‚Langzeit'-Studierende – Fakten zur Debatte“ des Aktionsbündnisses gegen Studiengebühren aufgezeigt. Daher könnte diese Korruption der Sprache auch getrost in die Ecke entschleierter Propaganda gestellt werden – wären nicht die fatalen Auswirkungen in der praktischen Politik. Mit der Begründung, mehr „Eigenverantwortung“ zu fordern, werden zahlreiche sozialen Absicherungen zusammengekürzt, wird ein „Arbeitslosengeld II“ kreiert, werden Gebühren für so genannte Langzeitstudierende in verschiedensten Varianten eingeführt, kurz: werden soziale Risiken privatisiert. Dabei wird auch der Gerechtigkeitsbegriff umdefiniert: ist doch heute gerecht, wenn alle einen theoretischen Zugang zu Bildungs- und Arbeitsmarkt haben.

Dass eine faktische Gerechtigkeit viel weiter gehen muss, wird ignoriert. Schließlich ist es nicht gerecht, wenn eine alte Frau einen Hundertmeter-Sprint gegen einen durchtrainierten Leichtathleten bestehen muss – obwohl beide die gleichen 100 Meter und mithin die gleichen „Startchancen“ vor sich haben.

Das zweite Schlagwort regierungsamtlichen Handelns aller Bundes- und Landesregierungen sind leere öffentliche Kassen. Hiermit wird eine Alternativlosigkeit der derzeitigen Sparpolitik begründet. Dieses rundum antidemokratische Argument der Alternativlosigkeit ist so dumm wie falsch. Deutschland ist als Volkswirtschaft so reich wie nie zuvor, nur dass sich dieser Reichtum in den Taschen immer weniger sehr reicher und nicht in der öffentlichen Hand befindet. Dazu hat die Politik der Bundesregierung und der Landesregierungen via Bundesrat erheblich beigetragen: Allein die Reform der Körperschaftssteuer hat im Jahr 2001 zu Mindereinnahmen gegenüber dem Jahr 2000 in Höhe von 24 Milliarden Euro der Staatskassen geführt – zu Gunsten der großen Industrieunternehmen.

Auch die im Dezember 2003 im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat gefundene Einigung zum Vorziehen der dritten Stufe der Einkommensteuerreform reist ein riesiges Loch in die öffentlichen Haushalte. Hiervon profitieren in erster Linie die Spitzenverdiener. So wird einE Single mit einem Jahreseinkommen von 100.000 Euro um 2442 Euro entlastet; Geld, das beispielsweise bei den Sozialleistungen wieder gekürzt werden muss. Der Erhöhung der Bezüge des Siemens-Vorstandes um 20 Prozent auf durchschnittlich 2,4 Millionen Euro im Jahr stehen über eine Million Kinder in Armut entgegen. Diese Zahlen machen deutlich: Geld ist genug vorhanden, es ist lediglich falsch verteilt.

Sowohl das „Sachzwang“- als auch das „Eigenverantwortungs“-Argument werden als Begründung zur Zusammenstreichung des Sozialstaates und zu drastischen Sparmaßnahmen im Bildungsbereich missbraucht. Damit wird deutlich, dass Arbeitslose, SozialhilfeempfängerInnen, RentnerInnen, ArbeiterInnen und Studierende Opfer derselben verfehlten Politik sind, gegen die wir uns gemeinsam wehren müssen. Schließlich können wir nicht zulassen, dass die Entlastung von Industrie und Besserverdienenden durch Einsparungen im Sozial-, Gesundheits- und Rentensystem finanziert werden.

Die Debatte um den Hochschulzugang und -verbleib wird neben der Spardiskussion durch eine Diskussion um Studiengebühren überlagert. Hierbei geht es zum einen um das Stopfen von Haushaltslöchern. Zum anderen soll jedoch der Bildungsbegriff grundsätzlich umdefiniert werden: Bildung soll als „Investition in das eigene Humankapital“ verstanden werden. Diese Investition muss sich im „return on investment“ in Form des späteren Einkommens rechnen. Damit verkommt jedoch schon die Wahl des Studienganges zu einem Investitionskalkül und nicht etwa dem Nachkommen persönlichen Neigungen. Dies wiederum führt auf der „Angebotsseite“ zwangsläufig dazu, nur nachgefragte, d.h. ökonomisch verwertbare Studiengänge anzubieten. Gesellschaftliche Zielsetzungen wie etwa Chancengleichheit können hier nicht mehr in der Hochschule implementiert werden. Schließlich sollen Studierende als „KundInnen“ über ihre Nachfrage „mit den Füßen“ über das Angebot der Hochschulen entscheiden (vgl. S. 3 dieser Zeitung), anstatt in demokratischen Gremien mitzubestimmen.

Die paritätische Besetzung der Hochschulgremien wäre jedoch ein wichtiger Schritt Richtung demokratischer Partizipation und somit ein Schritt in Richtung eines emanzipatorischen Bildungsbegriffes: Studierende sollen dann befähigt werden, aktiv an gesellschaftlichen Prozessen zu Partizipieren. Es muss uns daher gelingen, deutlich zu machen, dass Studiengebühren eben nicht gerecht sind.

Jede Art von Studiengebühren – ob „nachgelagert“ oder in Form von „Bildungsgutscheinen“ – verknüpft die Möglichkeit eines Hochschulbesuches mit der Primärverteilung des Sozialproduktes. Diese ergibt sich aus der jeweiligen Stellung der einzelnen Menschen im System der gesellschaftlichen Produktion und spiegelt folglich dessen strukturelle Ungleichheiten wieder. Die Primärverteilung des Sozialproduktes ergibt sich im Wesentlichen aus den Arbeitseinkommen sowie aus den Einkommen aus Kapital und Vermögen.

Nach den Erfahrungen aller kapitalistischen Industriegesellschaften lässt sich aber den Ungleichheitsverhältnissen und bildungsdiskriminierenden Effekten der sozialökonomischen Kernstrukturen nur durch das System der Sekundärverteilung des Sozialproduktes über Steuern und Abgaben bis zu einem gewissen Grade entgegenwirken: Nämlich indem durch dieses System Bildung ermöglicht (etwa durch ein gebührenfreies Hochschulstudium) und Bildungsbeteiligung sozial gefördert (BAföG) wird. Deswegen kann es per definitionem keine „sozialverträglichen“ oder „gerechten“ Studiengebühren geben.

Es sind viele Vorschläge zur Überwindung des „Sachzwanges“ gemacht worden: Die Wiedereinführung der Vermögenssteuer in Höhe von einem Prozent (bei einem Freibetrag von 500.000 Euro) zöge staatliche Einnahmen von jährlich 15,9 Milliarden Euro nach sich. Die Einnahmen aus der Erbschaftssteuer betragen in Deutschland gerade 0,15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, so dass eine Anhebung der Erbschaftssteuer dringend geboten ist.

Daneben muss es wieder zu einer gerechteren Verteilung der Steuern kommen, weshalb eine Rückgängigmachung der Körperschaftssteuerreform und die Anhebung des Spitzensteuersatzes nötig sind. Daneben werden Modelle stärkerer demokratischer Partizipation formuliert. All diese Schritte sind richtig und wichtig und müssen schnellsten umgesetzt werden. Dennoch können sie nur der Anfang sein auf dem Weg in eine freie und gerechte Gesellschaft.

Klemens Himpele ist Geschäftsführer des Aktionsbündnisses gegen Studiengebühren (ABS), studiert in Köln und ist Mitglied des dortigen AStA


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