RAINER DECKER

Spee und Tanner aus der Sicht eines römischen Kardinal-Inquisitors  

 

aus:  Spee-Jahrbuch 6 (1999) S. 45-52

 

In den bisherigen Veröffentlichungen zur Rezeption der Cautio Criminalis wurde ein wichtiges Dokument übersehen, die Stellungnahme des Kurienkardinals und Mitgliedes der obersten römischen Inquisitionsbehörde, Francesco Albizzi (1593-1684). Hierin kam nicht die Privatmeinung eines “fortschrittlichen” Außenseiters innerhalb einer angeblich konservativ-reaktionären Gerontokratie im Purpurgewand zum Ausdruck(1),sondern exemplarisch die Haltung an der Spitze der katholischen Kirche gegenüber der Hexenfrage im 17. Jahrhundert.

                Um dies zu belegen, soll zunächst ein anderer römischer Jurist und Zeitgenosse Albizzis zu Wort kommen: Cesare Carena (ca. 1597-1659), zwar Laie, aber als Konsultor und Ankläger jahrzehntelang Mitarbeiter des Inquisitionstribunals im norditalienischen Cremona.(2) Er verfaßte eines der meistgelesenen Handbücher für Inquisitoren, den Tractatus De S. Officio. Darin äußerte er sich zwar nicht über die Cautio Criminalis, aber über Spees großes Vorbild, Pater Adam Tanner (1572-1632). Beginnend mit der Auflage von 1655 enthält der Tractatus den Text der um 1620 erlassenen Hexenprozeßordnung der römischen Inquisition. In seinem Kommentar dazu berief sich Carena auch auf Tanner. Im einzelnen ging es um ein zentrales Problem der meisten Hexenprozesse, die Würdigung von Geständnissen über die Teilnahme der Angeklagten und angeblicher Komplizen am Hexensabbat und die Suche nach überprüfbaren Fakten, insbesondere dem Corpus delicti. Carena gab zunächst die von einem anderen Autor gemachten Erfahrungen über einen konkreten Fall wieder und schloß daran allgemeine Überlegungen an: “Eine Frau gestand fälschlicherweise, sie habe in einer Nacht ein Kind von der Brust der Mutter weggenommen und es zum Hexensabbat mitgenommen, wo es von ihr und ihren Gefährten getötet worden sei [...] Und dennoch: Die Mutter des Kindes sagte auf Befragen, niemals sei so etwas mit ihrem Kind geschehen. Da also bei einer solchen Materie mehrfach Irrtümer vorkommen können, muß, damit nicht [...] Unschuldige verurteilt werden, mit größer Klugheit und Umsicht vorgegangen werden, wozu der sehr gelehrte Herr Adam Tanner aus der niemals genug gelobten Gesellschaft Jesu in seiner Schrift über den Hl. Thomas [Quellenangabe] auf das Gleichnis bei Matthäus 13 hinweist, wo der Hausvater den Dienern, die darum bitten, das Unkraut auszureißen, entgegnet: Damit ihr nicht beim Sammeln des Unkrauts auch den Weizen mit ausreißt, laßt beides bis zur Zeit der Ernte wachsen und wenn die Zeit der Ernte gekommen ist, werde ich den Schnittern sagen: sammelt zuerst das Unkraut [...] Aufgrund dieser Stelle, sagt Tanner, wird jeder Obrigkeit eine allgemeine Regel vorgeschrieben, daß, wenn ein Verbrechen nicht bestraft und ausgerottet werden kann, ohne Unschuldige in Gefahr zu bringen [...], daß man dann eher von einer Bestrafung absehen und sie dem göttlichen Richter überlassen soll, als mit unzeitgemäßem und gefährlichem Eifer die Unschuldigen zugleich mit den Schuldigen ins Verderben zu stürzen”[3].

                Carena erfaßte hier das zentrale Anliegen Tanners, ausgedrückt in dem biblischen Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, das auch für Spee so überzeugend und plastisch war, daß der Jesuit es mehrmals unter Berufung auf seinen bayrischen Ordensbruder in seinem Buch zitierte.[4] Carena scheint aber die Cautio nicht gekannt zu haben - im Unterschied zu einem seiner Vorgesetzten in Rom: Francesco Albizzi.

                Einige kurze Erläuterungen zum institutionellen Hintergrund[5]: 1542 war von Papst Paul III. als Reaktion auf Luthers Reformation die “Sacra congregatio Romanae et universalis Inquisitionis seu Sancti Officii” oder kurz: das Heilige Offizium gegründet worden. Seit der Neuordnung der Kardinalskongregationen 1588 war das aus ca. 8-15 Mitgliedern bestehende Gremium das wichtigste Machtorgan der katholische Kirche. Die Kardinäle tagten mindestens zweimal wöchentlich. An dem Donnerstagstermin nahm nach Möglichkeit der Papst selbst den Vorsitz wahr. Einschränkend ist zu sagen, daß die gerichtlichen Befugnisse der Kongregation in Ketzer- und Hexenprozessen im wesentlichen auf Italien begrenzt waren. Nur hier, zwischen Como, Venedig und Neapel, stand ein Netz von Inquisitionstribunalen zur Verfügung (Sizilien und Sardinien waren der 1478 gegründeten spanischen Inquisition zugeordnet). Die seit dem 13. Jahrhundert auch außerhalb Italiens, besonders in Frankreich, zur Ketzerbekämpfung von den Päpsten gegründeten Inquisitionen existierten in der Neuzeit bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr. Ihre Aufgaben nahmen in katholischen Ländern bischöfliche oder staatliche Gerichte wahr, ausgenommen Portugal und Spanien, wo am Beginn der Neuzeit auf Wunsch der Könige ein Netz von straff organisierten Inquisitionstribunalen eingerichtet wurde.

                Albizzi, mehrfacher Familienvater, der nach dem Tod seiner Frau Weltpriester geworden war, amtierte seit 1635 als Assessor des Heiligen Offiziums in Rom, gewissermaßen als “Geschäftsführer”, der qua Amt auch als Nicht-Kardinal an den Geheimsitzungen des Gremiums teilnehmen durfte, ein Recht, das außer ihm nur noch dem Commissarius, dem “Chefankläger”, der traditionsgemäß von den Dominikanern gestellt wurde, zustand.[6]

                Knapp ein Jahr nach seiner Ernennung mußte Albizzi sein Amt für 15 Monate ruhen lassen, da er Kurienkardinal Marzio Ginetti 1636/37 in diplomatischer Mission nach Köln zu begleiten hatte. Bald nach seiner Rückkehr in die Ewige Stadt befaßte sich der Assessor jahrzehntelang mit einem neuen dogmatischen Problem innerhalb der katholischen Kirche, der Lehre des Bischofs von Ypern, Cornelius Jansen (1585-1638), in der sich manche Berührungspunkte mit der Prädestinationslehre des Calvinismus fanden. Albizzi wirkte wesentlich an der Ablehnung des Jansensimus unter den Päpsten Innozenz X. (1644-1655) und Alexander VII. (1655-1667) mit.[7] 1654 wurde sein Engagement mit der Verleihung des Kardinalshutes belohnt. Zugleich trat er, jetzt also nicht mehr Kommissar, als vollberechtigtes Mitglied in das Heilige Offizium ein.

                Albizzis Spee-Beziehung findet sich, ähnlich wie Carenas Tanner-Zitat, in einem Kommentar zu dem Abdruck der Hexenprozeß-Instruktion.[8] Einleitend führt Albizzi aus: “Da bei Hexenprozessen von den Inquisitoren und den zuständigen Bischöfen bei dem Nachweis des Corpus delicti gesündigt wurde, das völlig nachgewiesen werden muß, besonders wenn es um Kindestötung und Schadenzauber mit angeblich tödlichem Ausgang geht, hat die Suprema [das Heilige Offizium in Rom] zur Unterrichtung der Glaubensrichter die nachfolgende Instruktion drucken lassen und ihnen in Rundschreiben zugeleitet”[9].

                Wie bei Carena ist auch für Albizzi die Frage des Hexensabbats der Grund, warnend auf die Erfahrungen deutscher Theologen zurückzugreifen: “Daß den Hexen, die beteuern, sie hätten am Hexensabbat bestimmte Personen gesehen, nicht zu deren Nachteil geglaubt werde, da es für Illusion angesehen wird, hat die Suprema mehrmals festgelegt, besonders 1594 und 1595. Daraus ist ein Gelehrtenstreit entstanden [...].

                Daher ist immer die Praxis der weltlichen und der geistlichen Gerichte in Deutschland abgelehnt worden, wonach man eine Hexenverfolgung in Gang setzte, nur weil eine einzige Hexe bezeugte, sie habe andere beim Sabbat gesehen, und daß man sie für überführt hielt, wenn dies zwei Hexen behaupteten; gegen diese Praxis wendet sich Pater Tanner in einem dieser Sache gewidmeten Kommentar et incertus Auctor Theologus Romanus, eo quo inscribitur libro Cautio Criminalis seu de processibus contra Sagas liber ad Magistratus Germaniae hoc tempore necessarius impressus Renthelii anno 1631[10].

                Dem Kardinal-Inquisitor war also die Cautio Criminalis in der Rintelner Erstausgabe ein Begriff, und er schätzte sie in der besagten Frage für so bedeutsam ein wie Tanners Theologia moralis, obwohl ihm der Verfasser unbekannt blieb. Offensichtlich hat Albizzi über die Autorschaft nicht mit Spees altem Förderer und Vorgesetztem gesprochen, Pater Goswin Nickel, der von 1652 bis 1664 als General des Jesuitenordens in Rom wirkte.

                Aber der Kardinal kannte die Hochburg der Hexenverfolgungen, Deutschland, aus eigener Anschauung. Unmittelbar im Anschluß an das Lob für Tanner und die Cautio erzählt er: “Und als ich Kardinal Ginetti, der an die katholischen deutschen Fürsten entsandt worden war, um den Frieden zu vermitteln, begleitete, bot sich unseren Augen ein fürchterliches Schauspiel: außerhalb der Mauern mehrerer Dörfer und Städte waren unzählige Pfähle errichtet, an die gefesselt arme und überaus bedauernswerte Frauen als Hexen von den Flammen verzehrt worden waren”[11].

                Albizzi hatte diese Erfahrungen während seines fünfzehnmonatigen Deutschlandaufenthalts gemacht, der ihn 1636/37 nach Köln führte. Hervorzuheben ist, daß es sich hier nicht nur um Äußerungen persönlicher Betroffenheit handelt, sondern sein Verdikt die grundsätzlich ablehnende Haltung Roms gegenüber der in Deutschland praktizierten Lösung der Hexenfrage widerspiegelt. Zumindest seit der Mitte der 50er Jahre beließen es Papst und Kurie nicht bei dem Ausdruck des Unbehagens oder gar Abscheus, sondern sie versuchten, zunächst in Reaktion auf Mißstände, dann aktiv, Hinrichtungen von Hexen, auch und gerade außerhalb Italiens, zu unterbinden. Dies geht hauptsächlich aus den seit 1996 erstmals der Forschung zugänglichen Sitzungsprotokollen im Archiv der Glaubenskongregation hervor, wird aber auch schon in Albizzis weiteren Fallschilderungen deutlich: “Und während ich dies niederschrieb, hatte der Inquisitor von Besançon gemäß der Praxis jener Gegenden mehrere Männer und Frauen dem weltlichen Arm übergeben, deren Prozesse später von der Suprema für nichtig und ungerecht befunden wurden; deshalb wurden sie als unschuldig freigelassen und der Inquisitor wurde abgesetzt und dem neuen Inquisitor vorgeschrieben, Hexenprozesse nach der obigen Instruktion durchzuführen.”

                In der Freigrafschaft Burgund, die bis zur Annexion durch Frankreich 1674 zur spanischen Krone gehörte, war tatsächlich gegen Ende der 50er Jahre gerade der in Besançon residierende Inquisitor Pierre Symard der Scharfmacher, der zunächst in Kooperation, dann in Konkurrenz mit der staatlichen Justiz eine große Prozeßserie in Gang gesetzt hatte.[12]

                Albizzi fuhr fort: “Bei diesem Thema kann ich nur die Weisheit und Klugheit der einstigen Königin von Schweden Christine bewundern, die, nachdem sie mit einem seltenen Beispiel der lutherischen Häresie abgeschworen und zur katholischen Religion übergetreten war, lieber auf das irdische Königreich verzichten als das Himmelreich verlieren wollte. Als ich dies geschrieben hatte, hat sie öfters gesagt, sie habe, als sie noch regierte, befohlen, Hexen nicht mit dem Tode zu bestrafen, wenn es nicht wirklich feststand, daß sie Kindesmord oder andere Morde begangen hätten, denn sie war der Ansicht, daß das, was sie gestünden, aus weiblichen Affekten (ex effectibus uterinis) oder teuflischen Vorspiegelungen geschehe [...].”[13]

                Ex-Königin Christine (1626-1689), die einzige Tochter und Erbin Gustav Adolfs, die seit ihrem Rücktritt 1654 in Rom lebte, spielte hier auf ihren Erlaß für das Stift Verden in Norddeutschland an.[14] Er war unter anderem durch die deutsche Übersetzung der Cautio Criminalis, die 1647 der protestantische Miltärgeistliche Johann Seifert in Bremen veröffentlicht hatte, verursacht worden.

                Weiter Albizzi: “Ich entsinne mich auch, daß mehrere Jungen und Mädchen aus Rätien nach Mailand gebracht wurden, deren Eltern als Hexen von den Flammen verzehrt worden waren und die selbst durch Zeugenaussagen beschuldigt worden waren, an Hexensabbaten teilgenommen zu haben. Nichtsdestoweniger wurden sie freigelassen und von gelehrten Beichtvätern unterwiesen”[15]

                Diese dramatische Begebenheit, die dazu führte, daß Rom 1654/55 das Leben von fünf Jungen und zehn Mädchen aus Graubünden rettete, indem man sie der drohenden “executio bestialis” durch die weltliche Justiz entriß und der Obhut der Inquisition im sicheren Mailand anvertraute, dürfte mit zu der offiziellen Drucklegung der Hexenprozeß-Instruktion 1657 beigetragen haben.[16]

                Diese wenigen Angaben müssen hier genügen, um den Hintergrund des Lobes eines römischen Kardinal-Inquisitors für die Cautio Criminalis verständlich zu machen. Aber der aus Tirol stammende bayrische Jesuit Adam Tanner sollte von der Forschung nicht auf den zweiten Rang verwiesen werden, war er doch, wie das Zeugnis Carenas beweist, südlich der Alpen bekannter als sein Ordensbruder aus den nördlichen Gefilden Deutschlands. Auf jeden Fall bestätigt aber unsere Analyse eine zentrale Erkenntnis der gegenwärtigen Forschung. Trotz der ihr wesensgemäßen Intoleranz gegen Häretiker und des Festhaltens am Hexenglauben hat die neuzeitliche Inquisition auch positive Seiten gehabt. Ihre Einstellung zur Hexerei war klüger und ihre Direktiven für den Strafprozeß strahlten mehr Gerechtigkeit und Humanität aus als die vieler evangelischer und katholischer Obrigkeiten außerhalb Italiens.