1. Die "Burgkirche",
bis zur Reformation "St.
Wigbert"
Autor und Fotos: Hist. Verein / Hartmut Geißler
Burgkirche
mit gotischem Chor (kurz nach 1400) und romanischem Wehrturm
(kurz nach 1100) hinter der Wehrmauer, von Osten gesehen
Goethe schrieb über diese Kirche anlässlich seines Besuches von
Ober-Ingelheim am
5. September 1814:
"Zu oberst liegt ein
altes, durchaus verfallenes, weitläufiges Schloß, in dessen Bezirk
eine noch gebrauchte, aber schlecht erhaltene Kirche. Zur Revolutionszeit
meißelte man die Wappen von den Rittergräbern. Uralte Glasscheiben
brechen nach und nach selbst zusammen. Die Kirche ist protestantisch.
Ein wunderbarer Gebrauch war zu bemerken. Auf den Häuptern der
steinernen Ritterkolossen sah man bunte, leichte Kronen von Draht,
Papier und Band, turmartig zusammengeflochten. Dergleichen standen auch
auf Gesimsen, große beschriebene Papierherzen daran gehängt. Wir
erfuhren, daß es zum Andenken verstorbener unverheirateter Personen
geschehe. Diese Totengedächtnisse waren der einzige Schmuck des Gebäudes."
"Burgkirche" wird das Gotteshaus erst seit 1939/40 genannt.
Bis zur Reformation war sie dem heiligen Wigbert geweiht, dem
Schutzpatron des Klosters Bad Hersfeld, das seit Karl dem Großen
Besitzungen in Ober-Ingelheim hatte und wahrscheinlich an der Stelle der
heutigen Kirche eine erste Vorgängerkirche bauen ließ.
Nach der
Reformation diente sie - ohne
Altäre und schmucklos - als reformierte Kirche ohne Namenspatron und
hieß nur noch die
(evangelische) "Kirche", weshalb die vom Markt zu ihr
führende Straße einfach "Kirchgasse" hieß. Umbenannt wurde
die Straße 1947, als man das doppelte Vorkommen von Straßennamen nach der
Zusammenlegung der Ingelheimer Orte 1939 beendete.
Texttafel
1 des Historischen Rundganges in Ober-Ingelheim zur Burgkirche:
"Die evangelische Burgkirche, ehemals St. Wigbert, hat eine mehrere
Jahrhunderte währende Baugeschichte. Der romanische Kirchturm vom
Beginn des 12. Jahrhunderts mit seinem gotischen Zinnenkranz und
dem Erkertürmchen überragt den dreischiffigen spätgotischen
Kirchenbau. Dessen unterschiedliche Dachhöhen zeigen auch nach außen
die verschiedenen Bauabschnitte der ersten Hälfte des 15.
Jahrhunderts. Die wehrhafte Westfront mit dem großen Maßwerkfenster
wurde nach 1462 (Rohbaufertigstellung) vollendet.
Im Innern finden sich im hohen Chor noch viele Elemente der
Ausstattung aus vorreformatorischer Zeit. Ein gut erhaltenes,
farbenprächtiges Marienfenster zeigt u.a. die weihnachtliche
Anbetung der Könige. Die spätgotischen Rippen- und Netzgewölbe
sind mit prachtvollen Schlusssteinen und Pflanzenornamenten in
einer reichen Zwickelmalerei geschmückt. Viele Grabmäler
berichten noch immer vom Wohlstand, Einfluss und Selbstbewusstsein
der ehemaligen örtlichen Adelsfamilien.
Aus dem 18. Jahrhundert
stammt der reichgeschnitzte Prospekt einer Stumm-Orgel.
Die Burgkirche, inmitten eines geschlossenen Rings von Türmen und
Mauern, ist die am besten erhaltene Wehrkirchenanlage im süd- und
südwestdeutschen Raum."
Anzumerken ist hierzu, dass es keine Wehrkirche im eigentliche Sinne ist,
zusammen mit den Wehrmauern kann man sie zwar als
"Kirchenburg" bezeichnen, wie es sie im fränkischen
Raum mehrfach gab. Ihre Schiffe selbst waren aber nicht zur Verteidigung geeignet, allenfalls
der Turm (s. u.), der als festes Archiv diente. Zur Verlängerung des
Chores wurde sogar Anfangs des 15. Jahrhunderts die Wehrmauer dahinter
auf die halbe Dicke verdünnt, um
noch ausreichend Platz rings um den Chor zu gewinnen. Die Verteidigungsfähigkeit
durch die Wehrmauer wurde zu dieser Zeit offenbar als sekundär eingestuft.
Das scheinbar wehrhafte
Aussehen, vor allem der Westfront, entsprang wohl eher einer Baumode des 15. Jahrhunderts
und findet sein Pendant in der Gestaltung der Rittergräber (s.
u.)
in der Kirche, wo die Verstorbenen auch in romantisierender Ritterrüstung (Typ
"Eisenfresser") dargestellt wurden.
Philipp Krämer zitiert im Burgkirchenführer
von 1960 ausführlich aus den Rechnungsbüchern der Gemeinde
zum Kirchenbau, von 1418 bis 1517. (Gs)
Burgkirche von Südosten aus, hinter der
doppelter Wehrmauer mit Zwinger, davor die Freilichtbühne.
Gut zu erkennen sind die verschiedenen Bauabschnitte des
Kirchenschiffes
(von rechts nach links aus den Jahren ca. 1404 bis ca. 1462). Die
Innenausstattung der Kirche war erst 1521 vollendet (Krämer,
Burgkirche, S. 17)
Durch die Einbeziehung des vorher frei stehenden
Turmes in ein angebautes nördliches Seitenschiff (Bild rechts)
wurde eine neue Dachkonstruktion nötig, die sowohl über das
Mittelschiff und als auch über beide verschieden breite
Seitenschiffe reichte.
Der Anbau der Seitenschiffe wurde wahrscheinlich nötig, um Platz
für weitere Altäre zu bekommen - sechs sollen es gewesen sein:
ein Liebfrauen-, Johannes-, Nikolaus-, Katharinen-, Peter u. Paul-
und Heiligkreuzaltar.
Dabei wurde der neue breitere und höhere Dachstuhl einfach über
den bestehenden des kleineren romanischen Vorgängerbaues darüber
gebaut (linkes Bild unten), so dass man
jetzt zwei Dachstuhl-Konstruktionen übereinander sehen kann.
Die Personen des rechten unteren Bildes stehen unter dem schmaleren romanischen Dachstuhl.
Die meisten Balken stammen noch unverändert aus dem Mittelalter,
die Kirche ist niemals zerstört worden oder abgebrannt.
Der Turm diente u.a. als gut gesichertes Archiv für wichtige
Urkunden:
1. die Privilegienurkunden des Ingelheimer
Adels und
2. die
Gerichtsakten des Rittergerichts,
d.h. für die Protokolle des Oberhofs, die Prozessnotizen
der Ortsgerichte - die "Haderbücher"
- und andere Urkunden der freiwilligen Gerichtsbarkeit.
Sie wurden seit dem Mittelalter in einem Dokumentenschrank (unten) aufbewahrt, bis sie
ins Archiv der rheinischen Ritterschaft nach Mainz (1728) bzw. ins
Hessische Staatsarchiv nach
Darmstadt (1879) abgegeben wurden (und dort jeweils in Kriegen durch
Bombardierung verbrannten). Der Schrank selbst wurde 1898
von der Gemeinde aus Geldmangel an das Darmstädter Museum
verkauft, wo er noch heute steht.
Eingangstor durch die
innere Wehrmauer und Blick auf die Westfassade.
Der blendend weiße Kalkputz entspricht ebenso wie die anderen
Farben dem ursprünglichen Zustand des 15. Jahrhunderts.
Auf beiden Seiten des Chores sind Anbauten vorgenommen worden, die
die ursprünglichen Chorfenster teilweise verdecken:
südlich die Sakristei (früher Nikolaus- Kapelle, links),
nördlich eine Kapelle, die an den Turm stößt und von innen
normalerweise verschlossen ist (unten). Von ihr aus führt eine Treppe in den Turm.
In den Jahren 1994 bis 2006 wurde die Kirche außen und innen
aufwändig restauriert.
Die Gemeinde ist für jede Spende sehr dankbar.
Blick von der Orgelempore zum Altar und den Chorfenstern hin
Der Chor
Die Decke im Chor, deren Rosettenbemalung in der ursprünglichen
Form des 15. Jahrhunderts wieder hergestellt wurde:
In der Mitte das Marienfenster aus dem 15. Jahrhundert, die
Seitenfenster aus dem 20. Jahrhundert. Zwei Drittel des
Marienfensters sind noch originale Gläser.
Eine genaue Beschreibung dieses hervorragend restaurierten
Marienfensters ist in der Burgkirche erhältlich.
Grabmäler in der Kirche
Der im Spätmittelalter zu Wohlstand und Einfluss gelangte Adel in
Ober-Ingelheim und Umgebung benutzte die Burgkirche als Grabstätte
für repräsentative Grabmäler, die entweder im Boden eingelassen
oder von Anfang an an den Wänden aufgestellt waren. Es mag sein,
dass in diesem Repräsentationsbedürfnis auch die Ursache für
den Ausbau der Kirche im 15. Jahrhundert und deren mehrmalige
Umplanung zu suchen ist.
Dass die
Familie der Ritter von Ingelheim (später "Grafen" von Ingelheim) dabei einen
besonderen Anteil hatte, zeigen nicht nur ihre vielen Grabmäler
in der Kirche, sondern auch ihr Wappen im Schlussstein des
mittleren Rippenbogens, das
rot-gelb "geschachte" Kreuz ("geschacht"
= in quadratische Würfel aufgeteilt).
Von dieser Familie stammen die vier folgenden Rittergrabmäler (in Auswahl).
Hans von Ingelheim(links),
gestorben 1480,
und
Wilhelm von Ockenheim
(rechts),
gestorben 1465
Bei beiden sind die Wappen neben bzw. über ihren Köpfen zur Zeit
der französischen Revolution 1792/93 sorgfältig herausgehauen
worden, ohne die Figuren selbst zu zerstören
Ima von Werberg (links),
gest. 1442,
Ehefrau des
Philipp von Ingelheim(rechts),
gefallen am
2.7.1431 in der
Schlacht bei Bulgnéville, bei einem Erbfolgestreit
um die Herzogtümer Lothringen und Bar zwischen dem Grafen Antoine de Vaudémont und
Herzog René I. d'Anjou (dem späteren "le bon roi"),
dem der Pfalzgraf Ritter zu Hilfe geschickt hatte, von
denen viele umkamen (Bild zur Vergrößerung und der Schlachtschilderung anklicken!)
Auch bei Philipp sind die Wappen links und rechts neben dem Kopf herausgemeißelt worden.
Der Mainzer Meistersinger Bernkopf (14. Jh.) dichtete über
Philipp diese Strophe: (rechts)
"Her
Philipps do von Ingelheim
den schaden muß ich klagen
er hat tugend und eren vil
er streit in ritterlichem zil
von dem ich noch wil sagen"
Die äußeren Rippen der beiden hintersten Pfeiler stützen sich auf
je drei Narren- / Bauern- / Baumeister- (?) Kopfkonsolen, die in ihren bunten
Farben nach
der Restaurierung 2006 erst richtig
auffallen.
Auch die Grabmäler sollen alle bunt bemalt gewesen sein.